Der unfreiwillige Tanz. Kinderdarsteller, körperliche Unruhe und Authentizität
Viele Erwachsene finden die Präsenz von Kindern in Filmen faszinierend – egal ob sie Amateurfilme aus ihrer eigenen Kindheit oder bewegte Bilder der eigenen Kinder sehen. Ob die gefilmten Kinder gute Darsteller sind oder nicht, spielt dabei keine große Rolle. Wenn eine Geburtstagsparty oder einfach Kinder beim Spielen im Garten gefilmt werden, sind wir uns einig, dass es sich nicht um Schauspiel handelt. Je nach Kontext wird daher nicht erwartet, dass ein Kind gut »spielt« oder etwas darstellt, sondern es darf einfach »sein«. Sein Erscheinen auf der Leinwand oder dem Bildschirm genügt, um zu bezaubern und zu überzeugen. Zugleich werden viele Erwachsene schon einmal mit nicht enden wollenden Clips und Filmen von Schulaufführungen anderer Kinder konfrontiert gewesen sein; man gibt sich beeindruckt, während man angesichts des »Bühnengebarens« der Kinder innerlich schaudert. Solche Darbietungen fühlen sich eindeutig »schlecht« an. Daher möchte ich mich in diesem Artikel damit beschäftigen, worin das kindliche Schauspiel besteht (wann ist das Kind Darsteller und wann nicht) und wie über den Wert dieser Darstellung geurteilt wird: Was macht sie zum guten (fesselnden, überzeugenden, authentischen oder charmanten), was zum schlechten (linkischen, hölzernen, altklugen, möglicherweise gänzlich leblosen) Spiel?
Dieser Beitrag erschien 2017 in dem Sammelband "Kino und Kindheit".
Was macht eine Darstellung aus?
Bezugnehmend auf Herbert Blau möchte ich mit dem Hinweis beginnen, dass es nicht (einfach) das Einfangen eines fühlenden Körpers mit der Kamera ist, das uns eine Darstellung als Darstellung erkennen lässt. Das Publikum versteht die Darstellung vielmehr als eine offenkundig bewusste Aneinanderreihung affektiver Gebärden und glaubt dementsprechend, dass sich der Darsteller während der Filmaufnahmen der Darstellung bewusst war. Eine Darstellung ist daher als solche anerkannt, wenn die Zuschauer*innen glauben, dass der Schauspieler seine Bewegungen, Posen und Artikulation intendiert. Diese Anerkennung einer bewussten Absicht des Schauspielers betont Blau interessanterweise mit Verweis auf den Säugling als einem Wesen, das kein (Selbst-)Bewusstsein besitzt und daher auch nicht (wirklich) darstellen kann: »Auf das Denken, das heißt, die Bewusstheit der Darstellung, kommt es an. Ein Baby stellt vielleicht etwas dar, ohne sich dessen bewusst zu sein – es mag zumindest den Anschein erwecken […], aber was würden wir über die [Kunst der] Darstellung wissen, wenn die Welt voller Babys wäre?«1
Tatsächlich tauchen Säuglinge und Kleinkinder ja häufig in Spielfilmen auf, in denen sie sich des Spiels vielleicht nicht bewusst sind; man lässt sie jedoch so erscheinen, als ob sie es seien. In vielen solchen Filmen werden Kinder als nicht handelnde Körper für die Erzählungen erwachsener Menschen benutzt. Die eigentliche Individualität des Kindes ist für das Filmgeschehen unwichtig. Zum Teil kann dies an gesetzlichen Beschränkungen liegen, was eine bezahlte Tätigkeit von Kindern angeht, sowie an der angenommenen Unzuverlässigkeit des Kindes als Darsteller. Es gibt viele Beispiele in Film, Fernsehen und Theater, in denen Kinderfiguren aus diesem Grund von verschiedenen Personen gespielt werden, manchmal von Zwillingsschauspielern.2 Häufig geschieht dies, wenn eine der erwachsenen Hauptfiguren im Film ein kleines Kind hat. Die Rolle des Kindes entspricht hier eher der einer Zweitbesetzung oder eines Doubles, da es seine physische Präsenz (etwa sein kleiner Körper) ist, die benötigt wird, nicht seine schauspielerischen Fähigkeiten. Daneben gibt es aber natürlich zahlreiche Filme, in denen das Kleinkind im Zentrum der Handlung steht, insbesondere in Familienfilmen. Doch selbst wenn es in diesen Filmen augenscheinlich um Babys oder Kleinkinder geht – bekannt sind die Filme oft für die Erwachsenen, die darin mitspielen. Hierzu gehören Schauspieler wie John Travolta in Look who’s talking (Kuck mal, wer da spricht!; 1989; R: Amy Heckerling), Eddie Murphy in DADDY DAYCARE (Der Kindergarten Daddy; 2003; R: Steve Carr) und Steve Martin in CHEAPER BY THE DOZEN (Im Dutzend billiger; 2003; Shawn Levy). In diesen Filmen sind die Kinder tatsächlich »lebende Requisiten«, und in manchen Filmen werden sie als »Requisiten« gnadenlos synchronisiert, digitalisiert oder gar durch wirkliche »Dummys« oder Schaufensterpuppen ersetzt.
Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für dieses Phänomen stellt der Film BABY GENIUSES (Die Windel-Gang; 1999; R: Bob Clark) dar. Dieser Film geht von der Vorstellung aus, dass Babys, bevor sie zu sprechen beginnen, Genies seien, und so kommunizieren sie im Film telepathisch oder über eine Reihe von Lauten und Gebärden, die für Erwachsene sinnfrei sind. Damit dies überzeugend wirkt, wird der Kinderdarsteller ersetzt oder »überschrieben«. Das bedeutet, dass der junge Kinderdarsteller in vielen Sequenzen ganz offensichtlich gegen eine lebensgroße Kunststoffpuppe ausgetauscht wird, zum Beispiel in einigen Tricksequenzen, in denen der Einsatz eines lebenden Kinderdarstellers gefährlich werden könnte. Viele Filmszenen beruhen außerdem auf der Manipulation von Körper, Mund und Gesichtsausdrücken des Kinderdarstellers mittels digitaler Bildbearbeitung, sodass das Kind im Film spricht, sich ankleidet und tanzt, wie es für ein echtes Baby nicht möglich wäre. Bekannt sind solche Techniken auch aus dem Familienfilmgenre des Tierfilms. Hierzu gehören erfolgreiche Franchises, die von Pilotfilmen wie CATS AND DOGS (2001; R: Lawrence Guterman) oder G-FORCE (2009; R: Hoyt Yeatman; hier treten Meerschweinchen als Agenten auf) initiiert wurden. In diesen Filmen werden lebende Tiere mit einer Reihe von Trickeffekten zu Kunststücken und zum Sprechen animiert.
