Das Mehr der Bilder – zwischen Dokument und Fiktion
16. März 2018

Ausgangspunkt dieser insgesamt 5-stündigen Lehreinheit war der Film La Pivellina, eine italienisch-österreichische Coproduktion des Regieduos Tizza Covi und Rainer Frimmel. Wie einige andere Arbeiten der beiden ist der Film im Mikrokosmos einer Zirkusgemeinschaft angesiedelt, die am Rande von Rom in einer Gruppe von Wohnwägen lebt und wie auch in den vorherigen Arbeiten, ist das Werk eine sehr eigenwillige Mischung aus dokumentarischem und fiktionalem Film.
Die erwachsenen Hauptfiguren – das Paar Walter und Patti, sowie der der Familie sehr nahestehende 13-jährige Tairo – treten im Film mit ihren eigenen Namen und in dem Umfeld ihres alltäglichen Lebens, zu dem auch der Zirkus gehört, auf. Das fiktionale Element, also jener Teil, der erdacht ist und nicht ohne die Präsenz der Filmemacher im Leben von Walter, Patti und Tairo stattgefunden hätte, findet über die ca. zweijährige Asia Eingang in den Film. Diese wird zu Beginn des Films von Patti auf einem Spielplatz in der Nähe der Zirkussiedlung am Rande von Rom alleine aufgefunden. Nachdem Patti einige Zeit gewartet hat, ob nicht doch jemand das Kind abholt, entschließt sie sich, das Kind mitzunehmen und für es zu sorgen. Von diesem Zeitpunkt an verfolgt der Film kaum eine Narration im klassischen Sinne: Vielmehr besteht er aus einer Reihe von Szenen, die davon handeln, wie sich die erwachsenen Hauptfiguren mit der Präsenz von Asia in ihrem Leben arrangieren, sie in den Alltag einbinden und diesen stellenweise auch anpassen, um Raum für sie zu schaffen. Nur sporadisch stellt sich die Frage, ob Asia früher oder später wieder zurück zu ihren Eltern muss.
Vor dem Hintergrund des Projektes schien uns dieser Film aus zwei Gründen eine gute Wahl: Durch die Figur der Asia, eines kleinen Kindes, verschafft sich der Film Zugang zu einer Lebensrealität, die Kindern aus dem 5. Bezirk in Wien in dieser Form mehrheitlich nicht vertraut ist – das Leben am Stadtrand, in ärmlichen Verhältnissen, in einer Zirkusgemeinschaft, im Wohnwagen. Zudem führt das Alter der Protagonistin – sie ist 2 Jahre alt und damit eben nicht im selben Maße kontrolliert und tatsächlich schauspielend wie ein erwachsener Mensch – den Film an eben jene Grenze zwischen den Gattungen des Dokumentarfilms und dem Bereich des Fiktionalen. Diesen Aspekt des Fragenkomplexes zu ‚Filmästhetik und Kindheit', den wir im Laufe des Jahres noch nicht weiter vertieft hatten stellt sich in La Pivellina auf vielfache Weise: Was an diesem Film ist echt, was ist erdacht?
Der erste Blick: Die Besprechung im Anschluss an die Filmsichtung
Nach der Sichtung des Films im Originalformat (35mm) und in der Originalsprache Italienisch mit deutschen Untertiteln versuchten wir, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen, ohne dabei direkt eine Richtung oder ein spezielles Thema zu verfolgen. Auffällig waren in den Reaktionen der Kinder zwei Dinge, die immer wieder fielen und teilweise heftig diskutiert wurden: Gegen Ende des Films nimmt die Mutter des Kindes per Brief Kontakt zu Walter und Patti auf, und kündigt an, Asia am folgenden Tag wieder mitzunehmen. Ein Abschiedsfest wird für Asia veranstaltet, viele der Bewohner der Zirkussiedlung sind anwesend, doch als der Tag sich langsam seinem Ende nähert, ist die Mutter noch nicht aufgetaucht. An dieser Stelle endet der Film. Erstens war für viele das offene Ende des Films in dieser Weise inakzeptabel: Dass der Film offenlässt, ob Asia von ihrer Mutter abgeholt wird, führte zu der forschen Behauptung, dass der Film als Ganzes ja gar keine Geschichte erzähle. Der andere signifikante Aspekt entsprang unserer Aufforderung, die Kinder sollten doch mal genauer beschreiben, welche Figuren sie im Film kennengelernt haben, wie deren Leben aussieht, inwieweit es sich vielleicht von „unserem“ Leben unterscheidet. Die Stimmung kippte in dieser ersten Nachbesprechung sehr schnell in ein Wettern gegen den Film, das wir im weiteren Verlauf versuchten, in produktivere Bahnen zu lenken. Dass dies möglich war, hatte schon das Sichten des Films selbst deutlich gemacht: Die Stimmung während der Vorführung war – trotz der fremden Sprache, den Untertiteln und der Abwesenheit eines klassischen Spannungsbogens – sehr konzentriert gewesen und diverse lautere Reaktionen während der Vorstellung hingen alle damit zusammen, dass die Kinder nah beim Film waren. Es waren also direkte Reaktionen auf den Film und erschienen uns in keinster Weise als Versuch, sich von ihm zu distanzieren.
