Visuelles Erzählen
06. Mai 2018

Charles Chaplins Tramp ist vielleicht die Figur des Kinos, die seit einem Jahrhundert überall auf der Welt und in allen Altersgruppen bekannt ist. Es mag daher berechtigt sein, ihn als eine Universalie des Kinos zu bezeichnen. So oder so, ist die Bedeutung dieser Figur und des Filmschaffens von Chaplin für die Entwicklung der Filmästhetik unbestritten.1 Und da einer seiner Filme sogar ein Kind im Titel führt (The Kid, Charles Chaplin, USA 1921) lag es nahe, im Rahmen des Projektes Kind Kino Welt mit diesem Film zu arbeiten. Auch unabhängig von diesen Überlegungen eignet sich THE KID sehr gut für das Projekt Kind Kino Welt, bringt er doch Aspekte ein, die in den zuvor bearbeiteten Filmen noch nicht repräsentiert waren: Es ist der erste US-amerikanische Stummfilm in unserem Filmkorpus und die erste Slapstick-Komödie. Interessant ist außerdem, welche Einblicke er in das Leben sozial benachteiligter Menschen in der industrialisierten Welt im frühen 20. Jahrhundert gibt oder zu geben scheint (immerhin haben wir es mit einem hochgradig stilisierten Film zu tun).
THE KID erzählt die Geschichte eines Kindes, das nach der Geburt von seiner Mutter ausgesetzt („Die Mutterschaft, ihre einzige Sünde“, heißt es in einem Zwischentitel) und vom „Tramp“ (Charles Chaplin) gefunden und aufgenommen wird. Fünf Jahre später interessiert sich plötzlich die Fürsorge für das Kind und auch die inzwischen reuige Mutter tritt wieder auf den Plan.
Nachbesprechung: Lustig, traurig, ausdrucksstark
„Der war lustig.“ „Aber auch traurig.“ Ohne, dass wir ein Gespräch initiieren mussten, starteten die Kinder die Nachbesprechung mit diesen beiden Sätzen und einer daran anschließenden Diskussion. Denn gegen den zweiten Satz wurde von einigen Schülern sofort Einspruch erhoben: „Ich fand ihn nicht traurig.“ Von der Diskussion des Films Ten minutes older (den wir am selben Termin geschaut und direkt davor besprochen hatten) waren die Schüler*innen noch für die Beobachtung der Situation im Kinosaal während der Filmaufführung sensibilisiert und sprachen von sich aus darüber, wie ihnen die Stimmung der jeweils anderen Kinder während der Vorführung vorkam. Unsere Nachfrage, ob es während THE KID Momente gab, in denen sich die Stimmung im Saal rasch und deutlich merkbar veränderte, bejahten alle Kinder: In einer Szene, in der der Junge ins Waisenhaus gebracht werden soll, ist es deutlich stiller im Saal geworden. Das bestätigten auch jene Kinder, die meinten, vom Film unbeeindruckt gewesen zu sein. Egal, ob sie ihn traurig fanden oder nicht, in diesen Momenten hat sich im Saal etwas getan, so unser Eindruck. Einen Teil der ersten Nachbesprechung nach der Kinovorführung widmeten wir Fragen nach der ‚ungewohnten‘ Form des Erzählens im Stummfilm. Zwar ist der Stummfilm den allermeisten Kindern vertraut (insbesondere die stumme Slapstick-Komödie) und auch Charlie Chaplin ist fast allen Kindern ein Begriff (nach beiden fragten wir in der Einleitung vor dem Film), dennoch ist der Stummfilm eine filmische Form, die nicht den alltäglichen Sehgewohnheiten von 10- und 11-Jährigen entspricht. Daher wollten wir wissen, wie diese nicht-alltägliche Form bei den Kindern ankam. Die Sprache habe ihnen überhaupt nicht gefehlt, war der Grundton der allermeisten Aussagen. Man habe auch so verstanden, was passiert. Einzig ein Mädchen meinte, sie habe es gestört, wenn die Menschen die Lippen bewegen, aber keine Worte zu hören sind.
