Nichts sehen: Das Kind in Michael Hanekes "Der siebente Kontinent"
Wie auch der Tod, sind Kinder in Michael Hanekes Filmen allgegenwärtig. DER SIEBENTE KONTINENT, sein heute sehr geschätztes Kinodebüt aus dem Jahr 1989, etablierte Haneke als einen der außergewöhnlichsten und provokantesten Regisseure unserer Zeit. Die gefühlskalte Provokation besteht in der Tötung eines Kindes durch seine Eltern, die sich anschließend selbst das Leben nehmen. Es geht um den Tod in Form von Mord und Selbstmord: Eine Mutter und ein Vater beschließen, nicht in dieser Welt zu bleiben, und ein Kind sieht dem eigenen Tod erwartungsvoll entgegen.1 Der Tod von Georg, Anna und Eva (Dieter Berner, Birgit Doll und Leni Tanzer) führt zum unvergesslichen Ende des Films: die tote – oder sterbende – Familie aufgereiht vor dem Fernsehbildschirm.
DER SIEBENTE KONTINENT ist kein Film »über« Kinder, zumindest nicht direkt.2 Die Funktion des Kindes, das Haneke in diesem Film einsetzt, ist indes ungewöhnlich: Er zeigt ein junges Mädchen, das den eigenen Tod willkommen heißt, aber nicht durch die eigene Hand stirbt. Anders ausgedrückt, ein Kind steht vor der Frage, die für Albert Camus zentral ist: Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord«3 – oder die Frage, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden, und zwar als Tochter eines Elternpaars, dessen Leben (mit Camus’ Worten) vom »Fehlen jedes tieferen Grundes zum Leben«4 überschattet ist.
Ich möchte nachfolgend die Eröffnungssequenz von DER SIEBENTE KONTINENT und seine Bedeutung für den Forschungsgegenstand Kino und Kindheit in den Blick nehmen. Zur Debatte steht nicht – oder nicht nur – das Bild des Kindes auf der Leinwand. In den Anfangsszenen bekommt der Zuschauer das Mädchen nämlich kaum zu sehen. Der Auftakt zu DER SIEBENTE KONTINENT, seine Choreografie des Blicks, die mit dem On und Off spielt, ist stattdessen von einem augenfälligen Verschwinden des menschlichen Gesichts aus dem Bild gekennzeichnet. Dieses Verschwinden, so meine These, eröffnet uns die Sphäre des infans – also der frühesten Bindungen zwischen Säugling und Welt –, in der die Reflexion, das heißt die zwischen dem Selbst und dem Anderen getauschten, gespiegelten Blicke, für das (Mensch-)Werden entscheidend ist. In diesem Sinne fungieren die Eröffnungsszenen als Erinnerung an unsere Anfänge, als wir »Augen brauchten, die den Blick erwidern«, ein Bedürfnis, das laut Eric Santner Teil der »Triebkraft« wird, die unsere Beziehung zum Kino bestimmt.5
Die Eröffnungssequenz von DER SIEBENTE KONTINENT verstößt gegen den grundlegenden Code der Filmsprache, dass Figuren sich anschauen, wie Christian Metz es ausdrückt, und verleiht der Nichterfüllung dieses Bedürfnisses damit eine kraftvolle visuelle Form: Das Verschwinden des menschlichen Gesichts, die Abwendung des Blicks, bestimmt die Haltung und führt das Publikum hinein in die Lebenswelt des Films.6 Um diese Lebenswelt zu verstehen, greife ich auf die Arbeit von Donald Winnicott zurück. Bei den Studien im Grenzbereich von Psychoanalyse und Wahrnehmung vollzieht sich heute eine Hinwendung zu den Schriften Winnicotts, um über die Konzepte Lacans hinauszudenken, die die psychoanalytische Filmtheorie beherrschen. Gestützt auf Winnicotts Psychoanalyse, versucht der vorliegende Artikel die Verbindungen zwischen Kindheit und Kino zu beleuchten. Die hierin vorgestellten Überlegungen untersuchen die Erfahrung des Negativen – Verlorenheit, Nichtanwesenheit, Leere, Verschwinden –, die in Hanekes Kinofilmen am Werk ist. Anhand von Winnicotts Psychoanalyse werden diese in einen weiteren Zusammenhang gestellt. Das genannte Negative ist demnach eine Grundstruktur der menschlichen Wahrnehmung, genauer gesagt: der frühkindlichen Erfahrung und der Ursprünge des Selbst.
Dieser Beitrag erschien 2017 in dem Sammelband "Kino und Kindheit".