Dennoch war die Stimmung im anschließenden Gespräch wie erwähnt tendenziell negativ und gegen den Film – besonders gegen seine Figuren – gerichtet. Die Lehrerin der Klasse hatte uns mitgeteilt, dass die Klasse davor eine Mathematik-Klausur geschrieben hatte und daher schon erschöpft sei. Dieses Wissen nahmen wir in unsere Diskussion auf und besprachen mit den Kindern, was denn der Unterschied zwischen einer Auseinandersetzung mit Mathematik und jener mit Kunst (also in diesem Fall Film) sein könnte, wobei wir versuchten zu erarbeiten, dass es bei Ersterem tatsächlich darum geht, das richtige Ergebnis herauszubekommen, während Kunst nicht in dieser Form reduzierbar sei, es bei ihr vielleicht eher um das individuelle Nachdenken entlang des Kunstwerks und das Austauschen dieser Gedanken gehe. Vor diesem Hintergrund versuchten wir auch, die Qualitäten des offenen Endes zu besprechen und betonten die Freiheit , die ein solches dem Zuschauer lässt: Welche Hinweise gab der Film hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass die Mutter Asia noch abholt (z.B. der Brief), wann deutet der Film an, dass sie wohl nicht mehr kommt (z.B. durch den Einbruch der Abendstunden kurz vor Ende des Films).
Die sich daraus entspinnende Diskussion verband sich dann sehr stark mit dem Blick der Kinder auf das Leben von Walter, Patti und Tairo: In einer für Schulklassen so typischen Eigendynamik wurde sehr bald die Armut der Personen thematisiert, wobei es die Klasse – auch nach wiederholter Aufforderung – nicht schaffte, wertfrei über das Gesehene zu sprechen, also zuerst einmal beim Gesehenen zu bleiben. Einzelne Jungen in der Gruppe machten sich über die Lebensumstände der Personen lustig, kritisierten, dass sie Markenkleidung trugen, aber doch in einem Wohnwagen wohnten und echauffierten sich über die Tatsache, dass sich angeblich arme Personen dennoch eine große Pizza leisteten und Sekt für Asias Abschlussparty kauften. Erst nach einiger Zeit konnte diese unangenehme und wenig zielführende Diskussion beendet werden – zum einen, weil die Mädchen der Klasse diesem sehr einseitigen Blick eine weniger wertende, offenere Perspektive beifügten („Vielleicht sind die Wohnwägen ihr Paradies“), zum anderen weil von Lehrerseite aus versucht wurde, die Frage in den Raum zu stellen, wie man denn allgemein mit einem so kleinen Kind einen Film dreht. Bevor es hier aber in vertiefende Gespräche gehen konnte, war die Einheit beendet.
Der gedehnte Blick: Filmanalyse
Die hitzigen und stellenweisen recht unreflektierten Einschätzungen der ersten Diskussion von La Pivellina (auf Kosten eines Sprechens über genaue Beobachtungen) sollten im zweiten Block nicht unter den Tisch fallen. Zugleich aber war das Ziel, die Urteile über die im Film gezeigten Menschen im Sprechen über den Film zurückzustellen und erst einmal das zur Sprache zu bringen, was man gesehen hat, was einem in der filmischen Erfahrung begegnet ist. Zugleich war das Ziel, die stellenweise frustrierten Anmerkungen zur Abwesenheit einer klassischen Geschichte und zur Uneindeutigkeit des Endes erneut aufzunehmen und einzubinden.