Aber wie funktioniert es, dass man dem Film auch ohne Sprache folgen kann? „Die Menschen erzählten mit ihren Körpern und ihren Gesichtern“, sagte ein Mädchen und spielte sofort eine Figur nach, die ihr in dieser Hinsicht im Gedächtnis geblieben ist: die Frau, der der Tramp das gefundene Baby unterjubeln will. Der Ärger dieser Frau ist primär an Körpersprache und Mimik zu erkennen: Sie stemmt die Hände in die Seiten, starrt auf das Kind, das sie nicht in ihrem Kinderwagen erwartet hätte, reißt den Mund staunend auf, blickt sich um, marschiert – sobald sie den Tramp sieht – entschlossenen Schrittes auf ihn zu und schlägt ihn mit ihrem Regenschirm.
Damit waren wir bereits beim zweiten von der Klasse genannten Aspekt des visuellen Erzählens: die Requisiten. Der Regenschirm war der Auslöser dieser Beobachtung. Wir forderten sie auf, aufzuzählen, welche Requisiten ihnen noch aufgefallen waren und sammelten so Details, die ihnen im Gedächtnis geblieben waren. Sie nannten die Pistole der Autodiebe, die Zeitung des Nachtwächters, die Schüssel, die zum Wurfgeschoss wurden, das Spielzeug, das dem Kind weggenommen wird, etc. Ein anderes Thema, das bei den Kindern im Laufe der Nachbesprechung aufkam, ohne dass wir danach fragten, waren die Orte der Handlung. Der Hof vor dem Haus des Tramps war ihnen in guter Erinnerung, vor allem als Schauplatz der Schlägerei (weniger präsent war der Traum vom himmlischen Zusammenleben, der ebenfalls in dem Hof ‚spielt‘). Auch die Wohnung des Tramps bekam viel Aufmerksamkeit: „Wieso wohnen die unter dem Dach?“ „Vielleicht, weil dort sonst niemand wohnen will, weil es eng ist und die Decke schräg und niedrig“, sagte ein Schüler, der die Frage gestellt hatte, „vielleicht wohnen sie dort, weil sie wenig Geld haben.“ (An dieser Stelle sahen wir Berührungspunkt dieser Diskussion mit jener zu La Pivellina. La Pivellina gab Einblicke in das Leben seiner Figuren durch eine Herangehensweise, die stark vom dokumentarischen Arbeiten beeinflusst ist, indem z. B. Laiendarsteller*innen sich selber spielen und an Originalschauplätzen gedreht wurde. Charlie Chaplin hingegen hat in THE KID mit Schauspieler*innen und (fast nur) im Studio gedreht, erzählt aber auch von randständigen Milieus. Die Armut der Figuren wurde in dieser Diskussion vorurteilsfrei und verständnisvoll besprochen, ganz anders als es zu Beginn des Gesprächs zu La Pivellina war.)
Körper
Da bereits in der ersten Nachbesprechung das Interesse der Kinder an Körpersprache und den Orten der Handlung groß war, entschlossen wir uns, den Fokus der Analyse auf das visuelle Erzählen zu legen. Der Stummfilm hat keine Möglichkeit, über den Ton zu erzählen, Dialoge und erklärende Sätze werden in Zwischentiteln wiedergegeben, Musik gibt es nicht in jeder Aufführungssituation (wir zeigten THE KID mit der Originalmusik, komponiert von Chaplin selber), Geräusche fallen – je nach Nachvertonung – ganz weg. Dieser ungewohnten Erzählform wollten wir nachgehen. Natürlich erzählen auch Tonfilme visuell, hier ging es nicht darum, herauszuarbeiten, was „der Stummfilm“ „exklusiv“ macht. Die Form des Stummfilms gab uns vielmehr die Möglichkeit, ausführlich mit den Kindern zu erarbeiten, wie viel wir in einem Film über die Bilder verstehen, denn dadurch, dass THE KID ohnehin ohne Dialog auskommt, war ihre Aufmerksamkeit automatisch bei dem, was in den Bildern passiert.
Wir zeigten dazu noch einmal die Sequenz, in der das Kind dem Tramp weggenommen und in ein Waisenhaus verfrachtet werden soll, den emotionalen Höhepunkt des Filmes. Die Schüler*innen hatten bei der ersten Nachbesprechung bereits viele Elemente des Erzählens im Stummfilm genannt (Mimik, Gestik, Requisiten, Schauplätze), jetzt konnten wir diese genauer unter die Lupe nehmen und weitere hinzufügen.
