Lebenswelten, Zauberwelten, Farbwelten
DER ZAUBERER VON OZ / THE WIZARD OF OZ
22. Dezember 2018
Der Zauberer von Oz (The Wizard of Oz, R: Viktor Fleming, USA 1939) ist einer der wirkmächtigsten Filme des klassischen Hollywood-Kinos, mehr noch, er ist „einer der bedeutendsten US-amerikanischen Populärmythen, die sich tief im nationalen kulturellen Bewusstsein verankert haben.“1 Diese Wirkmächtigkeit zeigt sich in vielen Aspekten – vom viel zitierten „There’s no place like home“ bis hin zu Bezugnahmen auf den Film durch die LBGT-Bewegung. Die Vielfältigkeit dieser Anschlussmöglichkeiten und die verschiedenen Wendungen, die die Beschäftigung mit DER ZAUBERER VON OZ immer wieder mit sich bringen, macht es schwierig, diesen Film auf einen Nenner zu bringen.
Für Kinder ist DER ZAUBERER VON OZ ein Film, der ebenso ihren Sinn fürs Fantastische anspricht wie auch Anknüpfungspunkte für wichtige Themen ihres Lebens bietet. Das war zumindest unser Eindruck nach der unten beschriebenen Nachbesprechung. Der Film erzählt von Dorothy, die bei Onkel und Tante auf einem Bauernhof in Kansas lebt. Zu Beginn des Films erleben wir Dorothy von Zweifeln über ihr Leben heimgesucht: Sie hat Angst um ihren Hund, der von der Nachbarin Mrs. Gulch geschlagen wird, und findet bei den Erwachsenen kein Ohr für ihre Sorgen. So wünscht sie sich ins Land jenseits des Regenbogens, in dem es keine Sorgen mehr gibt. Kaum aber trägt sie ein Wirbelsturm in dieses Land, ist ihr sehnlichster Wunsch, auf den heimatlichen Hof zurückzukehren. Auf der Suche nach dem vermeintlich allmächtigen Zauberer von Oz, der ihr diesen Wunsch erfüllen soll, durchquert sie das fantastische Zauberland, findet Freunde, überwindet Ängste und Hindernisse.
Die Geschichte bietet für unser Projekt vielfältige Anschlussmöglichkeiten durch die Kombination von Themen wie z.B. Familienverbundenheit, Sehnsucht nach Aufbruch, Konfrontation mit den Problemen des eigenen Lebens, mit Inszenierungsstrategien, die der Film anwendet, um zwei gänzlich unterschiedliche Welten einander gegenüberzustellen. Besonders hervorzuheben ist in diesem Punkt der Umgang mit der Farbgestaltung, konkret das Zusammenspiel eines monochromen (einfarbigen) und eines farbigen Teils. Ein Teil der Berühmtheit des Zauberers von Oz liegt in einem spektakulären ‚Aufritt‘ des damals noch neuen Technicolor-Verfahrens, dessen spezifischer Einsatz in diesem Film eng mit dessen zentralen Themen verwoben ist.
Erste Nachbesprechung
In der ersten Besprechung nach der Filmvorführung kreisten die Wortmeldungen der Kinder fast ausschließlich um zwei Themen, ohne dass wir konkret danach gefragt haben: um den großen Einfluss, den dieser ihnen bisher unbekannte Film auf vertraute Filme und Fernsehserien hat, und um die Farbgestaltung des Films.