Der Ärger der Kinder über das Fehlen einer Narration wurde zu Beginn der Einheit von Vermittlerseite nochmal aufgenommen. Die Kinder wurden zuerst einmal daran erinnert, dass sie gesagt hatten, es passiere nichts in dem Film und wurden darin bestätigt: Tatsächlich passiert nicht viel, aber es sei dennoch viel zu sehen. Um anschaulich zu machen, was damit gemeint sein könnte, wurden erneut die ersten sechs Minuten des Films gezeigt. In diesen wird erstmal nur gezeigt, wie Patti ihren Hund Herkules sucht, ihn nicht findet, dafür aber Asia, die sie nach längerem Warten mit in ihren Wohnwagen nimmt.


















Bereits während des Sichtens dieses Ausschnitts wurde sehr deutlich, dass die eigenartig feindselige Stimmung direkt nach der ersten Sichtung vielleicht eher der Erschöpfung nach der Mathematikklausur sowie der Klassendynamik geschuldet war und wenig mit dem tatsächlichen Empfinden der Kinder beim Sehen des Films zu tun hatte: Noch bevor Patti bei der Suche nach dem Hund mehrmals dessen Namen ruft, riefen ihn bereits einige Kinder. Sehr aufgeregt reagierte die Klasse, als man im Bildhintergrund bereits Asia auf der Schaukel spielen sieht, noch bevor Patti sie überhaupt bemerkt. Für Verblüffung sorgte hier vor allem, dass Asia nicht alleine war, sondern von einer nicht genauer identifizierbaren erwachsenen Person angestoßen wird.
Genau diesen Moment griffen wir direkt nach dem Sichten des Ausschnitts auf: Denn was die Kinder gerade erfahren hatten, und was sie selbst überrascht hatte, war, dass sie bestimmte Dinge beim ersten Sehen gar nicht erfasst hatten. Bevor sie wussten, dass es um Asia gehen würde, war das Kind im Hintergrund unwichtig und damit auch nicht gesehen worden. Mit dem Wissen, dass es um Asia gehen würde, sahen sie es schon viel früher. Davon ausgehend sprachen wir darüber, dass Filme zu sehen vielleicht manchmal bedeuten könnte, genau hinzusehen, auch wenn scheinbar nichts passiert. Und dass das Besondere am Kino eben ist, dass potenziell alles im Bild zu Sehende, alles im Bild Abgebildete wichtig sein könnte. Auf die Frage, was denn nun in diesen sechs Minuten zu sehen gewesen sei, kamen nun zum einen Beobachtungen zur Handlung (Patti sucht ihren Hund, Patti findet Asia, Patti wartet, ob jemand Asia abholt, Patti nimmt Asia mit zur Wohnwagensiedlung), aber auch Beobachtungen zu Bilddetails, die nicht direkt mit der Handlung in Zusammenhang stehen: Asia mit einem Erwachsenen im Bildhintergrund, die Graffitis an den Gebäuden am Rande des Spielplatzes, der Zustand des Asphalts, das ungemähte Gras auf dem Spielplatz. Diese letzte Beobachtung wurde nochmal aufgenommen und es wurde danach gefragt, warum es interessant sein könnte, über die Länge des Grases zu sprechen: Nach einigem Hin und Her und Vergleichen zu Wien, kam man darauf, dass das lange Grass vermutlich ein Hinweis darauf sei, dass wir uns in einem Stadtteil Roms befinden, der nicht schön hergerichtet wird, sondern in einem, wo Menschen wohnen, die der Stadt nicht ganz so wichtig sind: Es kommen keine Touristen in diese Gegend, es wohnen hier keine wohlhabenden Menschen, keiner hier hat eine einflussreiche Lobby hinter sich. Nach und nach wurde klar, dass das erneute Sehen zutage fördert, was man beim ersten Sehen übersieht. Und zugleich wurde deutlich, dass es im Kino vielleicht nicht darum geht, was alles hintereinander passiert, sondern oft auch einfach nur darum, was alles zu sehen ist, und was davon dem Zuschauer etwas über die Welt erzählt, in der der Film spielt.
Was hier – durch das erneute Sehen des Anfangs, wie auch die genauere Beschreibung von vier Einstellungen – geschehen war, beschreibt der Literat Wilhelm Genazino als den gedehnten Blick: „Wir sind alle trainiert im schnellen Anschauen von Bildern, weil wir anders mit der Bilderflut um uns herum nicht fertig werden können.




