Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
08. Januar 2018
Beim ersten Termin des Projektes Kino Kind Welt wurden Abbas Kiarostamis BROT UND GASSE (Iran, 1970) und Jean Vigos ZÉRO DE CONDUITE (Frankreich 1932/33) im Kino im jeweiligen Originalformat gezeigt. Letzterer erzählt von den Vorbereitungen eines Aufstandes der Schüler eines Jungeninternats, dessen Umsetzung gleichsam den Höhepunkt und das Ende des Films markiert. Vigos dritter Film gilt gemeinhin als zentrales Werk der Kinogeschichte und prägte u.a. die Filme der jungen Regisseure der Nouvelle Vague maßgeblich. Aus mehreren Gründen erschien uns dieser Film als ein sinnvoller Einstieg. Zum einen handelt der Film ganz dezidiert von einer Gegenüberstellung der Welt der Erwachsenen mit jener der Kinder, zum anderen verwirft der Film – so ließe sich bei genauerer Analyse zeigen – eine ganze Reihe filmischer Konventionen, um eine alternative (vielleicht „kindlich“ zu nennende) Film- und Weltwahrnehmung zu ermöglichen. Zu nennen wären hier die narrative Struktur, die nicht klassischen Erzählmustern folgt, sondern episodenhaft Momente aneinanderreiht und der wiederholte Illusionsbruch, in dem der Film aufhört, eine in sich geschlossene Welt zu sein und beginnt auf sich selbst als Film zu verweisen. Nicht zuletzt erschien uns das Thema Schule als Anfang dieses Projekts geeignet. Nicht, weil wir glauben, dass Kinder sich in den Filmen, die wir ihnen zeigen wiederfinden müssen, wohl aber, um die Anwesenheit im Kino im Kontrast zur Schule, die die Kinder verlassen hatten, um in das Filmmuseum zu kommen, noch einmal bewusst spürbar zu machen.
Schule und Kino: Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
Das erste Gespräch mit den Kindern direkt nach der Filmsichtung im Kino drehte sich zum einen um Irritationen, die der Film hinterließ – die Körpergröße des Direktors und sein im Vergleich zum Gesicht überproportional großer Bart, die Tatsache, dass man beim Rückwärtssalto des Jungen am Ende des Films „alles“ sieht (dass er also nackt ist), dass die Schule ein solch strenger Ort ist und dass die Figur des Hausmeisters, der immer das Licht ausmacht, unheimlich ist. Beim Sprechen über diese Irritationen wurde auch deutlich, dass die Schüler*innen gar kein Problem hatten, der Narration des Films zu folgen. Dies wurde u.a. deutlich, als eine Schülerin auf die Erwähnung, dass der Film in Frankreich bis nach dem zweiten Weltkrieg verboten war, antwortete, das läge wahrscheinlich daran, dass man „Angst haben könnte, der Film stelle Lehrer zu schlecht dar und dass die Kinder, die ihn sehen, sich genauso benehmen wie die Kinder im Film“.
Basierend auf diesem ersten Gespräch über den Film erschien es nicht sinnvoll, das zentrale Thema des Films – nennen wir es grob eine Auseinandersetzung mit dem repressiven System Schule – weiter zu vertiefen. Die Kinder konnten dies vollkommen nachvollziehen. Es erschien interessanter, den Irritationen zu folgen. Sichtbar geworden und damit auch erwähnenswert waren für sie vor allem „merkwürdige Elemente“ des Films, der Figuren und Dinge, die sich nicht gleich einordnen lassen. Dies führte zu der Entscheidung, sich in der 45-minütigen Analyse vor allem darauf zu konzentrieren, was wir in diesem Film sehen und oft auch nicht sehen, und welche Irritationen diese Spannung zwischen Sehen und Nicht-Sehen hervorruft.