Aus dem Stegreif konnten viele Kinder Filme und Fernsehserien nennen, die den Zauberer von Oz zitieren: Die Simpsons (R: Matt Groening, USA 1989 bis heute), SpongeBob Schwammkopf (SpongeBob SquarePants, R: Stephen Hillenburg, USA 1999 bis heute), Adventure Time (R: Pendleton Ward, USA 2015) und viele weitere. Eine Schülerin erwähnte den Film Oben (Up, R: Pete Docter & Bob Peterson, USA 2009), der weniger explizite, aber dafür umso umfassendere Parallelen zum Gesehenen zeigt. Auch in diesem Film flieht die Hauptfigur vor den Problemen und Bedrängungen des Alltags an einen abgelegenen Sehnsuchtsort, nur um festzustellen, dass dieses vermeintliche Paradies nur eine Illusion war, und das wahrhaft schöne Leben im Zusammensein mit Freunden und Familie besteht. Aus all diesen kulturellen Referenzen leiteten die Kinder ab, dass der Film seit langer Zeit sehr berühmt sein muss: Er sei wohl ein großer Erfolg gewesen und habe sich seit seiner Entstehung lange Zeit in der Gunst des Publikums gehalten. Die aufgezählten Bezugnahmen betrachteten sie zunächst allesamt als ‚Diebstahl‘, bald aber gab es auch Schüler*innen, die darauf hinwiesen, dass nicht jede Bezugnahme Diebstahl ist, sondern dass es auch Neuerzählungen, Weitererzählungen, Parodien und viele andere Formen des medialen Weiterlebens gibt.
Das zweite für die Kinder interessante Thema war die Frage nach der Teilung des Films in einen monochromen und einen farbigen Teil. Der monochrome Teil ist nicht Schwarz-Weiß, sondern eine Färbung in Sepia, ein blasser, gräulich-bräunlicher Farbton, der entstehen kann, wenn Papierabzüge von Fotografien lange und nicht sachgerecht lagern. Doch seit vielen Jahrzehnten werden Fotos und Filme auch bewusst in Sepia eingefärbt, um ihnen eine altmodische Patina zu verleihen. Auf unsere Frage, warum der Film diese gestalterische Besonderheit aufzeigen könnte, dachten sie in viele verschiedene Richtungen: technische oder finanzielle Mängel beim Filmdreh; das Farbverfahren war so neu, dass sich noch keiner damit auskannte; oder das Filmteam habe das Equipment nicht für den gesamten Dreh bekommen. All das hätte dazu führen können, dass Teile des Films in Sepia entstanden sind.
All diese Aspekte haben etwas für sich: Das Technicolor-Verfahren, in dem der farbige Teil des Films entstanden ist, war teuer2, technisch aufwendig3 in den späten 1930er Jahren noch relativ neu4, das Equipment war rar, musst lange im Vorhinein bestellt werden5 und durfte nur unter Aufsicht von Angestellten der Firma Technicolor eingesetzt, entwickelt und kopiert werden6. Was uns aber interessierte, war die Frage, warum diese Technik verwendet wurde, wenn sie doch so teuer und umständlich war. „Weil sie angeben wollten?“, schlug ein Schüler vor. Und das traf einen wichtigen Aspekt: Technicolor war eine Sensation in einer Zeit, in der Farbfilm noch nicht etabliert war, und ein Publikumsmagnet. Anders als das typische Vorurteil, dass frühe Farbfilm-Techniken ‚rückständig’ oder mangelhaft waren, war es ein hochentwickeltes Farbverfahren.
In einem gewissen Sinne wollten die Filmemacher also tatsächlich „angeben“, wollten den Wert an Produktionsmitteln zur Schau stellen. Von diesem Gedanken ausgehend konnten die Kinder im Gespräch mit uns die Vermutung entwickeln, dass der Anfang des Films in Schwarz-Weiß auch dazu eingesetzt wurde, das Auftauchen der Farbe zu einem späteren Zeitpunkt des Films noch spektakulärer wirken zu lassen (dieser spektakuläre Eintritt der Farbe in den Film sollte Thema der Analyseeinheit werden, s. unten).