Das Wechselspiel zwischen Mutter und Säugling
»[Das Baby] lernt durch das ihm zugewandte, sprechende Gesicht der Mutter, belebte von unbelebten Objekten zu unterscheiden.« René Spitz, 19457
»Drei Jahre, ein Tag, und dann passiert es«,8 so beschreibt Haneke die Struktur des Films DER SIEBENTE KONTINENT und seinen Versuch, zu zeigen, was der realen Familie, auf die er erstmals in einem Zeitungsartikel aufmerksam wurde, widerfährt, obwohl in ihrem Leben, was die äußeren Umstände angeht, alles stimmt. Routine, fast unabänderlich, bestimmt dieses Leben; Einzelheiten der Existenz der Familie sammeln sich im Verlauf des Films an, setzen sich über die drei Tage hinweg zusammen. »Einen Film montieren bedeutet, die Personen miteinander und mit den Gegenständen zu verbinden durch die Blicke«,9 so notiert es Robert Bresson in den1950er Jahren. Mit dieser vielschichtigen Formulierung lässt sich ermessen, was geschieht, wenn Regisseur Haneke, der sich sehr mit Bressons Werk beschäftigt hat, dem Film DER SIEBENTE KONTINENT eine Dichte an materiellen Objekten verleiht, die in schonungsloser Nüchternheit die Familienroutine bestimmen: Auto, Uhr, Radio, Zahnbürste, Aktentasche, Kaffeemaschine, Tassen, Teller, Tisch, Fernsehgerät.
In der ersten Einstellung des Films rückt die Kamera für vier oder fünf Sekunden ein Autokennzeichen in Großaufnahme ins Zentrum des Blickfelds der Zuschauer*innen. Weiße Schrift auf schwarzem Grund: L 76. 236. Das Weiß ist leicht angekratzt, der schwarze Grund ist fleckig. Plötzlich fährt ein Wasserstrahl über das Nummernschild. Während die Titelsequenz beginnt, wechselt unser Blick ins Innere des Autos: Von hinten sehen wir einen Mann und eine Frau, die vorn im Auto sitzen, ihre Köpfe zeichnen sich als Silhouetten vor der Windschutzscheibe ab. Am jeweils äußersten Bildrand platziert, sprechen die beiden nicht miteinander und schauen sich auch nicht an. Unbewegt und still starren sie geradeaus. Als das Auto schließlich aus der Waschstraße hinausfährt, wechselt die Perspektive noch einmal. Die Vorderansicht des Wagens wird von weiteren Credits verdeckt, die sich, als der Wagen nach vorne rollt, zum unteren Bildrand bewegen. Eine Aufnahme von vorn durch die Windschutzscheibe zeigt jetzt nicht zwei, sondern drei Personen im Auto. Eingerahmt von dem Mann und der Frau, sieht man auf dem Rücksitz ein junges Mädchen sitzen.
Alle drei blicken starr geradeaus. Wir sehen Eva, das Kind, hier zum ersten Mal, aber auch nicht viel mehr: Die Gesichter von Eltern und Kind liegen weitgehend zurückgezogen im Dunkeln. Doch ohne uns dessen bewusst zu sein, haben wir aus Evas Perspektive, mit ihren Augen, auf abgewandte Gesichter und ungesehene Blicke geschaut. Für mich hat diese Erkenntnis etwas Verwirrendes oder sogar Schmerzvolles. Was zeigt uns der Film hiermit? Was bedeutet es, wenn ein Kind sich ansieht, was nicht passiert (der Blick, das Wort, die Geste, die alle zwischen den Eltern nicht stattfinden)? Ist dies eine Form von »nichts sehen«, von Vergegenwärtigung der Leere – oder mit Hanekes Worten: davon, Dinge zu tun, aber nicht zu leben?
»Selbst das bescheidenste materielle Verbrauchsgut«, so schreibt T.S. Eliot 1949, »ist […] zugleich Sendbote der Kultur, der es entstammt«.10 In Eliots Formulierung schwingt der Vorrang des durch eine Mission und eine Botschaft herausgehobenen Objekts mit, wie es in DER SIEBENTE KONTINENT durchweg gezeigt wird. In keinem anderen Kinofilm Hanekes hat dieser Vorrang des Objekts fatalere Folgen für den Menschen. Und nirgends wird das Verhängnis so vehement am Verschwinden des menschlichen Gesichts festgemacht.
Zum einen werden hier erstmals im Kino Hanekes das Alltägliche und das Grausame einander gegenübergestellt: Das »L« steht für die Stadt Linz, in der der Autobesitzer lebt, ein winziges Detail, das dem Zuschauer leicht entgeht, vor allem einem Publikum außerhalb Österreichs. Möglicherweise hat Haneke deshalb immer wieder betont, dass DER SIEBENTE KONTINENT zwar in Linz spielt, aber nicht dort gedreht wurde:11 Linz, die Stadt der Kindheit Hitlers, sollte eine der Kulturhauptstädte des Dritten Reichs werden und ein neues Museum für europäische Raubkunst beheimaten. So wird der zugleich versteckte und sichtbare Fakt des Völkermords in dieser Einstellung lesbar. Die Ästhetik des Artefakts als Sendboten bettet den Film DER SIEBENTE KONTINENT in eine brutale politische und kulturelle Geschichte ein. Was könnte gewöhnlicher oder unbedeutender sein als ein Nummernschild? Dies ist notwendigerweise eine rhetorische Frage, berücksichtigt man die Erfahrung der in Hanekes Werk angelegten Formen des Schauens und seine vielfältige Beschäftigung mit den Sackgassen, in die sich die Kunst des Schauens im 20. Jahrhundert (und darüber hinaus) begeben hat.12 »Die Ideen verbergen, aber derart, daß man sie findet. Die wichtigste wird die verborgenste sein.«13 Nimmt man Bresson beim Wort, wird der Akt des Schauens im Kino als ein Akt des Suchens, des Aushandelns der Verbindungen zwischen Gezeigtem und nicht Gezeigtem, Sichtbarem und Unsichtbarem, Teil jeder Filmerfahrung.
