Kino, Körper, Körperlichkeit
08. Januar 2018

Als vierten Film des Semesters sahen die Schüler*innen Céline Sciammas Tomboy, der im Februar 2011 seine Weltpremiere in der Sektion „Panorama“ der Internationalen Filmfestspiele Berlin hatte, im Kino als DCP und in französischer Sprache mit deutschen Untertiteln. In ihrem dritten abendfüllenden Spielfilm erzählt die Regisseurin die Geschichte der zehnjährigen Laure, die mit ihren Eltern und ihrer Schwester in eine neue Wohnung etwas außerhalb von Paris zieht. Als sie einige Wochen vor Schulbeginn die Kinder aus der Nachbarschaft kennenlernt, stellt sich Laure als Junge namens Mikäel vor. Vorerst bemerkt niemand etwas, der Sommer wird mit Fußballspielen, Gesprächen über Mädchen und Jungen und Baden im See verbracht, bis bei den neugewonnenen Freundinnen und Freunden Zweifel auftauchen und die Lüge schließlich unter Einmischung der Mutter in sich zusammenbricht.
Der Film erschien aus mehreren Gründen als sinnvoller Abschluss in der Arbeit mit Filmen am Ende des ersten Halbjahrs. Zum einen wird die Geschichte konsequent aus Laures/Mikäels Perspektive erzählt – von der Begegnung mit einer fremden Umgebung und fremden Menschen über den Umgang mit der Lüge bis hin zu der Konfrontation mit den Konsequenzen der Täuschung. In diesen thematischen Schwerpunkten ähnelt Tomboy einigen der anderen bereits gesehenen Filme, von denen viele bereits genauer auf ihre filmische Umsetzung hin untersucht wurden (so z.B. die Begegnung mit einem fremden Umfeld in KHANE-YE DOUST KOYAST? / WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES?). Tomboy bot vor diesem Hintergrund also auch die Möglichkeit an die anderen, bereits gemachten filmischen Erfahrungen anzuknüpfen, zugleich war es aber zu diesem Zeitpunkt der einzige Film, der in einem Setting wie auch einer Zeit spielt, die den Kindern vertraut sind.
Nach der Vorführung
Das Gespräch direkt im Anschluss an den Film erwies sich als sehr intensiv und geprägt von einer bei den Kindern durch den Film ausgelösten Aufregung. Im Zentrum stand dabei genau jener Konflikt, den auch der Film zentral verhandelt und der um die Frage kreist, ob sich ein Mädchen als Junge ausgeben darf und unter welchen Vorzeichen dies überhaupt möglich ist. Interessant war, dass anfangs weitestgehend Einigkeit darüber bestand, dass Laure dies nicht hätte tun dürfen, die Schüler*innen diese Sichtweise im Laufe des Gesprächs jedoch veränderten. Laures Verhalten wurde nicht mehr als schlimm wahrgenommen und der Fokus zunehmend auf das Verhalten der Mutter und Freunde verschoben.
Auch deutlich wurde, dass die 10 bis 12-Jährigen vom expliziten Gestus des Films überrascht waren und uns fragten, ob ein solcher Film überhaupt für ihr Alter gedacht sei – z.B., wenn man Laure nackt sieht und damit auch als Zuschauer*in zum ersten Mal eindeutig über das biologische Geschlecht von Laure Gewissheit erlangt, oder wenn Laure sich aus Knete einen Penis bastelt, den sie in ihre Badehose steckt. Diese ersten Reaktionen vertieften wir im Gespräch mit Fokus auf die filmische Umsetzung, indem wir die Schüler*innen baten, sich an die Erfahrung des Filmsehens zurückzuerinnern und genauer zu sagen, ab wann sie sich denn sicher waren, dass Laure ein Mädchen ist. Ausgehend von der Beobachtung, dass der Film den/die Betrachter*in anfangs mit Absicht im Unklaren lässt, konnte thematisiert werden, wie äußere Merkmale gesellschaftlich codiert sind und als entweder „männlich“ oder „weiblich“ wahrgenommen werden. Mit jeder weiteren Minute der angeregten Diskussion nahm die Wahrnehmung von Laures Verhalten als Skandalon ab, was für andere moralische Fragen den Raum öffnete: So wurde z.B. über jene Szene gesprochen, in der Laure gezwungen wird, ihr Geschlecht offen zu zeigen, während alle Kinder sie anstarren, was von einer Mehrzahl der Schüler*innen als grausam wahrgenommen wurde.