Auf mögliche inhaltliche Gründe nach der ‚Trennung‘ des Films in einen monochromen und einen Farbteil befragt, entwarfen die Kinder bereits eine Interpretation des Gesehenen: Die zwei Welten in DER ZAUBERER VON OZ, nämlich Dorothys Heimat Kansas und die Zauberwelt unterscheiden sich grundlegend, daher auch in der Gestaltung. Dorothys Familie in Kansas lebt in Armut und hat mit dem Bauernhof viel Arbeit. Diese Welt ist in Sepia gehalten, was für die Kinder auch betont, dass dieser Film von einer altmodischen Welt erzählt.7 Die Zauberwelt von Oz hingegen ist sorgenfrei, dort sind alle fröhlich, alles ist sauber, glänzend und strahlt in hellsten Farben. Es gibt Blumen, die Sonne scheint, der Himmel ist blau. Außer: Die Hexe kommt. In den Worten einer Schülerin: „Die Hexe ist das Schwarz in der Welt von Oz.“ Auch ihr Schloss ist den Kindern aufgefallen: Es ist in dunklen Farben gehalten und liegt in einer düsteren Umgebung. Das Schloss ist der einzige Ort in Oz, an dem es schmutzig und unaufgeräumt ist.
Ausgehend von der Farbgestaltung suchten die Kinder ohne unser Zutun immer neue Verbindungen zwischen Kansas und Oz, vor allem auf der Ebene der Figuren. Die drei Arbeiter der Farm tauchen in Oz als Vogelscheuche, Blechmann und Löwe auf, ihre Geschichten sind bereits in Kansas angelegt. Ebenso funktioniert es mit Dorothys Antagonistin: In Kansas ist es die unausstehliche Miss Gulch, die alle nach ihrer Pfeife tanzen lassen will, auch wenn sie, wie Tante Emmi sagt „nicht die Macht im Bezirk“ hat. Die Bewohner*innen von Oz terrorisiert sie als böse Hexe. Doch auch in Oz hat sie letztlich keine Macht über die anderen, sondern zerfließt wie eine Angstfantasie, als Dorothy sie mit Wasser übergießt.
Thematische und inhaltliche Bezüge zwischen den beiden Welten fielen den Kindern ebenso auf. In den ersten 20 Minuten lernen wir einiges über Dorothys Leben in Kansas: Sie fürchtet um ihren Hund; Tante und Onkel haben vor lauter Arbeit keine Zeit für ihre Nichte und deren Sorgen; sie singt von einem Land, in dem sie nicht ständig Ärger bekommt. Angst, mangelnde Zuwendung und äußere Bedrohungen quälen sie, als durch den Sturm die Reise in die Zauberwelt beginnt.
Deren Design drückt für die Kinder die bereits oben beschriebene Sorglosigkeit aus. Doch in dieser Fantasiewelt kehren nicht nur die Wünsche Dorothys, sondern auch ihre Ängste symbolisch wieder – auch das fiel den Kindern auf. Es gibt jetzt die Hexe, die ihr und ihrem Hund Böses will; der allmächtige Zauberer, der alle von jedweden Problemen befreien können soll, ist auch hier nur ein Scharlatan; und die geliebte Tante ist weiterhin unerreichbar.
Übergang zwischen den Welten, Übergang zwischen den Farben
Da bereits in der ersten Nachbesprechung die Verbindungen und Unterschiede zwischen der Technicolor-Welt von Oz und der Sepia-Welt von Kansas ergiebiges Thema waren, entschieden wir uns für die Analyse-Einheit die Sequenz heranzuziehen, in der sowohl der Übergang von der einen in die andere Welt als auch jener von Sepia zu Farbe inszeniert wird: Der Wirbelsturm in Kansas, der Dorothy ins Land Oz bringt.
Die Sequenz beginnt mit der Rückkehr Dorothys zur Farm ihrer Tante während der Sturm bereits tobt und der Tornado in Sichtweite ist. Alle anderen Farmbewohner*innen haben sich in den Tornado-Keller begeben, der Lärm des Sturmes sorgt dafür, dass Dorothy trotz allen Klopfens nicht gehört wird. In diesem Sturm äußern sich, so die Kinder, die Probleme, die sich in Dorothys Welt angesammelt haben, ihr Leben ist stürmisch, im Moment ist das Sicherheit versprechende Haus kein Rückzugsraum mehr, und die Menschen, die Dorothy helfen und unterstützen können, sind nicht mehr zugänglich.
