Das Vertraute und das Fremde
WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES? / KHANE-YE DOUST KOJAST?
07. April 2018
Nach der Erstsichtung von Wo ist das Haus meines Freundes? (Khane-ye doust kojast?, Abbas Kiarostami, 1987) im 35mm-Originalformat in der ursprünglichen Sprachfassung (Farsi) mit deutschen Untertiteln im Kino fiel im anschließenden Gespräch auf, dass die Schüler*innen außerordentlich viele Details wiedergeben konnten, die sie im Film beobachtet hatten. Sie erinnerten sich beispielsweise daran, dass es fast keine Geschäfte gibt und insgesamt nur wenig gekauft wurde – nur die Zigarettenpackung des Großvaters oder das Waschmittel der Mutter waren ihnen hier aufgefallen. Auch wurde angemerkt, dass die Mutter Ahmad am Ende des Films kurz über den Kopf streicht, obwohl sie am Anfang sehr streng war. Während die Handlung des Films selbst als sehr einfach wahrgenommen wurde („Es geht um einen Jungen, der seinem Freund, der in einem anderen Dorf wohnt, das Schulheft bringen möchte“), hatten sich – so schien es – der Blick und das Interesse verschoben: weg von der Geschichte und den kausalen Zusammenhängen innerhalb des Films hin zu den kleineren Momenten eines fremden Alltags/Umfelds. Genau diese Verlagerung der Aufmerksamkeit hatten wir bei der Wahl des Films für das Vermittlungsprojekt intendiert: Die Filme Abbas Kiarostamis tendieren dazu, die eigentliche Geschichte lediglich als Rahmen zu nutzen, um Situationen hervorzubringen, in denen die Figuren der Welt sehend begegnen, in einem Modus erhöhter Aufmerksamkeit. Auch die Schüler*innen hatten dies recht schnell erkannt und hatten keine Schwierigkeiten, eine Ähnlichkeit zwischen diesem Film von Abbas Kiarostami und dem in der vorherigen Sitzung gesichteten und besprochenen Nan va kucheh (Brot und Gasse, R: Abbas Kiarostami, Iran 1970) herzustellen: In beiden Filmen geht es darum, dass ein Kind auf sich allein gestellt ein Problem lösen und dabei vor allem genau auf seine Umwelt achten muss.
Dieser Schwerpunkt in der ersten Nachbesprechung legte nahe, für die genauere Analyse einen Ausschnitt zu wählen, in dem die Hauptfigur die vertraute Umgebung verlässt und in eine ihm fremde Welt eintritt. In Wo ist das Haus meines Freundes? ist das jener Moment, in dem Ahmad sich aus dem Innenhof seines Elternhauses davonschleicht und sich auf den Weg in das benachbarte Dorf macht, um dort seinen Freund zu finden und ihm das vergessene Schulheft zu bringen (ohne dass er genau weiß, wo dessen Haus ist) (siehe Filmausschnitt Online). Innerhalb des Films markiert diese Sequenz den Übergang vom Vertrauten in das Fremde, wobei der Film dies fast ausschließlich über Bilder und Töne vermittelt. Die Ausgangsidee war nun, genauer zu analysieren, wie der Film mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, diesen entscheidenden Moment zu erzählen.
Zwei Orte und zwei Weisen, sich in ihnen zu bewegen
Bereits in der Besprechung direkt nach dem Film war aufgefallen, dass mehrere Schüler*innen den Weg zwischen den beiden Dörfern recht genau wiedergeben konnten. Auch bei der genaueren Analyse vier Tage später konnten sich die Kinder auf Nachfrage genau an die im Film immer wiederkehrende Totale erinnern, die den Berg hinter Ahmads Dorf zeigt: Dieser wird überwunden, indem Ahmad den im Zickzack verlaufenden Pfad hinaufrennt (bzw. im Laufe des Films diverse Male hoch- und runterrennt).
Auch an die darauffolgende Durchquerung des Waldes konnten sich mehrere Schüler*innen noch erinnern. Diese Beobachtung wurde zum Ausgangspunkt genommen darüber nachzudenken, warum der Regisseur wohl der Inszenierung dieses Weges so viel Zeit einräumt. Eine Schülerin meinte, „um zu zeigen, wie weit und anstrengend das für den Jungen ist“, eine andere merkte an, es gehe darum, „dass man versteht, dass Ahmads Dorf weit weg von dem Dorf ist, wo er das Heft an seinen Freund zurückgeben möchte“.