Da es sich um den ersten Film von vier Filmen handelte, den wir uns im Semester genauer ansahen, erschien es zudem angebracht, sich mit grundlegenden Elementen des Filmischen zu beschäftigen: Wie formuliert eine Einstellung, was wir im Film sehen und was wir nicht sehen (z.B. eine Gemachtheit, der Produktionsapparat, der den Film erst hervorbringt)? Wie spielt der Film mit unseren Seherfahrungen? Es ergibt Sinn, ZÉRO DE CONDUITE unter diesen Vorzeichen genauer zu betrachten, da der Film das Feld von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit selbst verhandelt, was auch für die Erfahrung von Schule im Alltag wesentlich ist: Wer blickt auf wen in der Schule, wie kann sich ein Schüler/eine Schülerin diesen Blicken entziehen und sie unterlaufen? Wann ist man unbeobachtet, um Streiche durchzuführen oder Schokolade zu klauen? An welchen Stellen wird die Machtausübung durch die Lehrer besonders sichtbar? Diese Fragestellungen sind im Film selbst angelegt: Wenn die Schüler den Lehrer nur als tanzende Schattenfigur auf einem gespannten Betttuch beobachten, das an eine Leinwand erinnert, oder wenn sich die auf ein Blatt Papier gezeichnete Karikatur eines Lehrers in Bewegung versetzt, verbindet der Film ganz explizit Schule und Kino miteinander.
Sichtbar und Unsichtbar machen: Im Bild und außerhalb des Bildes
In einem ersten Schritt schauten wir die erste Klassenzimmersequenz des Filmes, in der die Schüler entdecken, dass ihnen Schokolade geklaut wurde und sie Bücher mit Leim an den Regalen festkleben. Anstatt auf das Fehlverhalten zu reagieren, steht der Lehrer Huguet, der sich an dieser Stelle schon fast als Komplize der Schüler gezeigt hat, auf und vollführt mit einem Schüler Handstände bis Pète-sec hineinkommt, den Spaß beendet und erneut einen Hausarrest ausspricht. Vor dem Abspielen des Films wurde darauf hingewiesen, dass die Schüler*innen besonders darauf achten sollen, ob, wo und in welcher Art und Weise Dinge erscheinen und verschwinden.
Nachdem in den ersten Reaktionen nach dem erneuten Ansehen des Ausschnitts als erstes das Verschwinden und Wiederauftauchen des Balls erwähnt wurde, sollte nun diese Spur verfolgt werden: Gibt es andere Momente solcher Art? Handelt es sich vielleicht um ein Grundmotiv des Films, oder zumindest der Sequenz?
Das erste Bild der Sequenz wurde nun projiziert und die Schüler*innen wurden gebeten, zu beschreiben, was sie sehen. Sie gaben an, ein Klassenzimmer zu sehen, das auf Aufforderung hin genauer beschrieben wurde. Neben dem auf dem Bild Sichtbaren, kamen weitere Beschreibungen hinzu: Die Schüler*innen erklärten, wo sich die Fenster und der Schulhof befinden müssten, dass es im Klassenzimmer zwei Sitzreihen gäbe und dass an der hinteren Wand Regale stünden. Obwohl all diese Dinge nicht im Bild zu sehen sind, trifft die Beschreibung des Zimmers zu. Thematisiert werden konnte hier also, dass sich unser Bild von Orten im Film immer aus mehreren Bildern zusammensetzt, und dass wir bei jedem Bild über das Sichtbare hinaus auch Elemente, Details, Perspektiven mitdenken, die gerade nicht zu sehen sind.
Zu diesem ersten Still fügten wir dann ein weiteres Still hinzu. Es zeigt dieselbe Einstellung zu einem späteren Zeitpunkt: Die Schüler haben das Zimmer hier bereits vollständig betreten und sind auf dem Weg zu ihren Plätzen. Schnell fiel den Schüler*innen auf, dass der Lehrer nun verdeckt ist, dass er also unsichtbar geworden ist. Neben der Erkenntnis, dass Dinge im Bild auch unsichtbar werden können, wenn sie durch andere verdeckt werden, sollten die Schüler*innen an dieser Stelle auch erfahren, warum ein Regisseur sich für eine solche Inszenierung entscheidet. Wir erklärten ihnen, dass die Kamera ja auch woanders hätte stehen können, sodass man den Lehrer nicht hätte verdecken müssen, um zu zeigen, wie die Kinder hineinkommen. Daraufhin wurden Überlegungen dazu aufgestellt, ob der Regisseur vielleicht zeigen wollte, dass es so viele Kinder sind, dass sie den Lehrer unsichtbar machen.