Der Übergang von dieser stürmischen Welt in die Fantasiewelt wird in mehreren Schritten filmisch vollzogen. Auslöser für Dorothys Fantasie ist, dass sie von einem herumfliegenden Fensterrahmen am Kopf getroffen wird und ohnmächtig auf ihr Bett sinkt. Nun wird an dieser Stelle nicht explizit gesagt, dass alles Folgende eine Ohnmachts-Fantasie ist. Mit Gewissheit wissen wir das nur, weil wir das Ende des Films bereits kennen, in dem dieser Zusammenhang aufgedeckt wird. Ästhetisch ist es aber bereits in dieser Sequenz angelegt, es gilt lediglich, genau hinzuschauen, und das hat die Klasse getan:
Dorothy scheint nach wenigen Sekunden bereits wieder aus ihrer Ohnmacht zu erwachen. Was in diesen wenigen Sekunden Erzählzeit passiert, ist jedoch höchst aufschlussreich. Wir forderten also die Kinder auf, sich diese Sekunden noch einmal ganz genau anzuschauen und alles zu sagen, was ihnen darin auffällt. Sie erkannten, dass Dorothys Gesicht zwei Mal zu sehen ist (die eingesetzte Technik heißt Doppelbelichtung) und die beiden Gesichter sich unruhig gegeneinander bewegen.
In diesem Bild ist bereits eine Dopplung angelegt – die Dopplung zischen Dorothy in Kansas und Dorothy in Oz? Doch ist es nicht nur ihr Gesicht, das im Bild zu sehen ist, auch der Sturm ist zu sehen und das Haus fliegt in dieser Einstellung durch das Bild und, wie die Kinder bemerkten, durch Dorothys Kopf. Es könnte also – verrät uns der Film implizit schon an dieser Stelle – sein, dass sich das Davonfliegen des Hauses nur in ihrem Kopf abspielt.
Das Haus verblasst langsam, ebenso das Gesicht, für einige Sekunden gibt es nichts mehr zu sehen als den Sturm. Die Kamera fährt zurück und zeigt uns, dass sie in diesen Sekunden aus dem Fenster neben Dorothys Bett geblickt hat.
Was können wir mit diesem Übergang anfangen? Wieder fragten wir die Kinder. Diese meinten, dass die Kamera sich wieder von Dorothys ‚verwirrtem Zustand‘ entfernt hat und zu den Vorgängen rund um sie zurückkehrt. Die Erzählung ist nicht mehr nah an Dorothys Innenleben, sondern fungiert wieder in einem distanzierteren Modus. Doch es stellte sich die Frage, ob wir aus Dorothys Verwirrung herausgetreten sind, oder ob wir in sie eingetaucht sind, und sich alles, was uns ab jetzt scheinbar objektiv gezeigt wird, in dieser Vorstellungswelt abspielt. Die Klasse meinte, dass beide Interpretationen etwas für sich haben. Die nächsten Bilder lassen uns weiterhin im Unklaren. Wir sehen Bäume, Truthähne, Kühe und eine strickende Frau durch die Luft fliegen.
Auch diese Bilder sind nicht eindeutig in der Realität oder der Fantasie angesiedelt. Denn wir kennen die Geschichten von großen Tieren und ganzen Häusern, die von Wirbelstürmen viele Kilometer weit durch die Luft getragen werden – auch die Kinder kennen sie. Aber eine Frau, die gelassen in ihrem Schaukelstuhl sitzt und strickt? Oder zwei Männer, die in einem Boot durch die Luft rudern? Das scheint bereits unglaubwürdig zu sein. Oder eben fantastisch. Wir nähern uns vielleicht bereits dem Zauberreich Oz. Oder es sind Indizien dafür, dass Dorothy träumt. Beides scheint möglich.