Die manipulierte und unterdrückte Darstellung der echten Kinder in BABY GENIUSES ist notwendig, denn Babys können nicht sprechen. Die Babys und Kleinkinder im Film spielen nicht, sondern werden zum Spielen gebracht beziehungsweise es wird mit ihnen gespielt. Bei der Nacharbeitung werden sie »fixiert«. Um auf Blau zurückzukommen: BABY GENIUSES zeigt, dass der Anschein von schauspielerischer Darstellung mithilfe verschiedener Techniken und ohne Absicht der lebenden Darsteller hergestellt werden kann. Der Film war überraschend erfolgreich und erhielt eine Fortsetzung, doch viele Zuschauer*innen empfanden die Manipulation der Körper und der Handlungen der Babys als unheimlich oder gar verstörend. Die Zuschauerschaft mag vielleicht die Wunder der innovativen Digitaltechnik (Wie haben sie das gemacht?) und den offenkundigen Witz der Handlungen und unmöglichen Äußerungen der Kinder würdigen. Diese Wertschätzung kann aber leicht kippen. Denn das Unbehagen, welches das Filmpublikum angesichts der offenkundigen Manipulation des kindlichen Körpers und des Ausnutzens oder Aufbrechens der vielgepriesenen Unschuld des Säuglings (eine Unschuld, die in direkter Verbindung zu seiner Stummheit und Verletzlichkeit steht) spürt, fällt stärker ins Gewicht. Das erste Problem bei der Bewertung der Darstellerleistung ist daher, dass kleine Kinder und Tiere häufig von ihren Betreuern oder Trainern vor die Kamera gestellt werden, ohne dass ihnen bewusst wäre, dass ihre Bewegungen und Gebärden für die Vorführung vor einem größeren Publikum aufgezeichnet werden. So kann man davon ausgehen, dass viele Kinderdarsteller deshalb nicht sehr überzeugend sind, weil ihnen der Sinn für eine bewusste Darstellung fehlt. Tatsächlich sind Kinderdarsteller in dem Fall »ganz Körper« – lebende Requisiten, die aufgrund finanzieller Beschränkungen oder durch technische Effekte manipuliert und überschrieben werden.
Was macht eine (gute) Darstellung aus?
Bewusstsein allein reicht jedoch nicht aus, um eine gute Darstellung zu gewährleisten. Wäre es so, wären alle erwachsenen Schauspieler*innen gute Schauspieler*innen. Soll das Dargestellte erfolgreich kommuniziert werden, muss der oder die Schauspieler*in fähig sein, verschiedene expressive Handlungen und Bewegungen zu reflektieren und auf diese zurückzugreifen, um sie durch den und mit dem eigenen Körper nachzustellen. Der/die Darsteller*in muss es verstehen, Gefühle und Sehnsüchte, die unsichtbar sind (da sie aus dem Körperinneren stammen und in der Vorstellung vielleicht im Gehirn, im Herzen oder im Bauch verortet sind), äußerlich, auf der Körperoberfläche, erkennbar zu machen, und zwar durch körperliches Zeigen oder Nachstellen eines allgemeingültigen Repertoires an Handlungen und Verhaltensweisen, die als Spiegelung dieses Innenlebens erkannt und verstanden werden. Die Darsteller*innen müssen „innere Seelenzustände“ ans Licht bringen und durch Körperaktion und -ausdruck visualisieren. Laut dem Performance-Wissenschaftler Richard Schechner vollziehen sie dazu eine Art Verwandlung, in deren Verlauf sie sich selbst wiedererkennen und zugleich von sich loslösen. Schechners Beschreibung dieses Prozesses liegt der bekannte Begriff des »Übergangsobjekts« des Kinderanalytikers Donald W. Winnicott zugrunde: ein Spielzeug, eine Decke oder ein anderes Objekt, mit dem der Säugling sich abzulösen und von der äußeren Welt zu unterscheiden beginnt. Schechner formuliert es so: »Eine der prägnantesten Formulierungen Winnicotts ist die Beschreibung des Babys, das sofort und später als Kind, im Spiel und noch später als Erwachsener in der Kunst (und der Religion) gewisse Dinge und Situationen als ›Nicht-Ich‹ und andere als ›nicht Nicht-Ich‹ identifiziert. In Workshops und Proben spielen die Darsteller mit Worten, Dingen und Handlungen, von denen manche ›Ich‹ und manche ›Nicht-Ich‹ sind. Am Ende dieses Prozesses geht ›der Tanz in den Körper über‹. So ist Olivier nicht Hamlet, aber er ist auch nicht Nicht-Hamlet. Die Umkehrung dessen ist genauso richtig: In dieser Inszenierung des Stücks ist Hamlet nicht Olivier, aber er ist auch nicht Nicht-Olivier.«3
So ist der Schauspieler stets präsent, jedoch steht er »neben sich«, während er jemand Anderen (»nicht Nicht-Ich«) darstellt. Die Wirklichkeit des Darstellers, also der realen Person und ihres Körpers, vermittelt die Fiktion der Figur, ordnet sich dieser aber nicht unter. Demnach hängt die Darstellung nicht nur von der Absicht ab, sondern auch von der Anerkennung einer inneren Subjektivität, die der oder die Schauspieler*in als eine Ressource heranziehen kann. Eine gelungene Darstellung, eine die etwas bedeutet, bedarf einer gelungenen Interpretation und der Manifestation von Handlung, Gestik und Mimik auf der Körperoberfläche des Schauspielers, oder anders ausgedrückt: Sie bedarf der äußerlichen Visualisierung eines imaginären inneren Zustands.
Die offenbare Absicht, (Selbst-)Bewusstheit und Stimmigkeit der inneren Subjektivität der Schauspielerin bzw. des Schauspielers sind jedoch immer noch kein Garant für eine Darstellung, die von der Zuschauerschaft als »gut« angesehen oder verstanden wird. Manche Schauspieler*innen üben offensichtlich einen gleichbleibend stärkeren Reiz aus als andere, sie besitzen Charme und »Präsenz«, sie werden als fesselnd und überzeugend beschrieben oder als besonders »sehenswert« erachtet. Auf diese Qualitäten nimmt Schechner implizit Bezug, wenn er sagt, der Tanz gehe in den körperlichen Prozess über. Mit diesem Satz versucht er, dieses gewisse Etwas der Darstellung auszudrücken, das es dem Publikum erlaubt, zu erkennen und leicht nachzuempfinden, was die Figur ganz offenbar fühlt. Darüber hinaus lässt sich die These aufstellen, dass dieses Einfühlungsvermögen beim Publikum oft mit einem Gefühl der Euphorie einhergeht, das heißt es wirkt erhebend auf das Publikum, das sich so auf die Handlungen eines Anderen (der Schauspieler*innen oder der Figur) einlassen kann. Wenn der Tanz in den Körper übergeht, spürt das Publikum, dass die Schauspieler*innen nicht nur ihr Handwerk gelernt haben, sondern auch »der Tanz« von ihnen Besitz ergriffen hat. Man könnte dies die gelungene Manifestation einer »emotionalen Kinästhesie« nennen, bei der es den Darsteller*innen gelingt, Handlungen und Ausdrucksbewegungen einer Figur zusammenzuführen und mit dem Wissen, den Erwartungen und den (mentalen und physischen) Erinnerungen des Publikums daran, wie sich bestimmte Situationen anfühlen, in Einklang zu bringen. Passiert dies nicht, erzeugt dieser »besitzergreifende Tanz« also eher das Bewusstsein, dass die Darstellung (äußerlich) manipuliert wird oder auf andere Weise unnatürlich ist – beispielsweise wenn sie nicht zu vorgefassten Vorstellungen davon passt, was Kinder bereits können oder nicht –, empfindet das Publikum Unbehagen. Dieses Unbehagen angesichts der mangelnden Authentizität oder gar einer möglichen Ausbeutung des Kindes führt dazu, dass die Darstellungsleistung der Schauspieler*innen als schlecht empfunden wird.