Sichtbar und Unsichtbar machen: Zwischen den Bildern
An dieser Stelle hatten wir erarbeitet, dass Filme mit der Spannung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit arbeiten. Jedes Bild ist immer mehr als das, was zu sehen ist und wird um andere Bilder ergänzt. Außerdem kann in jeder Einstellung etwas im Verlauf der Zeit unsichtbar werden, also von der Sichtbarkeit in die Unsichtbarkeit übergehen. Abschließend wurde auch darüber gesprochen, dass man etwas aussagen kann, indem man es unsichtbar macht – dass also jede formale Entscheidung auch bedeutsam ist und sich etwas hinter ihr verbirgt.
Verschwinden und erscheinen tut auch der Ball, den ein Schüler demonstrativ in die Höhe hält. Anders als beim Verschwinden des Lehrers gibt es aber hier keine einfache Erklärung, wie und wohin der Ball verschwindet. Den Schülerinnen und Schülern musste erklärt werden, dass der Film schon gut 80 Jahre alt ist und es zu dieser Zeit keine Computertricks gab, dass aber ein anderes wichtiges Instrument vorhanden war, nämlich der Filmstreifen selbst. In einer vorbereitenden Sitzung wurde bereits darüber gesprochen, dass Film die Illusion kontinuierlicher Bewegung aus der Projektion von 24 Einzelbildern pro Sekunde erzeugt. Daher hatten die Schüler*innen bereits ein Grundwissen das ihnen bei der Erklärung half, wie der Ball verschwunden sein könnte: Die Kamera wurde demnach angehalten, alle Darsteller blieben in ihrer Position, der Ball wurde entfernt und es wurde weitergedreht. Unsichtbar blieb hier also vor allem, was passiert ist, als die Kamera aus war, die Arbeit, die in die Bilder ging. Im Gespräch bestand auch Einigkeit darüber, dass das Verschwinden des Balls wie ein Fehler wirkt, weil dieses Verschwinden in der Realität gar nicht möglich sei. Dadurch wurde ihnen noch einmal vor Augen geführt, dass es sich um einen Film und nicht die Realität handelt. Eine Schülerin kam abschließend zu der wirklich interessanten Einsicht, dass der Regisseur vielleicht habe zeigen wollen, dass die Kinder im Film wissen, wie Kino funktioniert und dass sie das den Lehrern voraushaben.
Falsche Sichtbarkeit: Zwei Bilder zusammen denken
Abschließend wurden erneut die rund 25 Sekunden gezeigt, in denen ein Schüler Leim von seinen Klassenkameraden einsammelt und ihn dann hinter die Bücher schüttet, woraufhin der Lehrer sich erhebt. Anders als zu erwarten wäre, steht der Lehrer nicht auf, um den Schüler an der Zerstörung der Bücher zu hindern, sondern um ihm Hilfestellung bei einem Handstand zu leisten. Im Gespräch bestand Einigkeit darüber, dass das Verhalten des Lehrers komisch und überraschend sei. Diese Beobachtung diente als Aufhänger, sich diese Stelle nochmal Einstellung für Einstellung anzusehen, um herauszufinden, wie es zu dieser Verwunderung kommt.
Diese zwei Stills sind Beispiele dafür, wie man ein Bild mit dem anderen in Verbindung setzt. Die Hand, die Kleber in die Bücher schüttet, und der Lehrer, der aufsteht, ergeben scheinbar eine kausale Handlung, in der der Lehrer aufsteht, weil der Schüler Leim in die Bücher schüttet. Dass das Bild des aufstehenden Lehrers in Relation zur Großaufnahme der Hand gedacht wird, ist einerseits Konvention (Wir sehen jemand aus dem Bild hinausblicken und im folgenden Bild, was dieser Jemand sieht) und wird andererseits über die Blickrichtung des Lehrers verstärkt. Sein Blick aus dem Bild hinaus ins Off deuten wir automatisch als Blick auf den Schüler mit dem Leim.
Ergänzt um eine weitere Großaufnahme der Hand, die schüttet, verstärkt sich der Eindruck, dass das Aufstehen des Lehrers von der Aktion mit dem Kleber herrührt. Sein Aufstehen ist nun von der mehr oder weniger gleichen Großaufnahme gerahmt, was deren kausale Verknüpfung (Lehrer steht auf, weil...) bekräftigt.