Eine enge Verbindung von Oz und Kansas wird durch die Verwandlung von Miss Gulch ins Bild gesetzt. Mittels Überblendung wird Miss Gulch auf dem Fahrrad zur bösen Hexe auf einem Besen.
Die Kinder nutzten diesen Moment, um darauf hinzuweisen, dass hier die enge Verbindung zwischen Figuren aus Kansas und jenen aus Oz zu sehen ist, und suchten durch diese Stelle inspiriert (wie in der ersten Nachbesprechung) nach immer weiteren Verbindungen zwischen diesen beiden Welten.
Schließlich ist das Haus gelandet und der Sturm hat sich verzogen. Jetzt erfolgt der Schwellen-Übertritt und damit der Wechsel von der monochromen Welt zur farbigen. Doch der kommt früher als auf den ersten Blick vermutet. Mehrfach haben wir die Sekunden zwischen Dorothys Verlassen des Zimmers und dem Öffnen der Tür gezeigt. Immer mit der Frage, wann denn genau der Wechsel zwischen Sepia und Farbe stattfindet. Immer war die Antwort: „Wenn sie die Türe öffnet.“
Der Wechsel findet aber bereits mit einem Schnitt statt, konkret mit dem zwischen den beiden folgenden Stills.
Als wir den Kindern das sagten, fingen sie an, neu auf diese Bilder zu sehen und neu über den Übergang zu diskutieren, bis sie auf die richtige Antwort kamen: Das Bild vor dem Öffnen der Tür ist bereits farbig, nur sind Requisiten & Bauten so bemalt und das Licht so gesetzt, dass alles sepiafarben wirkt. Außerhalb der Tür ist die Umgebung farbig bemalt und wird von Scheinwerfern angestrahlt, der Rahmen darum, also der Innenraum, wirkt dagegen monochrom. Deswegen wirkt dieses Bild als wäre es gleichzeitig monochrom und farbig.
In dem Moment, in dem Dorothy die Schwelle übertritt, konzentrierten sich die Kinder sehr auf Dorothy. Doch uns interessierte ebenso, wie sich die Kamera in diesem Übergang verhält. Darauf angesprochen und nach mehrmaligen Anschauen dieses Moments merkten die Kinder: Nachdem Dorothy die Tür geöffnet hat, geht sie zunächst zur Seite.
Warum? „Damit auch wir etwas sehen!“ Die Tür zur Zauberwelt geht nicht nur für Dorothy auf, sie geht auch für die Kamera und damit für uns auf. An dieser Stelle macht die Hauptfigur des Filmes Platz, um den Blick freizugeben. Außerdem – und das könnte ein weiterer Grund für diese Choreographie sein – sehen wir damit nicht, dass Dorothy von der einen Lichtstimmung in die andere tritt, das macht sie im Off. Erst danach ist Dorothy wieder, diesmal frontal von vorne zu sehen, ihr Staunen rückt ins Bild. Sie blickt sich genauso erstaunt um, wie es die Kamera als unsere Stellvertreterin zuvor gemacht hat und auch in der folgenden Einstellung macht, in der sie zu einem ausschweifenden Schwenk ansetzt, der eine volle Minute dauert. Auf die Frage, wieso diese Inszenierungsentscheidung getroffen worden sein könnte, antworteten die Kinder: Wenn man das erste Mal in ein Zauberland kommt, ist natürlich alles aufregend, es gibt viel zu sehen und noch mehr zu staunen. Um dies zu tun, hält die Narration inne und erlaubt dem Film und den Betrachter*innen, seine Hauptfigur für eine Minute zu vergessen, sich umzusehen und die neue Umgebung zu erkunden.