Wenn wir dagegen ein Bild vor unseren Augen sozusagen anhalten und es über die vorab gebilligte Zeit betrachten, kommt das zustande, was wir den gedehnten Blick nennen können. Der gedehnte Blick sieht auch dann noch, wenn es nach allgemeiner Übereinkunft, die schon längst beim nächsten und übernächsten Bild angekommen ist, nichts mehr zu sehen gibt.“ Nachdem etabliert war, dass Kino mehr ist als die Übersetzung spannender Geschichten in Bilder, zeigten wir einen der ersten Filme der Filmgeschichte – L'Arrivée d'un train à La Ciotat (F, 1895). Wir sprachen darüber, dass auch hier keine Geschichte erzählt wird, sondern dass es hier vor allem viel zu sehen gibt – von dem Bergpanorama im Bildhintergrund über den sich bewegenden Zug bis hin zum Verhalten der Leute am Bahnsteig, den Kostümen, den Frisuren oder der Tatsache, dass alle Männer Bärte tragen. Hier versuchten wir den Kindern näher zu bringen, dass das Frühe Kino gerade diese Lust am Sehen von bewegten Dingen bereitstellte und die Tendenz, Geschichten zu erzählen, erst später Teil des Kinos wurde und brachten dies in Verbindung mit La Pivellina. Auch hier ist es nicht die Geschichte, die die Erfahrung des Films auszeichnet, sondern der Reichtum an sichtbaren Dingen im Bild, der das Spezifische der Filmerfahrung auszeichnet.
Praktische Übung: Den Blick anreichern
Ausgehend von den Einsichten des ersten Teils der zweiten Einheit, gaben wir in der zweiten Hälfte die folgende Aufgabe: Die Klasse solle sich in fünf Gruppen unterteilen und jede Gruppe solle dann mit dem Handy ein dreißig-sekündiges Video drehen. Dieses sollte eine sehr einfache Geschichte oder einen sehr einfachen zeitlichen Ablauf zeigen. Der zentrale Aspekt der Aufgabenstellung war, Bilder über die narrative Funktion hinaus als ‚reiche Bilder‘ zu gestalten: als ein Bild, das uns viel über den Ort, die Atmosphäre, das Drumherum erzählt, ohne dass diese zusätzlichen Bildelemente unbedingt Teil der Narration sein müssten.
Die Klasse wurde in kleinere Gruppen von vier bis fünf Personen eingeteilt und jede Gruppe sollte ein solches Video erstellen. Im Verlauf der praktischen Übung stellte sich heraus, dass dieses Vorgehen Probleme mit sich bringt: In einer Gruppe von fünf Personen stellt sich schnell die Frage, wer Regie führt, wer vor der Kamera spielt, kurz: wie sich die verschiedenen Personen aufteilen, gemeinsam eine Lösung finden, um dann sinnvoll und zielführend miteinander zu arbeiten. In einer Gruppe erwies sich dieses Problem als unlösbar, sodass es zu einem handfesten Streit kam und die Gruppe aufgelöst werden musste. Bevor die kurzen Videos also gemeinsam gesichtet wurden, versuchten wir die aufgetauchten Streitigkeiten zu thematisieren und direkt mit dem Film als Kunstform in ein Verhältnis zu stellen. Wir riefen nochmal in Erinnerung, dass wir Film meistens hinsichtlich seiner audiovisuellen Erscheinungen – also hinsichtlich der Bilder und Töne, die wir auf der Leinwand sehen – besprechen, aber auch dass sich die Produktion eines Films von der Herstellung anderer Kunstformen unterscheidet, insoweit es eben eine Frage der Arbeitsteilung und Zusammenarbeit ist, und gerade nicht der Willen einer Person, die über alles entscheidet.
Nachdem diese Turbulenzen beigelegt waren, schauten wir gemeinsam die Videos, um sie genauer zu besprechen. Einige Beobachtungen zu diesem Gespräch werden hier entlang der Äußerungen zu diesem Video, das einige der besprochenen Aspekte in besonderer Weise in die praktische Arbeit übersetzt hat, abschließend zusammengefasst:










Besprochen wurde hier nochmal genauer, was in der langen Einstellung alles über das Umfeld der Figuren sichtbar wird: Wie der Sportplatz an den schattigen Sitzraum angrenzt, wie Licht den einen Raum durchflutet und im nächsten gebrochen wird, wie in der Tiefe des Bildes auch das Umfeld der Schule sichtbar wird.