Indem man nun aber das Bild des Lehrers und seiner Hilfestellung beim Handstand hinzunimmt, wird klar, dass man den Bildern „auf den Leim“ gegangen ist. Einig waren die Schüler*innen sich darin, dass der Lehrer nicht so reagiert, wie ein Lehrer es normalerweise tun sollte und dass der Film zunächst die Erwartung weckt, er würde sich „richtig“ verhalten, um dann mit dem vierten Bild alles in eine andere Richtung zu lenken.
Aus didaktischer Perspektive ging es in diesem letzten Teil darum, den Prozess des Filmsehens zu verlangsamen. Parallel zur Schnittfolge des Films wurde immer wieder eine Einstellung hinzugenommen. Nach jedem Schritt wurde darüber gesprochen, wie ein Gedanke entsteht, wenn zwei Bilder aufeinandertreffen, wie er sich verfestigen kann, wenn ein drittes Bild diesen Gedanken bestätigt, und wie er sich als falsch erweisen kann, sobald man ein viertes Bild hinzufügt. Als Aspekt des Themenkomplexes Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit konnten hier drei weitere Dinge thematisiert werden. 1) Wie wir zwei Dinge in ein räumliches Verhältnis zueinander setzen, obwohl sie nie im selben Bild zu sehen sind (hier Lehrer und Schüler mit Leimtopf). 2) Wie die Montage sichtbare Dinge in ein Verhältnis zueinander setzt und der Zuschauer daraus Gedanken formuliert. 3) Wie Filme mit dem Zuschauer spielen, ihn also auf eine falsche Fährte locken, indem sie mit Konventionen des Kinos spielen.
Abschließende Reflexion
Ziel dieser Analyseeinheit zu Jean Vigos ZÉRO DE CONDUITE war es zum einen, den Eindrücken der Schüler/innen nach der ersten Sichtung nachzugehen und sie im genauen Hinsehen zu vertiefen. Zum anderen sollten einige grundlegende Momente der Filmerfahrung genauer reflektiert werden: Wie geht ein audiovisuelles Medium mit dem Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit um? Wie können Dinge sichtbar und unsichtbar werden? Wann treten Irritationen auf? Welche Gedanken können solche Irritationen auslösen?
Abschließend wurde die ganze Sequenz erneut gesichtet. Neben den besprochenen Aspekten der Sequenz wurde – initiiert von den Schüler*innen – über zwei weitere Aspekte gesprochen: Die Schüler*innen bezweifelten die Fähigkeit des Lehrers, im Handstand zeichnen zu können und befanden, dass er beim Dreh wohl außerhalb der Einstellung – also für uns unsichtbar – gestützt wurde. Auch das in Bewegung geraten seiner Zeichnung konnte in Analogie zum Verschwinden des Balls entschlüsselt werden. Wieder war es die Tatsache, dass die bewegten Bilder auf der Leinwand tatsächlich schnell projizierte Einzelbilder sind, die hier dazu führte, dass sich eine statische Zeichnung in eine Animation verwandelte.
Es scheint gelungen, die Schüler*innen in relativ kurzer Zeit für visuelle Motive und grundlegende Eigenschaften des Filmischen sensibilisieren zu können: Darauf zu achten, wie Bilder etwas sichtbar/unsichtbar machen, wie Bilder sich zueinander verhalten und was Film im Normalfall unsichtbar macht, bedeutet Filme grundsätzlich intensiver, konzentrierter und genauer zu betrachten. Die von uns für diese Einheit veranschlagten 45 Minuten waren recht knapp bemessen. Zu empfehlen wäre, sich dafür eher 90 Minuten Zeit zu nehmen. So könnte man der Wirkung dieses Sichtbarmachens und Unsichtbarmachens mehr Raum geben und sie zum Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Film machen. Auch aus Zeitmangel wurde nicht versucht, die genauen Beobachtungen zum Verhältnis von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit auf ein generelles Nachdenken über den Film ZÉRO DE CONDUITE zu übertragen, also abschließend nochmal zu überlegen, wie sich die im Kleinen gemachten Beobachtungen zum Komplex Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit auf den Film in seiner Gesamtheit übertragen lassen.
Zitiervorschlag: Alejandro Bachmann: Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit: Jean Vigos Zéro de conduite. In: Bettina Henzler (Hg.): Filmästhetik und Kindheit. Online-Beiträge zum gleichnamigen Forschungsprojekt. www.film-und-kindheit.de, veröffentlicht am 08.01.2018.
Filme / Literatur
Zéro de conduite, R: Jean Vigo, Frankreich 1933