Das Große im Kleinen: Die Exposition
Das Erstgespräch hatte eine Vielzahl von Themen offengelegt, die in der Wahrnehmung von Tomboy aus Sicht der Kinder wichtig erschienen und die sich zentral um Laures Lüge formierten. Diese sehr inhaltliche Diskussion wollten wir in der zwei Wochen später stattfindenden Diskussion zurückführen auf die Form des Films, seine ästhetischen Strategien. Zu diesem Zweck erschien es uns sinnvoll, die ersten rund sieben Minuten des Films genauer anzusehen, um herauszufinden, wie das Nachdenken über die besprochenen Themen – die Begegnung mit einer fremden Umgebung und fremden Leuten, die Täuschung über das Geschlecht – vom Film selbst hervorgebracht wird. Wie kommt es dazu, dass die Schüler*innen sich nicht sicher waren, ob die Protagonistin des Films Mädchen oder Junge ist? Welche formalen Mittel verwendet der Film, um das Gefühl der Hauptfigur im Umgang mit der neuen Umgebung zu vermitteln?
Zu Beginn der zweiten Sitzung zeigten wir also erneut die ersten rund 7 Minuten des Films.
















Vorgenommen hatten wir uns, diese Sequenz in drei Teilen zu behandeln. Anhand der ersten Einstellungen wollten wir spezifisch auf die Frage eingehen, wie Tomboy entlang der ersten vier Einstellungen seine Figur etabliert. Dann wollten wir genauer darauf eingehen, wie die folgenden Momente – wenn Laure auf dem Schoß ihres Vaters Auto fährt – das Verhältnis zu ihrem Vater artikulieren und schließlich, wie genau das Ankommen in der neuen Wohnung filmisch erzählt wird.
Im erneuten Anschauen und anschließenden Reden über die Sequenz wurden zwei Dinge sehr deutlich: Die Schüler*innen schauten die Sequenz mit äußerster Konzentration, waren offensichtlich erneut fasziniert von diesem Film, der sie überrascht und verunsichert hatte. Im Gespräch aber zeigte sich, dass es Sinn ergab, die kompletten 45 Minuten der Einheit auf die ersten vier Einstellungen zu verwenden, was wir dann auch spontan machten.






Ausgangspunkt der Beschäftigung war die Beobachtung, dass das erste Bild des Films eine Rückenansicht von Laure ist. Wir sehen ihren Nacken, ihre blonden Haare und unscharf im Hintergrund eine Welt, die nicht identifizierbar an ihr vorbeirauscht. Indem wir die Schüler*innen darauf verwiesen, dass der Anfang oft schon viel von dem enthält, was man dann in dem Film als Ganzes wiederfindet, schauten wir uns erneut nur die ersten vier Einstellungen an und brachen in dem Moment ab, als Laure ihre Augen öffnet: Was also erzählt uns der Film über Laure mittels dieser vier Bilder? Und was daran könnte so wichtig sein, dass der Entschluss gefasst wurde, dies ganz an den Anfang – also als ersten Eindruck, den der/die Zuschauer*in von Laure bekommt – zu stellen?