Praktische Übung
Sowohl die Nachbesprechung als auch die Analyse beschäftigte sich intensiv mit dem Übergang von Sepia zu Farbe in The Wizard of Oz. In der praktischen Übung wollten wir das technische Prinzip von Technicolor verständlich machen, das zur Zeit von The Wizard of Oz noch recht neu war und eine wirkliche Innovation in der Filmtechnik darstellte. Mit Technicolor gab es das erste Mal ein im industriellen Maßstab einsetzbares Farbfilmverfahren, das eine direkte Verbindung zwischen den Farben vor der Kamera und den Farben im fertigen Film herstellte.8 Kolorierungstechniken vor Technicolor bestanden vor allem im Einfärben des Filmstreifens, sei es durch Farbbäder oder durch Bemalen der Filmbilder.9 Die Gegenstände im Film konnten in dieser Art und Weise jede beliebige Farbe bekommen, ähnlich einem Ausmalbild.
Siehe Technicolor-Verfahren online
Das Verfahren von Technicolor hingegen nimmt die Farben vor der Kamera auf. Es besteht darin, dass gleichzeitig und in einer Kamera drei Streifen Schwarz-Weiß-Film belichtet werden. Durch Farbfilter erhält jeder Streifen allerdings nur die Informationen von einer der drei Grundfarben Rot – Blau – Grün. Die belichteten Filmstreifen werden entwickelt und in den Komplementärfarben Zyan – Gelb – Magenta eingefärbt. Die drei eingefärbten Streifen übereinander auf einen vierten gedruckt ergeben alle Farben des sichtbaren Spektrums.
Nun konnten wir mit den Kindern natürlich keine Filmstreifen belichten, entwickeln und färben. Also arbeiteten wir mit bunten, lichtdurchlässigen Folien und einem Overhead-Projektor. Die Aufgabe bestand darin, Gegenstände und Figuren aus DER ZAUBERER VON OZ aus den Folien auszuschneiden (auch bunte Stifte für Konturen und andere Linien, z.B. Gesichtszüge, waren vorhanden) und auf dem Overhead-Projektor zu einem Bild zusammenzufügen. Eine Klarsichtfolie diente als Untergrund, eine weitere konnte über ein fertiges Bild gelegt werden, um die Teile vor dem Verrutschen zu schützen. Eine besondere Betonung legten wir auf den Aspekt der Farbmischung. Wir ermunterten die Schüler*innen immer wieder, ihre Figuren mehrfarbig, also aus mehreren Folien zu machen. Zwei Folien, die einander nur teilweise überlappten, ergaben dadurch drei Farben. Gut zu sehen ist das bei einem von einem Schüler gebastelten Baum: Dort wo sich die grüne Krone und ein roter Stamm überlappten, entstanden die braunen Holzteile des Baums. (Dieses Prinzip ließ sich natürlich nicht in demselben Umfang realisieren, wie das bei Technicolor möglich ist, da die Folien sehr dunkel waren und damit wenig Kombinationen zuließen.)
Die Ergebnisse waren für uns bereits nach kurzer Zeit beeindruckend. Zuerst arbeiteten die Kinder alleine oder in kleinen Gruppen und immer wieder kam eine Gruppe zum Projektor, um ihre Ergebnisse aufzulegen. Doch innerhalb von 20 Minuten kamen immer mehr Bastelarbeiten von verschiedenen Gruppen zusammen, und ergaben immer detailreichere und komplexere Bilder, deren Elemente vom Zauberer von Oz inspiriert waren. Es gab den gelb gepflasterten Weg, Dorothy und ihren Hund, den Blechmann, die Hexe, ihr Schloss und viele Bäume.