Die schlechte Kinder-Darstellung
Trotz seines kommerziellen Erfolgs – oder gerade deswegen – wurde der Kinderdarsteller Macaulay Culkin häufig für seine »hölzerne« Darstellung in seinen beiden ersten Filmen unter Regie von Chris Columbus HOME ALONE (Kevin – Allein zu Haus; 1990) und HOME ALONE 2: LOST IN NEW YORK (Kevin – Allein in New York; 1992) und seinen späteren Filmen kritisiert. Dieses »Hölzerne« tritt am stärksten vielleicht in einigen Sequenzen in diesen frühen Filmen zutage, in denen Culkin für die Kamera »Grimassen zieht«. Ein Beispiel hierfür ist der bekannte Ausdruck, bei dem Culkin, die Hände links und rechts auf das Gesicht gelegt, den Mund weit öffnet und seine Wangen nach unten zieht, um einen »Schrei«-Effekt zu erzielen.4 »Grimasse« heißt in diesem Kontext tatsächlich, das Gesicht zu einem extremen Ausdruck zu verziehen und diesen für eine kurze Weile zu halten. Der Effekt ist eine Betonung der bloßen Körperlichkeit und nicht der lebensnahe Verweis auf ein Innenleben oder eine emotionale Tiefe; der Schauspieler scheint seinen eigenen Körper zu manipulieren. Dies führt dazu, dass das Publikum keine Verwandlung (des Innenlebens zu äußerer, körperlicher Form) erlebt, sondern eher eine überzogene Mimikry äußerlicher Verhaltensweisen, ohne dass das Gefühl entsteht, Culkin ziehe dabei eine irgendwie geartete, innere, emotionale Komplexität heran. Es entsteht der Eindruck, dass er als Schauspieler eher mechanische Bewegungsabläufe darstellt, als Emotionen zum Ausdruck bringt.
Culkins gestelztes Verhalten und seine starren Ausdrucksbewegungen, wenn er sich in den komplizierten Slapstick-Sequenzen, die die Handlung der Kevin-Filme verlangt, von einer Standardsituation zur nächsten bewegt, vermitteln dem Publikum das Gefühl, er sei eine Marionette, die an Fäden »gezogen« wird. Ich möchte allerdings die Auffassung vertreten, dass die Manieriertheit von Culkins Schauspiel selbst in den Szenen festzustellen ist, die ganz eindeutig die mitfühlende Sympathie der Zuschauerschaft hervorrufen sollen, zum Beispiel in der Szene mit Old Man Marley (Roberts Blossom) in der Kirche. Culkins ausdrucksloses Gesicht und monotone Sprechweise verraten keine Verzweiflung, sondern eher Desinteresse, und verstärken die »ausgehöhlten«, holzschnittartigen Züge seiner Darstellung im übrigen Film. Betont wird dies noch durch die Art und Weise, wie die Unterhaltung zwischen den beiden Figuren inszeniert wird. Die Schauspieler werden zunächst nebeneinander gezeigt, primär durch Montage einer Serie von Großaufnahmen, wodurch sich jedes Gefühl einer emotionalen Verbindung zwischen den Figuren auflöst. Blossom, ein geschätzter Charakterdarsteller, liefert eine warme und denkwürdige Darstellung, was Culkins schwache Leistung und sein offensichtlich fehlendes Innenleben noch betont. Trotz einiger, schlechter Kritiken galt Culkins Darstellungsleistung in den beiden ersten Kevin-Filmen allgemein als erfolgreich (für HOME ALONE 2 war er sogar für den Golden Globe nominiert). Dies mag jedoch daran liegen, dass sein Schauspiel in den Kontext dieser speziellen Filme passte, in denen alle Darsteller*innen aufgrund des zunehmend gewaltsamen Slapsticks der Komödie gezwungenermaßen mechanisiert wurden. Fast alle Figuren darin sind kaum mehr als »flache« Karikaturen. Die Reproduktion dieser Darstellungsweise in Culkins späteren Filmen, die sicherlich eine natürlichere Gestik und überzeugendere Porträtierung innerer Komplexität erforderten, war zum Scheitern verurteilt – was auch die Nominierung für mehrere „Goldene Himbeeren“ für den schlechtesten Schauspieler in Filmen wie GETTING EVEN WITH DAD (Allein mit Dad & Co; 1994; R:Howard Deutch) und RI¢HIE RI¢H (Richie Rich; 1994; R: Donald Petrie) zu beweisen scheint.
Ein weiterer Kinderdarsteller, der ausgiebig studiert und kritisiert wurde, war der neunjährige Jake Lloyd in der weitgehend vorhersehbaren Rolle des Anakin Skywalker in STAR WARS: EPISODE I – THE PHANTOM MENACE (Star Wars: Episode I – Die dunkle Bedrohung; 1999; R: George Lucas), dem ersten »Prequel« zur Star Wars-Trilogie. Während der Film insgesamt vernichtende Kritiken bekam, war Lloyds Darstellerleistung lange ein Thema in Online-Debatten einschließlich einiger von Fans erstellten Youtube-Montagen seines »schlechten« Schauspiels im Film.5 Kommentare, die eigentlich darauf abheben, was er schlecht macht, vertreten einhellig die Ansicht, dass er ausdruckslos (hölzern) ist und sein Auftreten bisweilen auf unpassende Art manipuliert erscheint, sodass das Kindliche nicht authentisch wirkt, auch wenn er spielt, »als ob« er ein Kind wäre. Es gibt beispielsweise zu seiner Ausdrucksweise, wenn er beim Podrennen »Yippie!« ruft, mehrere Kommentare, die auf seine flache Vortragsweise und die Verwendung des Wortes eingehen und nahelegen, dass das Wort durch das Drehbuch des Regisseurs als ein eher anachronistischer oder antiquierter Ausdruck kindlicher Freude vorgegeben war und nicht vom Kinderdarsteller selbst improvisiert wurde. Die wenigen Verfechter von Lloyds Darstellerkunst berufen sich häufig auf die Tatsache, dass er doch »nur ein Kind« sei, und richten ihren Unmut eher gegen Lucas als »schlechten« Regisseur. Auch Kommentare, die andere, als gut erachtete Kinderdarsteller erwähnen (unter anderen Dakota Fanning und Abigail Breslin),6 schreiben die Grenzen der schauspielerischen Leistung Lloyds der Unfähigkeit des Regisseurs Lucas zu. Zusätzlich zu den Schwierigkeiten, die angeblich durch Lucas’ Unfähigkeit entstanden, überzeugende Dialoge zu schreiben, wird Lloyd auch häufig an Greenscreen-Aufnahmen beteiligt gewesen sein, bei denen der Hintergrund oder auch virtuelle Schauspieler*innen in der Nachproduktion hinzugefügt wurden. In BABY GENIUSES konnte die befangene Darstellungsleistung des Kindes in der Nachproduktion (bis zu einem gewissen Grad) so nachbearbeitet werden, dass eine passende Komik entstand. In Star Wars: Episode I ließ sich das reale Kind nicht auf diese Weise fixieren. Während der Kinderdarsteller Lloyd vermutlich in den Film hineingenommen wurde, um eine organische Lebendigkeit in die weitgehend maschinell erstellte und fantastische Umgebung des Star Wars-Universums hineinzubringen, spiegelt Lloyds darstellerische Leistung tatsächlich die Künstlichkeit dieser Welt, die seine Figur bewohnt. In vielen seiner Szenen wirken seine Handlungen mechanisch, und während er, was die Glaubhaftigkeit seiner Rede angeht, den Ton zu treffen scheint, bleibt er mit seinen oft seitlich herabhängenden Armen seltsam unbewegt. So gesehen, stellt er mechanische Bewegungsabläufe in einer Welt der Bewegungserfassung dar, und letztlich wird dabei in keiner Weise die Unordnung oder Lebendigkeit vermittelt, die von einem »echten Kind« zu erwarten wäre. Um es noch einmal zu betonen: Einer Umwelt unterworfen, die er nicht kontrollieren kann, wird der Kinderdarsteller zum »bloßen Körper«, zum lebenden Requisit, ausgesaugt und überschrieben von den Vorstellungen Erwachsener über die Kindheit und die angemessene Artikulation oder Darstellung von Kindlichkeit.