Wir stellten erstmal fest, dass man als Betrachter*in zunächst kaum etwas von der Umgebung, sondern v.a. Laures Nacken und Hinterkopf sieht. Wenige Sekunden später stellten wir fest, dass Laure die Augen geschlossen hält. Wir sehen, obwohl Laure nicht sieht. Daraus schlossen wir, dass es nicht darum gehen könne, uns zu zeigen, was sie sieht. Die erneute Nachfrage, was wir denn eigentlich sehen, ergab nach und nach eine sehr detaillierte Beschreibung des Sichtbaren: Der Nacken, die Haare, die Bewegung im Hintergrund, dann: der Wind, der ihr durch die Haare weht, die Sonne, die ihren Nacken streichelt. Es wurde sichtbar, dass der Blick genauer wurde, gerade weil am Anfang scheinbar fast gar nichts erzählt wird. Wir fragten nun also, was für ein Gefühl diese Bilder bei den Schülerinnen und Schülern auslösten:
Die Antwort war einhellig, hier wird etwas Schönes gezeigt, man bekommt ein Gefühl dafür, wie es sich anfühlt, im Sommer auf einem Autodach sitzend eine Straße entlangzufahren. An dieser Stelle insistierten wir auf dem Wort anfühlen – und schärften somit noch einmal den Blick auf den Anfang des Films, der vielleicht das Fühlen dem Sehen vorzieht: Laure wird etabliert als jemand, der die Augen schließt und die Welt körperlich, sinnlich wahrnimmt. Auch in den nachfolgenden Bildern verfolgten wir diese Spur – sprachen über die unscharfen Formen, die die Bäume in der Fahrtbewegung ergeben und im Zusammenspiel mit der durch die Bäume scheinenden Sonne ein abstraktes Muster aus dunklen und hellen Flächen zeichnen – also ein Bild, in dem wir nicht wirklich erkennen, was zu sehen ist, dafür aber erahnen können, wie es sich anfühlt.
Noch Kleiner: 4 Einstellungen und die Körperlichkeit des Bildes
Entgegen unserer Erwartung waren die Schüler*innen von der Besprechung der ersten vier Einstellungen so eingenommen, dass wir diese über die Länge von 45 Minuten fortsetzten. Nach und nach wurden wir uns über zwei Dinge einig: 1.) Laure wird hier als sehr sinnliche Person etabliert, die mit dem ganzen Körper die Welt erfährt. 2.) Film ist zwar primär ein optisches Medium (zeigt also vor allem, wie die Welt aussieht), er ist aber auch in der Lage, uns zu vermitteln, wie sich Dinge anfühlen – z.B. wenn die Haut von der Sonne gewärmt wird oder Wind durch unsere Finger und Haare weht. Begleitend zur Sammlung der sinnlichen Eindrücke, fragten wir immer wieder nach, wie uns der Film diese Eindrücke vermittelt. So erarbeiteten wir noch einmal, dass es formale Entscheidungen sind, die zu den körperlichen/haptischen Qualitäten des Films beitragen. Dabei hielten wir fest, dass die Kamera in den ersten Einstellungen von Tomboy sehr nah an Laure ist, dass wir die Struktur ihrer Haare und Haut erkennen können. Die langen, bewegten Einstellungen evozieren einen stetigen Wechsel von Schatten und Licht, der diese Oberflächen in unterschiedliches Licht taucht und so ihre Beschaffenheit nochmal hervorhebt. Das Zeigen der Hand in der zweiten Einstellung verweist darauf, dass hier jemand tastet, greift, berührt.
Wie fühlt sich Deine Schule an?
Für die zweite 45-Minuten Einheit gaben wir – ausgehend von der thematischen Schwerpunktverlagerung im ersten Teil – folgende Aufgabe: In Gruppen von vier Personen sollten die Schüler*innen mit ihren Handykameras durch die Schule gehen und dort Fotos von Dingen machen, die sie gerne haben oder auch nicht mögen oder mit denen sie einfach einen starken sinnlichen Eindruck verbinden. Dabei betonten wir den sinnlichen Aspekt: Es ging nicht darum, einfach Bilder von diesen Orten oder Dingen zu machen, sondern sie so zu fotografieren, dass der/die Betrachter*in versteht, was genau sich an ihnen wie anfühlt. Es geht darum, Bilder zu machen, die einen sinnlichen Eindruck auch – und vor allem – abseits des Optischen vermitteln. Fotos, die zeigen, wie sich eine bestimmte Oberfläche anfühlen mag, welche Wärme das Licht an einem Ort hat, ob ein Raum still oder voller Geräusche ist, welche Orte besonders ekelhaft sind, usw. Idealerweise sollen die Fotos eine Gesamtatmosphäre aus Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen vermitteln.