Fazit
Diese Einheit zeigte, dass auch formale Gestaltungskriterien im Mittelpunkt kindlicher Aufmerksamkeit liegen können und dass über das Nachdenken und die Diskussion formaler Entscheidungen viele inhaltliche und thematische Besonderheiten eines Films erschlossen werden können. An Wizard of Oz interessierte die Teilung in einen monochromen und einen farbigen Teil. Die Diskussion dieser Regie-Entscheidung führte zu einer ganzen Fülle von unterschiedlichen Diskussionsfeldern rund um den Film: Produktionsbedingungen, Verkaufsstrategien, Einsatz neuartiger Schauwerte, Charakterisierung von Figuren, Erzählen mittels Farbe und die Spiegelung zwischen Realität und Fantasiewelt. Die praktische Übung gab den Kindern schlussendlich Gelegenheit, die recht komplexe Technik des Technicolor-Prozesses über das eigene Tun zu verstehen und so die davor entwickelten Überlegungen zur filmischen Farbgestaltung in eigenen Bildern zu erproben.
Zitiervorschlag: Stefan Huber: Lebenswelten, Zauberwelten, Farbwelten. In: Bettina Henzler (Hg.): Filmästhetik und Kindheit. Online-Beiträge zum gleichnamigen Forschungsprojekt. LINK (veröffentlicht am 23.06.2018).
Filme / Literatur
Adventure Time (R: Pendleton Ward, USA 2015).
DER ZAUBERER VON OZ (THE WIZARD OF OZ, R: Viktor Fleming, USA 1939).
Die Simpsons (R: Matt Groening, USA 1989 bis heute).
Oben (Up, R: Pete Docter & Bob Peterson, USA 2009).
SpongeBob Schwammkopf (SpongeBob SquarePants, R: Stephen Hillenburg, USA 1999 bis heute).
Friedrich, Andreas: Das zauberhafte Land. In: Dorothy Ott und Thomas Koebner (Hg.): Filmgenres. Musical- und Tanzfilm. Stuttgart 2014, S. 99.
Haines, Richard W.: Technicolor Movies. The History of Dye Transfer Printing. Jefferson 1993, S. 51.
Higgins, Scott: Ordnung und Fülle. Technicolor-Ästhetik im Studiosystem Hollywoods. In: Connie Betz u.a.: Glorious Technicolor. Berlin 2015, S. 48-71. Hier S. 51.
Ruedel, Ulrich und Kieron Webb: Die Farben von Technicolor. Von der Entstehung zur Restaurierung. In: Betz 2015, S. 126-145. Hier S. 128-132.
Sepia (Fotografie) https://de.wikipedia.org/wiki/Sepia_(Fotografie) [29.6.2017]
Technicolor. https://en.wikipedia.org/wiki/Technicolor [13.2.2018]
The Wizard of Oz. https://en.wikipedia.org/wiki/The_Wizard_of_Oz_(1939_film)#Victor_Fleming.2C_the_main_director [29.6.2017]
Anmerkungen
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1
Friedrich, Andreas: Das zauberhafte Land. In: Dorothy Ott und Thomas Koebner (Hg.): Filmgenres. Musical- und Tanzfilm. Stuttgart 2014, S. 99.
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2
Vgl. Haines, Richard W.: Technicolor Movies. The History of Dye Transfer Printing. Jefferson 1993, S. 51.
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3
Ebd., S. 21-24.
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4
Ebd. S. 17.
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5
Ebd., S. 51.
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6
Vgl. Higgins, Scott: Ordnung und Fülle. Technicolor-Ästhetik im Studiosystem Hollywoods. In: Connie Betz u.a.: Glorious Technicolor. Berlin 2015, S. 48-71. Hier S. 51.
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7
Der Vollständigkeit halber sei dazugesagt, dass in den 1930er Jahren Schwarz-Weiß noch als Marker für Realismus galt. Auch am ZAUBERER VON OZ sieht man, dass es Fantasiewelten sind, die zu jener Zeit farbig dargestellt wurden. Nichtsdestotrotz ist die Sepia-Tönung ein Indiz für gealtertes Material und somit von der Wirkung des reinen Schwarz-Weiß zu trennen.
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8
Vgl. Ruedel, Ulrich und Kieron Webb: Die Farben von Technicolor. Von der Entstehung zur Restaurierung. In: Betz 2015, S. 126-145. Hier S. 128-132.
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9
Ebd., S. 127.