Die gute Kinder-Darstellung
Nachdem herausgestellt wurde, was eine »schlechte« darstellerische Leistung eines Kindes ausmacht, geht es nun um die »gute« Darstellung. Unter den vielen Kinderdarstellern möchte ich Victoire Thivisol in PONETTE (1996; R: Jacques Doillon) in den Blick nehmen. Der Film erzählt vom Trauerprozess des jungen Mädchens Ponette (gespielt von Thivisol), das die Mutter bei einem Autounfall, der vor Einsetzen des Films geschah, verloren hat. Thivisols Darstellung beinhaltet komplexe Gefühlslagen wie Widerstand, Zögern, Angst, Weinen, Lachen und die Zurschaustellung authentischer Kindlichkeit, die alle gleichermaßen überzeugend und einnehmend sind. Thivisol, die bei den Filmaufnahmen vier Jahre alt war, wurde und ist bis heute die jüngste Darstellerin, die jeden Coppa Volpi als beste Schauspielerin gewann. Er wurde ihr 1996 bei den Filmfestspielen von Venedig verliehen.
Eine relativ frühe Sequenz im Film zeigt den Moment, in dem Ponette von ihrem Vater (Xavier Beauvois) gezwungen wird, sich den Tod der Mutter einzugestehen. Der Vater und Ponette sind aus seinem Auto ausgestiegen und besprechen die Tatsache, dass die Mutter nie wieder zurückkehren wird und der Vater die Tochter nun allein aufziehen muss. In dieser langen Einstellung schaut Thivisol häufig nach unten und entzieht sich dem Blick ihres Vaters, bewegt sich unruhig vor und zurück und klettert wiederholt die Motorhaube und Windschutzscheibe hinauf, als versuche sie, den überwältigenden Gefühlen zu entfliehen. Während der gesamten Szene ringt sie mit sich und windet sich, sie hat Tränen in den Augen, und ihre Brust hebt sich, während man hört, wie sie nach Luft ringt. Thivisol gelingt ein komplexer Ausdruck ihrer Gefühle, sie schmollt, wimmert und weint und bewegt sich dabei zugleich mit der Unruhe, die man mit kleinen Kindern gemeinhin verbindet. Anders ausgedrückt: Sie „zappelt“ herum, während sie mit den Tränen kämpft. Solch eine körperliche Unruhe (englisch »fidgeting«)7 wird oft als störend empfunden, als etwas, das wir Kindern abgewöhnen möchten (zumeist, weil es uns ablenkt oder weil wir fürchten, dass etwas kaputtgeht). Im Film dient es dazu, die »Kindlichkeit« der von Thivisol gespielten Ponette glaubwürdig darzustellen – obwohl wir sie eigentlich eine sehr (unkindliche) überzeugende, lebensnahe Darstellung von Trauer darbieten sehen.
Die beschriebene kindliche Körperaktivität umfasst ein besonders interessantes Repertoire an Gebärden und Verhaltensweisen, die laut Karen Chase im »unsicheren Grenzbereich zwischen willentlicher und unfreiwilliger Handlung angesiedelt sind«,8 und spiegelt genau wider, was Chase später »das philosophische Rätsel des ›Zappelns‹ (das Rätsel aus Absicht und Automatismus)«9 nennt. In diesem Zusammenhang möchte ich das kindliche Unruhe als eine erkennbare Annäherung an die Welt verstehen. Seine Funktion liegt nicht allein in der Zerstreuung oder Ablenkung, sondern in einem Repertoire an Bewegungen – einem unfreiwilligen Tanz –, eng angelehnt an das, was wir von Kindern wissen und was uns an ihnen am meisten interessiert, wütend macht, berührt und »kindisch« vorkommt. Steven Connor beschreibt in seinem Essay A Philosophy of Fidgets seine Begegnung mit einem Baby im Wartebereich des Dubliner Flughafens. Hingerissen schaut er dem unruhigen Fummeln des Kindes zu: »Das Baby war vollkommen ins Spiel vertieft, es zog den Riemen an der Handtasche seiner Mutter stramm und löste ihn wieder, indem es die Schnalle daran hoch- und runterfahren ließ. Dann streckte die Mutter ihm beiläufig die Hand entgegen und bot ihm ein Stück Muffin an. Das Baby schaute vom Muffin zur Handtasche, als ob es gerade abwäge, ob der Muffin für seine Erkundungen beim Hin- und Herschieben (›Stoßmich-Ziehdich‹) irgendwie nützlich sein könne. […] Das Baby war gleichzeitig konzentriert und selbstvergessen, tief in dieser Welt und zur selben Zeit völlig außerhalb. Ich glaubte etwas Erstaunliches beobachtet zu haben: ein Wesen, das durch seine Fähigkeit, sich selbst in der stillen Begeisterung des Spiels völlig zu vergessen, im Werden begriffen ist.«10
Dieses Nachdenken über die unruhige Körperaktivität von Kindern brachte mich dazu, genauer zu untersuchen, warum die oben beschriebene Szene aus PONETTE so wirkungsvoll ist. Thivisol als Ponette »zappelt«, das heißt sie bewegt sich unruhig umher, während sie trauert, ein eigenartiger Mix aus Verhaltensweisen, der berührt und von Connor als »konzentrierter und selbstvergessener« Ausdruck des körperlich aktiven Kindes beschrieben wird. Ich werde auf diesen »Wechselgesang« aus Versessenheit und Isolation später zurückkommen, zunächst aber möchte ich umreißen, was diese Rastlosigkeit als Aspekt der filmischen Darstellung umfasst.