Dies war der richtige Moment, um den Schülerinnen und Schülern nochmal den Ausschnitt zu zeigen, in dem Ahmad sein Heimatdorf rennend verlässt, den Hügel überquert und im Dorf seines Freundes dessen Haus zu finden versucht. Zuvor unterteilte ich sie in drei kleinere Gruppen und gab jeder einen Hinweis, worauf sie besonders achten sollte: Gruppe 1 sollte sich darauf konzentrieren, wie gut man sich in den beiden Dörfern orientieren kann, also inwieweit man anschließend wiedergeben kann, wo Ahmad entlanggelaufen ist. Gruppe 2 sollte genauer darauf achten, ob es einen Unterschied hinsichtlich des Verhaltens des Jungen in seinem eigenen Dorf, bzw. im fremden Dorf gibt und diesen anschließend beschreiben. Die 3. Gruppe bekam den Auftrag darauf zu achten, an welchen Stellen uns der Film weniger zeigt als wir wissen müssten, um genau zu verstehen, was passiert (Hier wurde auch an die Sitzung zum Film Zéro de Conduite erinnert, die sich mit der Frage von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit beschäftigt hatte).
Nach der Sichtung forderte ich Gruppe 1 auf, den Weg des Jungen genauer zu beschreiben. Dies fiel der Gruppe beim ersten Teil, in dem Ahmad noch in seinem eigenen Dorf ist, leicht: Der Junge verlässt den Hof seines Hauses, rennt den Berg hinunter, vorbei an einigen Menschen, die dort sitzen und beginnt dann, den Berg hinauf und schließlich in den Wald hinein zu rennen.
Mit der Ankunft im Dorf fokussierte sich die Beschreibung der Schüler*innen eher auf die Tatsache, dass Ahmad sich zwischen verschiedenen Wegen entscheiden konnte und man nicht mehr genau weiß, in welchem Verhältnis der eine Schauplatz zum nächsten liegt. In eine ähnliche Richtung gingen auch die Beobachtungen der zweiten Gruppe: Während der Junge zu Anfang noch zielstrebig rennt, vorbei an den Menschen in seinem eigenen Dorf, hält er beim ersten Haus des fremden Dorfes sofort an. Ab hier, so sagten die Schüler*innen, wolle er immer rennen, weil er es eilig hat, muss aber dauernd anhalten, da er den Weg nicht kennt. Eine Schülerin merkte an, dass sie das ganz unruhig mache, weil wir als Zuschauer*innen doch wüssten, dass Ahmad so schnell wie möglich wieder nach Hause müsse, um möglichst wenig Ärger von seinen Eltern zu bekommen. Die dritte Gruppe ergänzte, dass man mit der Ankunft im fremden Dorf immer wieder Dinge „nicht so gut“, „nicht sehr genau“ sehen könne, obwohl sich Ahmad hier viel öfter Zeit nimmt, um sich umzusehen. So sei der erste Mensch, dem er begegnet erst gar nicht zu sehen, und es sehe so aus, als würde sich Ahmad mit einem laufenden Busch unterhalten (Hier sprachen wir kurz darüber, wie sich die Kamera zum Geschehen positioniert hat, um diesen Eindruck zu erzeugen).
Auch könne man keine Menschen sehen, denen Ahmad begegnet, sondern nur einen Esel, einen Hahn und schließlich ein Tuch, das vom Himmel fällt, ohne, dass man sehe, woher es genau kommt.
Die Erwähnung, dass es erstmal keine Menschen im anderen Dorf gebe, aber stattdessen mehrere Begegnungen mit Tieren und Dingen, führte dazu, dass wir uns darüber unterhielten, an was das erinnern könnte. Ich zeigte nochmal die Stelle, in der der Junge in den Wald abbiegt, ihn durchquert und schließlich den Berg zum Dorf erklimmt, wobei ich die Schüler*innen bat, darauf zu achten, wie der Junge in der Szene zu sehen ist und was man hört. Ihnen fiel auf, dass der Junge immer wieder zwischen den Bäumen verschwindet und man auf der Tonebene diverse Vögel, vielleicht auch eine Krähe hören kann. Auf die Frage, ob ihnen noch andere Geschichten einfielen, wo es um dunkle Wälder, Begegnungen mit Tieren und merkwürdigen Dingen geht, wurden interessanterweise vor allem Comics erwähnt. Die Ähnlichkeit zum Märchen musste von mir etabliert werden. Dabei ging es mir vor allem darum, zu zeigen, wie ein Filmemacher die scheinbar reale Welt eines iranischen Bergdorfes durch leichte Verschiebungen der Perspektive und der Tongestaltung in etwas Magisches überführen kann.