Da die Stimme als ‚Werkzeug‘ im Stummfilm nicht einsetzbar ist, ist (neben vielen anderen Elementen) der Körper ein wichtiges Ausdrucks- und Erzählmittel. Körpersprache kann dabei viele verschiedene Funktionen erfüllen und auf mehreren Ebenen verstanden werden. Sie kann zunächst dem Verständnis des Plots dienen. Der Tramp richtet zum Beispiel für sein krankes Kind einen heißen Wickel her und legt ihn auf den Tisch. Wir verstehen, dass er heiß ist: Denn der Tramp greift kurz mit den Fingern darauf, zieht sie sofort wieder zurück, sein Gesicht zuckt vor Schmerz zusammen und er versucht durch Händeschütteln die verbrannten Fingerspitzen zu kühlen.

Diese Geste konnten alle Kinder sofort aus der Intuition heraus nachmachen, als wir nach Ansehen des Clips baten, eine Geste für ‚verbrannte Finger‘ zu machen. Der Film aktiviert also eine Erfahrung unseres Körpergedächtnisses und kann uns so die Empfindung der Figur verständlich machen. Doch es geht an dieser Stelle nicht nur um den Plot, sondern auch um die Vorbereitung eines Gags, der ca. eine Minute später zu sehen ist: Der Direktor des Waisenhauses ist verärgert und achtet nicht darauf, wohin er seine Hand legt. Prompt landet sie auf dem heißen Umschlag. Auch in diesem Moment hilft uns seine Gestik zu verstehen, was passiert. Auch er schüttelt die Hand im Schmerz und zeigt mit der anderen abwechselnd auf den heißen Wickel und auf den Tramp, so verstehen wir, wem er die Schuld an seinem Missgeschick geben will.


Körper und Raum
Im nächsten Schritt nahmen wir das räumliche Verhältnis der Körper zueinander mit in die Analyse. Denn auch über diese kann das Verhältnis der Figuren zueinander ausgedrückt werden. Wir gingen die folgenden Stellen des Clips gemeinsam mit den Kindern durch und fragten immer wieder, was sie sehen und was das ausdrücken könnte: Wenn z.B. der Chef des Waisenhauses und sein Gehilfe in die Wohnung des Tramps kommen, werden weder Dialog noch zusätzliche Erklärungen benötigt, um das Verhältnis dieser drei Personen zueinander darzustellen. Der Direktor dreht sich sofort nach Eintritt ins Zimmer von den anwesenden Personen weg, er nimmt weder seinen Hut ab noch die Zigarre aus dem Mund, sondern steckt die Hände in die Hosentaschen und starrt mit erhobener Nase ins Leere. Den Kontakt zum „Klienten“ nimmt er nicht direkt (über den Blick, die Gestik oder eine Ansprache) auf – auch das verstehen wir ohne Dialog, obwohl es ihn an dieser Stelle mehrere Zwischentitel gibt. Denn er richtet seinem Gehilfen aus, was dieser den Klienten zu fragen habe. Der Gehilfe dient so als Mediator eines – im Selbstverständnis des Direktors – unüberbrückbaren hierarchischen / sozialen Unterschiedes. Als solcher steht er auch räumlich zwischen dem Direktor und dem Tramp, wirkt dabei aber auch wie ein Bodyguard seines Chefs, was sich in seiner Körperhaltung und Gestik vermittelt:

Der Tramp möchte dieser ‚Selbst-Inszenierung’ etwas entgegenhalten, indem er versucht, mit dem Direktor direkt Kontakt aufzunehmen, ein Versuch, der vom Gehilfen aber sofort abgewehrt wird.

Nur eine Minute Erzählzeit später mündet diese von Anfang an feindselige Stimmung durch den energischen (und handgreiflichen) Protest des Tramps gegen die Entführung seines Sohnes in einer Konfrontation. Auch diese ist wieder in der Position der Körper zueinander wahrzunehmen: Links die Eindringlinge, rechts der Tramp und das Kind, das sich schutzsuchend hinter ihm versteckt.