Die körperliche Unruhe äußert sich im sprachlichen Ausdruck (dem Sprechtempo, dem Klang der Stimme, der Wort- und Lautwahl) und in der somatischen Artikulation (den Körperbewegungen) der Darstellerin. Bei Thivisols Darstellung in der oben erwähnten Sequenz manifestiert sie sich im stimmlichen Ausdruck, der gekennzeichnet ist von ihrem Atmen (ungleichmäßiges, schweres Keuchen, mit dem sie die Tränen zurückhält, Prusten, wenn sie am Auto vorbei auf den Boden spuckt), ihrer abgehackten und repetitiven Sprechweise (Stammeln und Stottern) und ihrem Gebrauch vielsagender Laute (Auspusten, expressive »Hms«, während sie sich die Motorhaube hinauf- und hinunterbewegt, oder das Wimmern, das ihr beim Versuch, zu sprechen, entfährt). Somatisch gesehen, nutzt sie erstens ihren Körper, um den Raum zu besetzen, indem sie sich windet, das Auto hinauf- und hinunterklettert und sich zum Spucken flach auf den Bauch legt, und zweitens verstärkt sie durch Konzentration oder Fokussierung die leiseste Gestik und Mimik, wie das Stirnrunzeln, die geschürzten Lippen, das langsame Blinzeln. Ihre Körperlichkeit, das Runde und Feste ihres kleinen Körpers, tritt dabei durch ihre offenbar unbewusste Selbstvergessenheit in den Vordergrund – die Art, wie sie auf dem Auto die Windschutzscheibe hinunterrutscht, ließe sich in einem anderen Kontext als spielerisch ansehen.
So betrachtet, bietet der unruhige Bewegungsdrang als Form der Darstellung ein erkennbares Repertoire ostentativer Gesten, Gesichtsausdrücke und Bewegungen, das die Zuschauer*innen in dem Glauben, Kinder »seien so«, mit einem »authentischen« Kind verbinden. Darüber hinaus wird hierbei etwas ausagiert, was häufig als das besonders Ansprechende und Interessante an der Präsenz eines Kindes verstanden wird – das Gefühl, das Kind sei im Werden begriffen, das Erstaunliche am Spiel des Kleinkinds, von dem sich Connor dermaßen angesprochen fühlte. Aber mehr noch wirkt die Zappelei, das unruhige Hin- und Herbewegen, fesselnd, weil es einen Raum zwischen »Sein« und »Darstellen« besetzt, wie Chase es ausdrückt: »Gerade weil diese Unruhe ein Verbindungsglied zwischen Absicht und Reflex darstellt, lädt sie zu einer Aussage ein; mit ihr läuft die innere Bedeutung über und überflutet die körperliche Selbstbeherrschung.«11
Wenn die »gute« Darstellung auf dem Glauben des Publikums basiert, dass sich der/die Darsteller*in in einem Verwandlungsprozess befindet, er/sie sozusagen in der Lücke zwischen »Nicht-Ich« und »nicht Nicht-Ich« tanzt, dann ließe sich diese (körperliche) Unruhe als eine hinreichend zugängliche und kindgerechte Strategie für den Kinderdarsteller begreifen, eine überzeugende und scheinbar authentische Darstellung zu bieten. Denn das Kind reproduziert damit ein authentisches, kindliches Verhalten und hält das Rätsel um Intention oder Automatismus offen.
Interessanterweise wurde die Überzeugungskraft der Unruhe und körperlichen Aktivität als Darstellungstechnik auch bei der Arbeit eines höchst erfolgreichen erwachsenen Schauspielers als mitwirkendes Element identifiziert, und gerade durch die kindliche Qualität, die die Darstellung dabei annahm, wurde sie als ansprechend oder gar verführerisch empfunden. Die Darstellung Terrys in ON THE WATERFRONT (Die Faust im Nacken; 1954; R: Elia Kazan) durch Marlon Brando schildert James Naremore wie folgt: »Seine zurückhaltenden, aber schlauen Bemerkungen, sein wiegender Gang, der abwesende Blick beim Kaugummikauen, wie er es sich auf einem Stapel Jutesäcken bequem macht und eine Mädchenzeitschrift durchblättert – all dies verleiht ihm etwas Kindliches und stellt einen attraktiven Gegenpol zu den stereotypen und förmlichen ›Erwachsenen‹ in seiner Umgebung dar.«12
Brandos Schauspiel in diesem und anderen Filmen wird des Öfteren als Inbegriff des »Method Acting« beschrieben, was umstritten ist, denn Brandos Verhältnis zu dieser Lehrmethode war laut Naremore nie so eng wie gemeinhin angenommen. Unabhängig davon, ob sie ein Ergebnis der »Method«-Technik sind, möchte ich dennoch herausstellen, dass das, was Brando tut – ob vorsätzlich oder nicht – typisch für die kindliche körperliche Unruhe ist. Dies gilt unabhängig davon, ob die Figur, die er spielt, in irgendeiner Weise »kindlich« ist. Nehmen wir als Beispiel eine der ersten Sequenzen in THE GODFATHER (Der Pate; 1972; R: Francis Ford Coppola), in dem Brando einen erwachsenen Gangster spielt, den Titelhelden, den Don einer italienischen Mafia-Familie. Während Make-up und modellierte Maskenteile Brando älter erscheinen lassen (er war bei den Dreharbeiten erst 48 Jahre alt), ähnelt sein Verhalten in mancher Hinsicht doch dem eines „Zappelphilipps“. In der genannten Szene sitzt Brando als Don Corleone am Tag der Hochzeit seines ältesten Sohnes in seinem Arbeitszimmer. Im Verlauf der Szene kommt ein Bestatter (Salvatore Corsitto) auf ihn zu, der Vergeltung für die Gewalt sucht, die seiner Tochter angetan wurde: Er hofft, dass Corleone für die gewaltige Rache sorgen wird, die er selbst nicht zu üben vermag. Während ihres Gesprächs steht der Bestatter und Corleone sitzt hinter einem massiven Schreibtisch aus Holz. Jedoch spielt Brando während des Dialogs die meiste Zeit mit einer Katze, streichelt sie und schmust mit ihr. Er erklärt und verhandelt mit dem Bestatter, dass er den Auftrag erledigt, der Bestatter dafür aber in seiner Schuld stehen wird, und dabei sind seine Hände unablässig mit »etwas anderem« beschäftigt. Erwachsene Schauspieler*innen nennen die Darstellung von Aktionen, die keine direkte Bedeutung für die Szene haben, »Beschäftigung«. Bei Brando ließe sich diese körperliche Beschäftigung, das Beschäftigtsein, auch als fidgeting bezeichnen.