An der Einstellung, in der das weiße Tuch vor Ahmad auf den Boden fällt, wurde das deutlich: Hätte Kiarostami die Kamera weiter hinten aufgestellt, hätte man gesehen, dass eine Frau das Tuch fallen lässt. In dieser Einstellung wird vor allem betont, dass ein Tuch aus dem Nichts auf den Boden klatscht. Eine Schülerin merkte schließlich an, dass es auch in Märchen oft darum ginge, dass ein Kind Abenteuer in einer Welt bestehen muss, die es nicht kennt und in der merkwürdige Sachen passieren.
Zum Abschluss der 45 Minuten fassten wir nochmal zusammen, inwieweit der Eindruck der zwei Dörfer im Film sich unterscheidet. In seinem Heimatdorf, wo sich Ahmad auskennt, interessiert ihn am Dorf selbst gar nichts. Gehetzt rennt er an allen Menschen vorbei und weiß genau, wo er hinmöchte. Im fremden Dorf dagegen kennen sich weder er noch wir (die Zuschauer) aus: Er kommt ins Zögern, begegnet Tieren oder Menschen, die wie Fabelwesen aussehen und schließlich fällt direkt vor ihm unerwartet ein weißes Tuch vor die Füße. Wir sprachen abschließend darüber, dass es vielleicht etwas mühsamer ist, an einem Ort zu sein, den man nicht kennt, dass man dafür aber genauer hinsehen muss, mehr Details entdecken kann und aufmerksamer ist.
Die Fremde in Bildern erzählen
Nach einer Pause zeigte ich den Schülerinnen und Schülern nochmal die ersten vier Einstellungen des Ausschnitts. Diese zeigten in einer Halbtotalen die Tür, nachdem Ahmad losgelaufen war, eine Totale, in der wir Ahmad die Dorfstraße hinunterrennen sehen, eine Totale der alten Männer die am Dorfeingang auf einer Veranda sitzen und die Totale der Straße, die zu besagtem Berg führt und die Ahmad von der Kamera weg in die Bildtiefe hinein rennt.
Nun schlug ich vor, dass die Schüler*innen sich vorstellen sollten, a) Ahmad würde dieses Dorf nicht verlassen, sondern es gerade erreichen und b) dass dieses Dorf nicht seines, sondern ein ihm unbekanntes ist. Anhand aller in den vier Bildern zu sehenden Dinge sollte sich nun jede*r Schüler*in überlegen, was passieren würde, wenn Ahmad dieses Dorf nicht kennen würde und sich zurechtfinden müsste. Dazu verteilte ich vier Arbeitsblätter auf denen je eine der genannten Einstellungen oben zu sehen war und darunter leere Kader vorgegeben waren.
Die Klasse hatte nun 30 Minuten Zeit ausgehend von einem der vier Bilder entlang der vorgegeben Kader eine Geschichte in Bildern zu erzählen. Während sie zeichneten, ging ich gemeinsam mit der Klassenlehrerin zu einzelnen Schülerinnen und Schülern und besprach zum einen, was man inhaltlich erzählen könnte, aber auch, wie man dies am besten in Bildern ausdrücken könnte.
Indem ich sie fragte, wie sie selbst reagieren würden, wenn sie in ein Dorf kämen, das sie nicht kennen und es säßen Männer auf einer Veranda, kamen einzelne Schüler*innen z.B. darauf, dass Ahmad wohl anhalten und die Männer etwas fragen würde. Auffällig war, dass die meisten Schüler*innen in der Einstellungsgröße verblieben, die auch das von ihnen ausgewählte Bild hatte. Hier versuchte ich, sie darauf hinzuweisen, dass man mit der Kamera auch viel näher gehen könne, um die Aufmerksamkeit auf ein Detail zu lenken. So entstanden dann kleine Szenen, in denen das Gesicht Ahmads in einer Großaufnahme gezeigt wird, bevor wir sehen, wie er auf die Männer blickt. Ein Schüler wählte sich das Bild der geschlossenen Tür aus und zeigte dann in derselben Einstellungsgröße, wie sich von außen eine Hand zwischen diese und den Rahmen schiebt, um in der nächsten Einstellung zu zeigen, wie ein Kopf folgt.