Nach längeren Raufereien und Verfolgungsjagden ist der Direktor aber besiegt und sein Abgang lässt nichts mehr von der arroganten Eitelkeit übrig, mit der er den Film betreten hat. Er wird vom Tramp mit einem Fußtritt von einem fahrenden Lastwagen befördert und landet verdreckt und derangiert im Staub der Straße. Vergleicht man die Körperhaltung und Gestik seines ersten und seines letzten Auftritts, sieht man deutlich, welche Entwicklung diese Figur im Film genommen hat.


Von der strammen Haltung ist nichts mehr übrig, geknickt sitzt er im Staub und umklammert hilflos seine Knie. Vom arroganten Ignorieren des ‚Subalternen‘ kann keine Rede mehr sein, jetzt ist sein Blick verzweifelt auf den Davonbrausenden geheftet; sein Kratzen am Kopf erzählt von Rat- und Machtlosigkeit; die Hände machen eine wegwerfende Bewegung, die einer Kapitulation gleichkommen.
Körper, Raum und Emotion
Die Inszenierung der Körper im Raum drückt auch Emotionen aus, und zwar in einem doppelten Sinne: Erstens werden die Emotionen, welche die Figuren im jeweiligen Moment der filmischen Erzählung fühlen, sichtbar; zweitens enthält dieser Aspekt auch eine starke appellierende Funktion an die Zuschauer/innen. Die Figuren drücken ihre Emotionen nicht nur aus, sie binden uns auch in ihre Zustände mit ein. Am stärksten und damit am auffälligsten ist dieser emotionale Appell in dem Moment, als Ziehvater und Sohn voneinander getrennt werden und ihr Leiden ausdrücken. Auf der einen Seite: Der Tramp, der vom Waisenhaus-Angestellten und einem Polizisten in der Wohnung festgehalten wird, auf der anderen Seite der Junge, der vom Direktor auf die Ladefläche des LKWs verfrachtet wurde. In melodramatisch-ausladenden Gesten fleht der Junge in Richtung Haustor, in die Richtung, in der sich sein gewaltsam festgehaltener Ziehvater befindet. Dieser wiederum blickt in seinem aussichtslos erscheinenden Kampf gegen die gewalttätigen Vertreter des Wohlfahrtssystems direkt in die Kamera und nimmt so nicht nur mit dem Jungen (im Schema einer Parallelmontage ‚Tramp in der Wohnung – Kind vor dem Haus‘), sondern auch mit uns Zuschauer*innen Kontakt auf. Ist die Verzweiflung des Jungen durch das emotionale Spiel des Darstellers (Jackie Coogan) für sich schon sehr involvierend, so wird mittels Chaplins hoffnungsleerem Blick diese Wirkung direkt an das Publikum herangetragen.


(Interessant übrigens, dass in dieser Parallelmontage eine Trennung vollzogen wird, die bereits davor – in der Wohnung des Tramps – innerhalb eines Bildes angelegt ist.)
In den vorangegangenen Absätzen ist ein Element, das die Gestaltung in THE KID ebenso prägt, wie das stummfilmtypische Schauspiel, nur nebenbei erwähnt worden: Die Inszenierung von Figuren im Raum findet auch durch den Schnitt statt. Über ihn werden Orte etabliert, Beziehungen von Figuren zueinander ausgedrückt, Verknüpfungen zwischen Orten und Personen über die räumliche Distanz hinaus verstärkt. Besonders in dem Moment der erzwungenen Trennung spielt der Schnitt eine große Rolle: Tramp und Kind sind räumlich bereits getrennt, auch der Blickkontakt zwischen den beiden ist nicht mehr möglich. Die Parallelmontage zwischen Wohnung und Straße (bzw. zwischen Tramp und Kind) betont diese Trennung, der Schnitt als filmische Operation wird hier metaphorisch: Eine Verbindung ist zerschnitten. Gleichzeitig werden die beiden Räume durch die Parallelmontage zwischen Wohnung und Straße miteinander in Beziehung gesetzt. Dieser Aspekt des Schnitts wird im Englischen „Edit‘ deutlich: Hier liegt die Betonung stärker auf dem Zusammenfügen als auf dem Trennen. Verstärkt wird diese Beziehung durch die stark dem linken Bildrand zustrebende Gestik des Jungen, der den Raum überwinden zu wollen scheint, in dem er sich gerade befindet. Oder in den Worten der Kinder ausgedrückt: „Er streckt sich in die Richtung, in der Charlie ist.“ Wenn man sich den Film genau anschaut, sieht man viele solcher Verknüpfungen, die aus einer Kombination von Schnittmuster, Rauminszenierung und Schauspiel entstehen.