Während der 30 Minuten, die die Schüler*innen dafür Zeit hatten, gingen wir immer wieder zu den Gruppen und arbeiteten an den Bildern. Eine Schülerin fotografierte z.B. aus relativ großer Distanz eine ca. ein Meter hohe Pflanze im Treppenhaus. Auf die Frage, was sie an der Pflanze denn mag, antwortete sie, dass sie vor allem Farbe, Form und Struktur der Blätter mochte. Also motivierten wir sie dazu, näher an die Blätter heranzugehen – so dass sowohl Farbe, Form als auch Struktur und in fast haptischen Detailreichtum sichtbar wurden. Außerdem versuchten wir anzuregen, darüber nachzudenken, aus welcher Richtung man am besten fotografiert, um z.B. bestimmte Licht-Schatten Verläufe sichtbar zu machen.
Am Ende der 30 Minuten projizierten wir folgende 4 Bilder, die im Laufe der Einheit entstanden waren, und arbeiteten heraus, inwieweit hier tatsächlich spürbar wird, wie sich die fotografierten Orte und Dinge anfühlen, inwieweit diese Fotos also sinnliche und nicht bloß abbildende Qualitäten haben:



Fazit
Die insgesamt vier Stunden, die wir Tomboy gewidmet hatten, waren auf mehreren Ebenen eine Überraschung: Zum einen waren die Schüler*innen bei der anschließenden Diskussion erstaunlich nachdenklich. Je länger wir sprachen, desto mehr wandelten sich die Verunsicherung andeutenden Aussagen („Die ist verrückt“, „Iiiih, die hat ein Mädchen geküsst“) zu nachdenklichen und genauen Beobachtungen der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten, ihrer Künstlichkeit und Willkürlichkeit. Die Faszination der Kinder für Laures Umgang mit der ihr zugewiesenen Identität und ihrem Körper als auch für die sinnlichen Qualitäten des Bildes war so groß, dass wir für die Gestaltung der zweiten Einheit diese Gedanken verfolgen wollten. Dass das Interesse an Körperlichkeit und Sinnlichkeit aber so groß war, hat uns dann doch überrascht. Dies mag auch an der Altersklasse der Schüler*innen liegen. Deutlich wurde für uns als Vermittler, dass die Kinder äußerst interessiert waren, darüber zu sprechen, wie Bilder emotional und körperlich wirken, anstatt ausschließlich zu analysieren, was sie bedeuten könnten. Die anschließende praktische Übung wurde begeistert aufgenommen (was sicher auch damit zu tun hatte, dass sie aufgefordert wurden, ihre Handys zu benutzen) und war der Versuch, die Kinder mit der Kamera ausprobieren zu lassen, wann ein Bild in diese Bereiche kippt, wann wir ein Gefühl für die Welt und ihre Oberflächen bekommen, anstatt einfach nur ein Abbild davon zu sehen.
Diese Einheit war dadurch sehr nah am Film konzipiert: Wir hatten besprochen, wie Laure als sinnliche Person etabliert wird und wie diese sinnliche Wahrnehmung filmisch transportiert werden könnte. Wir hatten damit auch eine weitere Ebene von Körper angesprochen, die für Tomboy relevant ist: In der Frage nach der Geschlechtsidentität stand der Körper als Zeichen im Mittelpunkt (Kurze Haare haben nur Jungen, Fußballspielen und Spucken tun nur Jungen), in der Wahrnehmung der Welt durch die Hauptfigur und der Wahrnehmung des Films durch den Betrachter aber wurde der Körper als Oberfläche, als sinnlich-taktiles Medium in Kontakt mit der Welt bedeutend.
Zitiervorschlag: Alejandro Bachmann und Stefan Huber: Kino, Körper, Körperlichkeit. In: Bettina Henzler (Hg.): Filmästhetik und Kindheit. Online-Beiträge zum gleichnamigen Forschungsprojekt. www.film-und-kindheit.de, veröffentlicht am 08.01.2018.
Filme / Literatur
Tomboy, R: Céline Sciamma, Frankreich 2011
Wo ist das Haus meines Freundes? , R: Abbas Kiarostami, Iran 1987