Insgesamt wurde so deutlich, dass in den Bildern sichtbar wird, dass diese Schule (die als Drehort vorab festgelegt wurde) ein sehr freundlicher, gut gepflegter Ort ist. Um aber den Blick auf die Details zu lenken, die dort sichtbar werden, musste vorerst eine letzte Blickverschiebung angeregt werden: Und so baten wir die Kinder, diese Bilder so zu betrachten, als sei es ein Ort, den sie nicht kennen, als wären es nur die Bilder, die uns diesen Ort, der die Kinder umgibt, vorstellt. Schlussendlich war noch der Sturz des Kameramanns am Ende der kurzen Einstellung zu besprechen: Diese wurde als gestellt identifiziert, weil die Kamera trotz Sturzes noch einen Blick auf die beiden Jungs davor zeigte, also immer noch zu inszeniert wirkte. An diesem schönen narrativen Einfall ließ sich aber schlussendlich auch nochmal festhalten, dass die Art, wie die Kamera sich bewegt, auch etwas über einen Körper und sein Verhalten im sichtbaren Raum aussagt, dass in einer bestimmten Kameraführung der Blickende, also der Kameramann oder die Kamerafrau, spürbar wird.
Die hier beschriebene Sitzung, bestehend aus einem 3-stündigen Termin zur Sichtung des Films im Kino samt Nachbesprechung und einer Doppelstunde im Klassenzimmer, in der der Ausschnitt gesichtet und dann selbst etwas gedreht wurde, war mit Blick auf Fragestellungen der Filmvermittlung (wie auch allgemeinere pädagogische Problematiken) sehr aufschlussreich: Entscheidend schien die Verschiebung des Blicks der Kinder, der oft danach sucht, wie ein Bild erzählerisch zum nächsten führt, hin zu einem, der erstmal einfach nur feststellt, was schon jede Einstellung über den Ort, die Zeit, die Atmosphäre, in der sich die Hauptfiguren bewegen, zu erzählen mag. Überraschend waren im ersten Nachgespräch die tendenziell wenig empathischen Äußerungen zu den Lebensumständen der Hauptfiguren. Aufschlussreich war hier zum einen, zu sehen, wie sich schnell eine wenig produktive Klassendynamik entwickelte, aber auch, wie das dezidierte Hereinholen von Anmerkungen stillerer Schülerinnen eine andere Perspektive sichtbar machte, die vor allem das Gesehene thematisierte und die moralischen Urteile zurückstellte. Die zweite Sitzung, die ca. eine Woche später stattfand, zeigte dann, wie genau die Kinder sich den Film gemerkt hatten und wie sie beim zweiten Sehen viel mehr entdeckten und darüber selbst überrascht waren. Dies war im Grunde auch das Ziel dieser Einheit, die thematisieren sollte, wie das Spannende des Films manchmal auch nur daraus entsteht, dass er uns etwas zeigt, ohne im klassischen Sinne in jeder Einstellung die Geschichte voranzutreiben. Genauer und sorgfältiger in der Vorbereitung hätte vermutlich die Koordination der selbst zu drehenden Clips ablaufen müssen, um interne Kämpfe zu vermeiden. Das hier vorgestellte Ergebnis zeigt aber auch, wie gut die zuerst erarbeiteten Einsichten in die Qualitäten des Bildes funktioniert hatten und direkt, sogar um einen „Gag“ ergänzt, in die eigene Arbeit Eingang fanden.
Zitiervorschlag: Alejandro Bachmann: Das Mehr der Bilder – zwischen Dokument und Fiktion: Tizza Covis und Rainer Frimmels La Pivellina. In: Bettina Henzler (Hg.): Filmästhetik und Kindheit. Online-Beiträge zum gleichnamigen Forschungsprojekt, www.filmundkindheit.de/vermittlung/vermittlung-fuer-kinder/bachmann-das-mehr-der-bilder-la-pivellina/ (veröffentlicht am 16.03.2018).
Filme / Literatur
La Pivellina, R: Tizza Covi und Rainer Frimmel, Österreich/Italien 2009