Praktische Übung: Foley Artistry
Den Hauptteil der Analyse von THE KID widmeten wir der Frage, wie ein Film ohne die Möglichkeit, Ton einsetzen zu können, erzählt. Gesehen hatten wir THE KID ursprünglich mit der Originalmusik von Charles Chaplin und wie bei der Besprechung von Ten minutes older stellten wir auch hier die Frage, wie sich der Film verändert, wenn er ohne Musik gezeigt wird. Bezüglich dieses Filmes zeigten sich die Kinder der Musik gegenüber entspannter als bei Ten minutes older. Wurde bei jenem Film noch diskutiert, ob die Musik die Bilder zu stark beeinflusse, hatte THE KID auch ohne Musik starke Wirkung auf die Kinder.
Um das Verhältnis von Bild und Ton auch in THE KID gründlich unter die Lupe zu nehmen, forderten wir die Schüler*innen für die praktische Übung auf, zu der ausgewählten Sequenz Geräusche zu machen. Die Kinder sollten sich in fünf Gruppen zusammentun und jede Gruppe bekam einen Ausschnitt der Sequenz von ca. einer Minute Länge. Die Klassenlehrerin konnte für diese Übung aus dem Schulbestand fünf Laptops organisieren, per USB-Stick bekam jede Gruppe „ihre Minute“ auf den Laptop gespielt. Mangels räumlicher Alternativen probten alle Gruppen im selben Klassenzimmer, was trotz des dadurch verursachten Lärmpegel keines der Kinder zu stören schien. Ihren Ausschnitt sollten sie sich gründlich anschauen; genau merken (oder notieren), was alles im Bild Geräusche macht und wann; überlegen, wie man dieses Geräusch imitieren kann (Hilfsgegenstände durften eingesetzt werden und auch die Stimme war erlaubt, allerdings nur lautmalerisch, ohne Worte). Am Ende der Einheit präsentierten sie ihr Ergebnis in einer ‚Live-Vertonung‘ ihres Abschnittes der gesamten Klasse. (Logistisch lief die Live-Vertonung folgender Maßen ab: Wir projizierten noch einmal den bereits zu Beginn der Analyse gesehenen Clip per Beamer an die Wand und stoppten jedes Mal, wenn der Ausschnitt der aktuellen Gruppe zu Ende war. Sobald die nächste Gruppe bereit war, drückten wir wieder auf Play usw.) Mit dieser Übung erhofften wir uns, die Schüler*innen über diesen „Umweg“ (im Bild nach Tonquellen suchen) zu einer noch genaueren Betrachtung der Bilder zu bringen. Um ihnen eine Vorstellung davon zu geben, wie eine solche Nachvertonungsarbeit (im Fachjargon ‚Foley‘ genannt, der dazugehörige Job heißt ‚Foley-Artist‘) ausschaut, zeigten wir ihnen vor dem Beginn der Gruppenarbeit ein kurzes Video, in dem man einen Foley-Artist bei der Arbeit sieht:
Mit den gesehenen Beispielen als Inspiration machten sich die Gruppen an die Arbeit. Im Laufe der ca. 20 Minuten, die sie für Konzipierung und Proben hatten, waren alle Gruppen konzentriert bei der Arbeit. Die Suche nach Geräuschquellen benötigt einen aufmerksamen und detailgenauen Blick, der sich nicht nur auf das ‚Zentrum‘ des Bildes (etwa zwei Leute, die miteinander sprechen) konzentriert, sondern seine Ränder, vermeintlich nebensächliche Ereignisse und Bewegungen ebenso gründlich absucht. Es galt auch darauf zu achten, was nicht zu sehen ist, aber bereits zu hören sein könnte. Zum Beispiel wurde ein Auto, das vor des Tramps Haus vorfährt, von den Kindern bereits einige Sekunden vor seiner Ankunft geräuschvoll angekündigt. Die Gruppen einigten sich untereinander in konstruktiver Weise auf eine Aufgabenteilung. Die Frage, welche Person welches Geräusch macht, wurde fast immer problemlos diskutiert und gelöst. Und wo keine Einigung erzielt werden konnte, wurden unsere Kompromissvorschläge schnell angenommen. So teilten sich in einer Gruppe zwei Mädchen auf unseren Vorschlag hin die ‚Stimme‘ des Kindes: Das eine Mädchen vertonte den schreienden Jungen, das andere den klagenden.