In diesem Beispiel legt Brandos unablässige Bewegung nicht nahe, dass er wie ein Kind ist. Vielleicht ist sein Bewegungsdrang eine subtile Beleidigung des Bestatters, der, wie sich herausstellt, die Annäherungsversuche der Familie Corleones zuvor brüsk zurückgewiesen hatte. Brandos (bzw. Corleones) Versunkenheit in "etwas anderes", während er zugleich einen bitteren Vergeltungsschlag aushandelt und die künftige Loyalität des Bestatters sicherstellt, impliziert auch, dass er Autorität besitzt und seine Machtposition sehr entspannt ausübt – und dass die Figur ein komplexes Innenleben hat. Ich würde dennoch behaupten, dass diese Art der körperlichen Aktivität den Rest Kind im Erwachsenen zeigt oder daran erinnert. Es ist bekannt, dass die körperliche Unruhe eines erwachsenen Menschen oft ein leises Echo seines Verhaltens als Kind ist. Die vertrautesten körperlichen Verhaltensweisen des Kindes, zum Beispiel ein Kuscheltier zu knuddeln, an Fingern oder Daumen zu lutschen, an den Haaren zu zupfen oder zu drehen, sind für viele eine eindrückliche somatische Erinnerung. Die Macht der unruhigen Körperaktivität hängt eng zusammen mit deren Verbindung zu dem von Winnicott definierten Übergangsobjekt. Dieses Objekt lieferte Schechner eine Erklärung für den Umgang mit dem »Nicht-Ich« und »nicht Nicht-Ich«, den eine erfolgreiche Darstellung verlangt. Die Unwiderstehlichkeit von Brandos Darbietungen ist möglicherweise nicht so weit von der Angst, Freude und Anteilnahme entfernt, mit der man einem zappeligen Kind zuschaut. »Ohne Kommunikationsabsicht und inneren Reiz an sich, fasziniert die unruhige Aktivität [the fidget] und zieht automatisch die Aufmerksamkeit auf sich«,13 so Chase. Das Zappeln porträtiert für die Zuschauerschaft, was Connor das »Hin- und Herschieben« (»Stoßmich-Ziehdich«) der Subjektivität nennt. Es artikuliert vielleicht eine Art »Tanz«, der potentiell freiwillig (beabsichtigt) und unfreiwillig (automatisch) abläuft und bei dem die Darsteller*innen (wie durch ein Übergangsobjekt im Sinne von Winnicott) die Verwandlung aushandeln, sodass sie zugleich »Nicht-Ich« und »nicht Nicht-Ich« sind.
Seine Gebärden dienen Brando also dazu, zu faszinieren, ihn zum Objekt unserer Aufmerksamkeit zu machen, so wie der Anblick eines »zappeligen« Kindes eine Faszination auf den müßigen, kontemplativen Akademiker ausüben kann. Die Faszination oder Aufmerksamkeit der Zuschauerschaft wird allerdings ebenso geweckt, wenn das körperlich aktive Kind uns stört, während jemand anders, etwa ein Erwachsener, redet. In diesem Sinne strahlt Brando durch seine unablässigen, beiläufigen Bewegungen eine Präsenz aus, die Stanislawski den »privaten Moment« nannte – einen Augenblick des Bei-sich-Seins, in dem sich die Zuschauer*innen dem Darsteller besonders nahe fühlen, der ihnen scheinbar eine spezielle Intimität gewährt und damit eine Art zwanghaften Voyeurismus hervorruft.
Da seine Aktivität Energie verlangt und von leichter Anmut – dieser für Brando so typischen geschmeidigen Ungezwungenheit – gekennzeichnet ist, verleiht die körperliche Aktivität ihm einen gewissen Charme oder lässt ihn, anders ausgedrückt, sehr lebendig erscheinen. Diese Vitalität ist das, was man üblicherweise bei Kindern erwartet oder beobachtet. Wir glauben nicht etwa, dass sich Brando der Tatsache, dass er spielt, nicht bewusst ist, wir reagieren vielmehr auf die »stille Ekstase« seines Spiels. Meine These ist, dass dies der Versunkenheit, Kontrolle und Flexibilität, die Kinder beim Spielen ausdrücken, nicht unähnlich ist, denn im Spiel besitzen Kinder ein Ich-Bewusstsein, auch wenn sie dabei nicht von anderen beobachtet werden. Das Kind ist nicht nur Darsteller, sondern auch Regisseur seines Spiels.
Brando darf natürlich in dieser Weise verspielt sein, weil er erwachsen ist. Bei ihm ist diese Darstellungsweise nicht großzügig, sondern sie stiehlt anderen die Show, sie zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Es gibt eine bekannte Anekdote von Karl Malden, der den Pater Barry in ON THE WATERFRONT spielt. Bei der Beschreibung seines Auftritts in einer seiner wenigen großen Szenen erinnert er sich, wie Brando, der am Bildrand mit dem Rücken zur Kamera steht, ihm jede Einstellung »stahl«, nur indem er sich am Rücken kratzte. Er zeigte buchstäblich auf sich, während die Bühne eigentlich Malden gehören sollte. Laut Chase ist der Bewegungsdrang häufig störend, weil er ein Akt der »Dreistigkeit« ist.14
Schlussbetrachtung
Brando – oder dem Kind – auf diese Weise freie Hand zu lassen, Darstellungen zuzulassen, die von abweichendem Verhalten, Verzögerungen oder Ausschmückungen gekennzeichnet sind, erfordert eine Flexibilität bei der Produktion des Films sowie räumliche und zeitliche Offenheit in Bezug auf die Erzählung der Geschichte im Film. Dies ist keine ausgesprochen ökonomische Art des Filmemachens. Schlechtes Schauspiel von Kindern, das heißt hölzerne, reizlose, leblose oder »„körperlose - beziehungsweise ablenkungsfreie« Darstellungen, sind möglicherweise weniger eine Folge der mangelnden Fähigkeit des Kindes, zu schauspielern, als vielmehr der Beschränkungen durch die erzählerischen, technischen und wirtschaftlichen Erfordernisse der Filmproduktion. Kinder können beispielsweise durch narrative Zwänge gehemmt oder eingeschränkt werden, wenn es in einer Geschichte mit Erwachsenen als Hauptfiguren keinen Raum für sie gibt. Oder Filme sind von einer linearen, kausalen Handlung ebenso wie von dem Anliegen dominiert, das Budget einzuhalten, was die Zeit für die Proben und für die Wiederholung von Aufnahmen verkürzen kann. In solchen Filmen werden Improvisation und Abweichung weder hinsichtlich der Erzählung noch der Darstellung gefördert. Ähnlich wirkt sich der zunehmende Einsatz von Trickeffekten und Computeranimation auf die Kinderdarsteller aus. Entweder wird ihr Körper manipuliert wie in BABY GENIUSES oder sie werden in komplizierte, vom Schauspiel ablenkende, digitalisierte »Greenscreen«-Umgebungen hineinversetzt wie in STAR WARS: EPISODE I. Solche Anordnungen schaffen eine Arbeitsumgebung, in der das Kind stillstehen muss, in der es darauf beschränkt ist, treffsicher zu »liefern«, und in der es nicht »herumzuzappeln« hat.