Abschließende Reflexion
Die Beobachtung, dass Wo ist das Haus meines Freundes? davon handelt, wie ein Junge versucht, das Haus seines Freundes zu finden, sollte in dieser Einheit mit einer Analyse verbunden werden, wie Film davon erzählen kann, dass sich jemand auskennt, oder dass die Welt fremd und unbekannt wirkt. Die einleitende Analyse des ausgewählten Ausschnitts funktionierte gut und hat die formalen Unterschiede zwischen der Inszenierung des eigenen und des fremden Dorfs deutlich sichtbar werden lassen. Als brauchbar erwiesen hat sich dabei, die Sehaufgaben nicht entlang von filmischen Begriffen zu formulieren (z.B. „Achtet darauf, in welche Richtung die Kamera schwenkt, wo der Anschluss von einem Bild zum anderen Orientierung schafft“), sondern erstmal die Seherfahrung der Schüler*innen zu aktivieren („Wo habt ihr das Gefühl Euch auszukennen, wann wisst ihr nicht mehr, wo genau ihr Euch befindet?“). Ohne Frage verstand die Klasse im Laufe der Analyse, dass (und in welchen Teilen) sich die Inszenierung des einen Dorfs von jener des zweiten Dorfs unterscheidet. Schwierigkeiten hatten die meisten Schüler*innen aber damit, nachzuvollziehen, dass der Regisseur sich in seinen Motiven und Inszenierungsstrategien vielleicht an Topoi des Märchens orientiert – „Aber warum denn, das spielt doch im Iran in den Bergen“, sagte ein Mädchen. Diese Art von Querverweis scheint mir im Nachhinein nicht sinnvoll, wenn man nicht mehr Zeit hat, diese Ähnlichkeit zu erarbeiten, etwa im Vergleich zu einer Passage aus einem Märchen.
Der zweite Teil der Einheit bestand darin, die vorangegangene Analyse, wie man Vertrautheit und Fremdheit inszeniert, in eine eigene kreative Arbeit zu überführen: Die Schüler*innen sollten nun die Vertrautheit von Ahmads Dorf in das Gefühl von Fremdheit und Orientierungslosigkeit übertragen. Während das Prinzip verstanden wurde, fiel es vielen Schülerinnen und Schülern schwer, das Gesehene direkt in das eigene Zeichnen zu überführen. Die entstandenen Bilderreihen zeugten vor allem davon, dass die Schüler*innen sich Gedanken machten, was passiert, ohne sich allzu viel Gedanken zu machen, wie sie das inszenieren. Retrospektiv betrachtet wäre die Auswahl einer noch kürzeren Sequenz zur Analyse vielleicht besser gewesen: Damit hätte man das Eingehen auf den narrativen Ablauf etwas zurückdrängen und sich noch stärker auf die tatsächliche visuelle Gestaltung konzentrieren können. Denkbar wäre hier, vielleicht erst mit der Ankunft im Dorf des Freundes zu beginnen und mit dem Herabfallen des weißen Tuches abzuschließen. Schließlich ist zum zweiten Teil der Übung zu sagen, dass diese für eine 45-minütige Einheit bereits sehr viele Fragestellungen der filmischen Inszenierung beinhaltet (Einstellungsgrößen, Nähe und Distanz der Kamera, Platzierung des Geschehens im Bild), die bei einer längeren Einheit ausführlicher besprochen werden könnten.
Zitiervorschlag: Alejandro Bachmann: Das Vertraute und das Fremde: Abbas Kiarostamis Wo ist das Haus meines Freundes? In: Bettina Henzler (Hg.): Filmästhetik und Kindheit. Online-Beiträge zum gleichnamigen Forschungsprojekt. www.filmundkindheit.de/vermittlung/vermittlung-fuer-kinder/bachmann-das-vertraute-und-das-fremde/ (veröffentlicht am 07.04.2018).
Filme / Literatur
Brot und Gasse, R: Abbas Kiarostami, Iran 1970
Wo ist das Haus meines Freundes? , R: Abbas Kiarostami, Iran 1987
Zéro de conduite, R: Jean Vigo, Frankreich 1933