Alle Gruppen waren sehr kreativ, was den Einsatz von Hilfsmitteln zum Geräusche-machen betraf: Eine Gruppe legte Plastikbecher auf den Boden, um ihren Schritten eine andere Klangqualität zu geben. Ein Junge konnte seinen Stuhl so bewegen, dass er ein Quietschen von sich gab, das als quietschendes Bett fungieren konnte. Eine dritte Gruppe probierte einige Plastiklineale aus, um das Aufschlagen der Tonschüssel (in dem Moment, als sie dem Direktor ins Gesicht geworfen wird) wiederzugeben. In einer vierten Gruppe wiederum wurde die Umarmung beim Wiederfinden von Tramp und Kind richtiggehend nachgestellt, wobei beide darauf achteten, dass das Rascheln der Jacken das Geräusch zum Moment ergeben sollte.
Bei der Präsentation der Ergebnisse waren alle Kinder konzentriert und so leise, wie das ganze Jahr über nicht. Jeder und jede wollte hören, wie die anderen ihren Teil vertont hatten. (Eine Stille, die nach Ende der Präsentationen eine umso nachhaltigere Lärmexplosion nach sich zog.) Die Ideen der Kinder haben uns durch die Bank sehr positiv überrascht: Die Umsetzung war vielfältig und die Ergebnisse zeigten, wie viel Aufmerksamkeit die Kinder ‚ihrer‘ Minute geschenkt hatten. Manche Geräusche im Film hatten wir selber noch nicht bemerkt.
Gefehlt hat lediglich die ‚Vertonung‘ der Figuren. Die Kinder konzentrierten sich sehr auf die Geräusche von Schritten, Gegenständen, Händen etc., sodass die Mundbewegungen der Figuren zu kurz gekommen sind. Wörter zu verwenden, war zwar nicht erlaubt, aber wir versuchten immer wieder, die Kinder dazu zu motivieren, eine Person verärgerte, verletzte, verzweifelte Geräusche machen zu lassen. Beim schreienden und klagenden Kleinkind hatte das funktioniert, alle anderen Figuren blieben auch in unserer Tonfassung stumm.

Fazit
Mit dem Stummfilm kam eine neue Form der Bildanalyse ins Projekt. Von Beginn des Schuljahres an zeigten sich die Kinder als sehr genaue Beobachter*innen und Beschreiber*innen von Bildern, doch nun, da der Ton/die Dialoge als Erzählebene wegfiel, bekam diese Beobachtung eine neue Dimension. Die Beschäftigung mit der Vertonung des Stummfilms führte zu einer intensiven Beschäftigung mit den Bildern. Doch schon vor dieser praktischen Übung zeigten die Diskussionen der Kinder, wie viel in den Gesten der Schauspieler*innen, der Gestaltung der Einstellungen und ihrem Zusammenhang mittels Schnitt liegt.
Zitiervorschlag: Stefan Huber: Visuelles Erzählen. Charles Chaplins The Kid. In: Bettina Henzler (Hg.): Filmästhetik und Kindheit. Online-Beiträge zum gleichnamigen Forschungsprojekt. www.filmundkindheit.de/vermittlung/vermittlung-fuer-kinder/huber_visuelles-erzahlen/ (veröffentlicht am 06.05.2018).
Filme / Literatur
La Pivellina, R: Tizza Covi und Rainer Frimmel, Österreich/Italien 2009
Ten minutes older, R: Herz Frank, Lettland 1978
The Kid, R: Charles Chaplin, USA 1921
Kimmich, Dorothee: Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne. Frankfurt 2003.
Anmerkungen
-
1
vgl.: Kimmich, Dorothee: Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne. Frankfurt 2003.