In einem solchen Kontext liefern Kinder wenig überzeugende Darstellungen ab, da ihre authentische Darstellungsweise, die körperliche Aktivität, verboten ist. Dass Kinder dennoch gute Darstellungen bieten können, hängt möglicherweise von der Großzügigkeit anderer Schauspieler*innen ab und von der Offenheit der/des Regisseur*in, der Produzent*innen oder der Crew, Raum für diese Art der Kreativität zu schaffen, auch wenn sie ihnen einiges abverlangt. Ein Beispiel für einen Film, der den Kinderdarstellern diese Freiheit gewährt, ist NOBODY KNOWS (Dare mo shiranai; 2004) von Hirokazu Kore-eda. Die DreInharbeiten dauerten ein Jahr, wobei vier Kinderdarsteller während der Dauer der Filmproduktion die Zeit hatten, sich zu bewegen, zu wachsen und zu spielen.
Auch in Jeanne Crépeaus Dokumentarfilm JOUER PONETTE (2007) lässt sich der außergewöhnliche Aufwand erkennen, mit dem Thivisols Schauspiel großzügig unterstützt wurde. Auf der Basis von Fragmenten des videogestützten Filmmaterials, das Doillon bei den Dreharbeiten zu PONETTE verwendete, erkundet Crépeau in ihrem Dokumentarfilm das Material und bewertet und deutet die Regieentscheidungen sowie die zahlreichen Proben und Aufnahmen einzelner Szenen. Zu Beginn zeigt sie die vielen Aufnahmen, die nötig waren, damit Thivisol nicht nur ihren Text sprechen, sondern auch auf Beauvois reagieren konnte. Was Thivisol zuerst tut: Sie zappelt. Sie windet sich, winkt mit dem (offenbar gebrochenen) Arm, berührt, streichelt, kneift Beauvois ins Gesicht und schaut bisweilen direkt entweder in die Kamera oder auf den Regisseur. Erst nachdem Thivisol die Zeit gewährt worden ist, ihre Ausdrucksbewegungen zu proben, und es Doillon gelungen ist, die Zappelei in das Schauspiel zu integrieren, wird – wie Crepeau darlegt – diese Szene in ihrer endgültigen Fassung zu einer so fesselnden Manifestation von Ponettes Widerstand dagegen, den vom Vater behaupteten Tod ihrer Mutter anzuerkennen.
Es gibt weitere erfolgreiche Darstellungen durch Kinder, die auf ähnlichen Drehpraktiken beruhen, das heißt es gibt Raum und Zeit für Interpretation, Proben und die Bereitschaft, die Unruhe zu integrieren, sowohl was die Körperbewegung als auch den Dialog angeht. Dies gilt beispielsweise für die Arbeit der Autoren und Produzenten Andy Hamilton und Guy Jenkin in ihrer erfolgreichen britischen TV-Sitcom Outnumbered (BBC, 2007–2014). Insgesamt ist es eine konventionelle Produktion über ein Ehepaar und seine drei Kinder in einer relativ gewöhnlichen Straße in London, doch die Kinderdarsteller probten gesondert und konnten sich vielfältigen Bewegungen und Aktivitäten hingeben, um die herum die erwachsenen Darsteller*innen spielten. Die Serie wurde nicht nur für ihren Humor hoch gelobt – der zum Teil aus den Improvisationen der Kinder entstand –, sondern auch für die Authentizität der Darstellung in ihrem Hin und Her, ihrer Unruhe und Lebhaftigkeit. Dokumentaraufnahmen, die als Begleitmaterial zu einer Jubiläumsausgabe von E.T. THE EXTRA-TERRESTRIAL (E.T. – Der Außerirdische; 1982; Steven Spielberg) auf DVD veröffentlicht wurden, zeigen, dass auch Spielberg dem »kindlichen Spiel« am Set Raum und Zeit gibt und bereit ist, einzelne unruhige Aktionen der Kinder einzubeziehen, zum Beispiel wenn Drew Barrymore, damals fünf Jahre alt, sich die Nase reibt, herumzappelt und vor sich hin murmelt.
Solche Darstellungen ordnen sich nicht der Linearität und dem geordneten Ablauf vieler kommerzieller Drehbücher unter. Dies legt nahe, dass nicht vollständig fokussierte Darstellungen, die sich Zeit für Umwege und Ausschweifung nehmen, häufig überzeugender sind. Wie bereits erwähnt, kann das Zappeln – dieser gesteigerte Bewegungsdrang – als störendes und schwer einzuordnendes Verhalten (ist es bewusst oder automatisch?) potentiell alarmierend oder sogar bedrohlich wirken. In der Tat stellt Connor die These auf, dass die körperliche Unruhe einem gewissen »Verrückt-Sein«15 (»loopiness«) nahekommt, und auch dies scheint eine passende, wenn auch erstaunliche Beschreibung dafür zu sein, was ein guter Kinderdarsteller dem Kino bieten kann. »Verrückt-Sein« – ein Erzähl- und Darstellungsstil, der sich Ursache und Wirkung sowie der Linearität widersetzt und der erhebliche Anpassungen (oder Bearbeitungen) der Konventionen des filmischen Erzählens, der Erfahrung von Zeitlichkeit und der Komposition und Besetzung des Raumes erfordert. Doch folgt man Connor, spricht vieles für diesen Ansatz: »Wenn die Verrückten ›loopy‹ sind, weil sie ihre Worte oder Gedanken nicht ordnen und ›auf die Reihe kriegen‹ können, dann liegt auch in dieser Verrücktheit eine Art Größe oder Erhabenheit, gerade weil die ›Schleife‹ eher ein Mittel der Betonung als der Beschleunigung ist, ein Mittel des Durchdringens, nicht des Fortschreitens.«16
Ich schließe meine Betrachtung des Kinderdarstellers gern mit diesem Hinweis auf »loopiness«, da es eine der vielen Funktionen der Schleife ist, uns zum Anfang unserer Untersuchung zurückzuführen. Als Forschungsmethode verweigert sie den endgültigen Abschluss, kann sich unendlich fortsetzen, kreisen und kreisen. Connor stellt außerdem heraus: «Schleifen sind Einschübe, Aufschübe, Raum- und Zeitgewinne, die getrennt neben den allgemeinen Bedingungen von Fortpflanzung und Tod stehen.«17
Nimmt man dieses »Verrückt-Sein« ernst, heißt es, die Andersartigkeit des Kindes im Vergleich zum Erwachsenen anzuerkennen und die Unterschiede nicht als bloße Schwäche anzusehen, weder was das Können noch was die Statur angeht. Die Beispiele aus PONETTE und NOBODY KNOWS mögen vielleicht unbeabsichtigterweise den Eindruck vermitteln, dass der authentisch ansprechende, körperlich aktive oder »verrückte« Kinderdarsteller nur im Kontext des Arthouse-Films zu finden ist. Doch der fortgesetzte Erfolg der ansonsten überaus konventionellen Sitcom Outnumbered sowie die Arbeit kommerziell erfolgreicher Regisseur*innen wie beispielsweise Spielberg, für die Kinder und Kindheit ein besonderes Anliegen oder Interesse darstellen, beweisen das Gegenteil.
Aus dem Englischen von Anna Hildegard Czinczoll
Der Artikel erschien zuerst in dem Sammelband "Kino und Kindheit": Karen Lury: Der Blick des Kindes auf das Kino und die Welt. In: Bettina Henzler, Winfried Pauleit (Hg.): Kino und Kindheit. Figur - Perspektive - Regie. Berlin 2017, S.30-42.
Filme / Literatur
baby geniuses / Die Windel-Gang, USA 1999, Regie: Bob Clark
cats and dogs, USA / Australien 2001, Regie: Lawrence Guterman
cheaper by the dozen / Im Dutzend billiger, USA 2003, Regie: Shawn Levy
daddy daycare / Der Kindergarten Daddy, USA 2003, Regie Steve Carr
e.t. the extra-terrestrial / E.T. – Der Außerirdische, USA 1982, Regie: Steven Spielberg
getting even with dad / Allein mit Dad & Co, USA 1994, Regie: Howard Deutch
g-force, USA 2009, Regie: Hoyt Yeatman
home alone / Kevin – Allein zu Haus, USA 1990, Regie: Chris Columbus
home alone 2: lost in new york / Kevin – Allein in New York, USA 1992, Regie: Chris Columbus
jouer ponette , Kanada 2007, Regie: Jeanne Crépeau
look who’s talking / Kuck mal, wer da spricht!, USA 1989, Regie: Amy Heckerling
nobody knows / Dare mo shiranai, Japan 2004, Regie: Hirokazu Koreeda
on the waterfront / Die Faust im Nacken, USA 1954, Regie: Elia Kazan
Outnumbered, Vereinigtes Königreich 2007–2014, Regie: Andy Hamilton / Guy Jenkin
ponette, Frankreich 1996, Regie: Jacques Doillon
ri¢hie ri¢h / Richie Rich, USA 1994, Regie: Donald Petrie
star wars: episode i – the phantom menace / Star Wars: Episode I – Die dunkle Bedrohung, USA 1999, Regie: George Lucas
the godfather / Der Pate, USA 1972, Regie: Francis Ford Coppola
Herbert Blau: Universals of Performance. Or, Amortizing Play. In: SubStance, 11:4/12:1, Issue 37–38: A Special Issue from the Center for Twentieth Century Studies, 1982 / 1983
James Naremore: Acting in the Cinema. Los Angeles 1992
Karen Chase: [E]motions in the Nineteenth Century. A Culture of Fidgets. In: 19: Interdisciplinary Studies in the Long Nineteenth Century, 19, 2014
Richard Schechner: Theater-Anthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich [Aus dem Amerikanischen von Susanne Winnacker]. Reinbek bei Hamburg 1990
Steven Connor: A Philosophy of Fidgets. 2010
Anmerkungen
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1
»Thinking makes it so. Which is to say: the consciousness of performance. A baby may be performing without consciousness, or so it appears […] but what would we know of performance if the world were full of babies?« Herbert Blau: Universals of Performance. Or, Amortizing Play. In: SubStance, 11:4/12:1, Issue 37–38: A Special Issue from the Center for Twentieth Century Studies, 1982 / 1983, S. 148.
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2
Ein bekanntes Beispiel wären die Zwillinge Charles Thomas Allen und John Christopher Allen, die Ben, den kleinen Sohn des Ross Geller (David Schwimmer), in der US-amerikanischen Sitcom Friends (1994–2004; Staffel 3–5) spielten.
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3
Richard Schechner: Theater-Anthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich [Aus dem Amerikanischen von Susanne Winnacker]. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 215f.
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4
Ich beziehe mich hier auf den Ausdruck der Figur auf dem berühmten Gemälde Der Schrei von Edvard Munch (1893).
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6
Abigail Breslin wurde für ihre schauspielerische Leistung in LITTLE MISS SUNSHINE (2006; R: Jonathan Dayton / Valerie Faris) gefeiert und Dakota Fanning spielte erfolgreich in einer Reihe von Filmen, unter anderem in MAN ON FIRE (Mann unter Feuer; 2004; R: Tony Scott) und WAR OF THE WORLDS (Krieg der Welten; 2005; Steven Spielberg).
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7
Der englische Begriff »fidgeting« bezeichnet unruhige, nicht zielgerichtete, gesteigerte Bewegungen in Motorik, Mimik und Gestik, das heißt vermehrte affektive Ausdrucks- oder Reaktivbewegungen, Zappelei, Herumfummeln, Rastlosigkeit, Bewegungsdrang und körperliche Unruhe auch als Ausdruck von emotionaler Not oder von Ablenkung und innerer Distanz. Der Begriff wird im Folgenden mit entsprechend variierten Begriffen übersetzt (Anm. A.H.C.).
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8
»[…] the uneasy borderland between voluntary and involuntary action […]«, Karen Chase: [E]motions in the Nineteenth Century. A Culture of Fidgets. In: 19: Interdisciplinary Studies in the Long Nineteenth Century, 19, 2014, S. 1.
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9
»[…] the philosophical puzzle of fidgeting (the puzzle of intention or automatism.)«, ebenda, S. 2.
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10
»The baby was entirely absorbed in a game that involved stretching and releasing the strap of its mother’s handbag, while sliding the buckle up and down its length. At one point, its mother reached down and carelessly handed it a piece of muffin to eat. The baby looked from the muffin to the handbag, seemingly weighing the chances of it being able to play some useful part in its pushme-pullyou investigation […]. The baby was simultaneously concentrated and abandoned, utterly in and at the same time entirely out of this world. I thought I had seen something amazing: a creature coming into being in its capacity utterly to leave of itself in the calm ecstasy of play«, Steven Connor: A Philosophy of Fidgets. 2010, S. 1. Online.
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11
»Precisely because the fidget occupies the nexus of intention and reflex, it stands as an invitation to significance; it is the site where inner meaning floods and overflows the self-possession of the body«, Chase 2014, a.a.O., S. 7.
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12
»His shy but streetwise remarks, the sway of his walk, the absent-minded look in his eye as he chews gum, the way he sprawls on a pile of gunnysacks and flips through the pages of a girlie magazine – all these things function to establish him as a sort of child, in appealing contrast to the stereotypical and sententious ›adults‹ who surround him«, James Naremore: Acting in the Cinema. Los Angeles 1992, S. 205.
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13
»[…] without intention to communicate, or capacity to interest, fidgeting magnetically draws attention to itself.«, Chase 2014, a.a.O., S. 12f.
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14
Vgl. ebenda, S. 11.
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15
»Loopiness« hat im Englischen einen doppelten Wortsinn: Der Wortstamm »loop« bedeutet Schleife, »loopy« heißt sich windend, Schleifen drehend; »loopiness« bezeichnet zugleich eine Form des Wahnsinns (Anm. A.H.C.).
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16
»If the mad are loopy because they cannot get their words or thoughts straight, then there is a kind of grandeur or magnificence in loopiness too, precisely because the loop is an accentuating rather than accelerating device, an instrument of pervading rather than progress«, Connor 2010, a.a.O., S. 4f.
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17
Ebenda, S. 4.