Da das Gesicht verschwindet, ist zum anderen der Vorrang des Objekts mehr als nur ein Bekenntnis zu einer Ästhetik des Versteckspiels mit Objekten, die so banal sind, dass man sie kaum »sieht«. Wirkung erzielt auch Hanekes lange Einstellung, die sich Zeit nimmt. Wir verweilen auf oder in einem Bild, mitten im Raum zwischen zwei Menschen, wo sich etwas, das sich ereignen könnte – ein Blick, ein Wort, eine Geste – nicht ereignet. Das Gesicht ist nicht da, oder es ist nur gerade eben, flüchtig zu sehen und zurückgetreten hinter Objekten, welche die Szenerie dominieren. Wie lange dauert es, bis sich jemand oder etwas bewegt? Wie lange, bis die Kamera weiterschwenkt?14
Die letzte Einstellung des Vorspanns zeigt, dass wir, ohne es zu wissen, den Platz des Kindes innehatten, den der Tochter Eva. Zentral positioniert zwischen dem Mann und der Frau, durch die Windschutzscheibe starrend, haben wir mit Evas Augen abgewandte Gesichter und ungesehene Blicke angeschaut: buchstäblich »nichts gesehen«. Zerrissen durch den nicht stattfindenden Blick, hält DER SIEBENTE KONTINENT das »Nichtgeschehen« gegenüber den Zuschauer*innen aufrecht: Erst nach etwa 15 Minuten erscheint ein Gesicht auf der Leinwand. So beginnt direkt nach dem Vorspann auch Erster Teil – 1987 mit einer langen Einstellung: Ein Radiowecker ist die Quelle der ersten, in Hanekes Film gesprochen Worte. Etwa 30 Sekunden lang hält die Kamera auf den Wecker. Nach rund 20 Sekunden kommt eine Hand ins Bild, dann verschwindet sie wieder aus dem Bildrahmen. Der Radiowecker zeigt 5:59 Uhr, um 6:00 Uhr geht der Ton an: »Hier ist der Österreichische Rundfunk. Die Nachrichten. Heftige Explosionen in der irakischen Hauptstadt Bagdad. Der Iran dürfte den Raketenbeschuss wieder aufgenommen haben.«15
Es wäre zu untersuchen, wie Bild und Ton der Telemedien zu der Aggression und dem Unbehagen beitragen, die sich häufig durch Hanekes Filme ziehen.16 Am Anfang von DER SIEBENTE KONTINENT wird das audiovisuelle Wahrnehmungsfeld durch die manifeste, aber unbeachtete Tatsache des Krieges erzeugt. Die Familie setzt ihre Routine fort (Aufwachen, Waschen, Frühstücken, Fertigmachen für die Arbeit oder die Schule).17 Die Personen kommen stückweise ins Bild – Arme, Hände, Beine, Füße. Ohne Gesicht. Es ist, als würden die im Radio verkündeten Angriffe oder der in der Eröffnungsszene angedeutete Genozid in die auf visueller Ebene körperlich zerteilte Familie verlagert, die ganz an den Rand des Bildes gerückt wird.
Was ist es, das der Film uns hier mit ansehen lässt? Was bedeutet es, wenn ein kleines Mädchen sich anschaut, was zwischen Mutter und Vater nicht passiert? Ist Eva im Blick, im Wort, in der Geste, die DER SIEBENTE KONTINENT ihr und uns vorenthält, das Rezeptionsmodell für diesen Film? »Ich lebe im Gesichtsausdruck des anderen«,18 schreibt Maurice Merleau-Ponty im Jahr 1964 in seinen Überlegungen zur grundlegenden Rolle des Gesichts bei der Erkundung von Welt und Bewusstsein durch das Kleinkind. Diese Erkenntnis stützt sich auf die lange Geschichte der menschlichen Beschäftigung mit Reflexion und Wahrnehmung, deren Funktion für die Herausbildung des Ich-Bewusstseins sowie unserer Verbundenheit mit der Welt. Für diese Geschichte ist das menschliche Gesicht, der Blickwechsel, von entscheidender Bedeutung. Merleau-Ponty schreibt aus einer Tradition heraus, die sich etwa aus William Wordsworths Blest Babe speist: Das Kind »sinkt in den Schlaf/Wiegend am Busen der Mutter; Das mit seiner Seele /Trinkt die Gefühle in den Augen der Mutter!«19 Das ist eine bemerkenswerte Passage, in dem die der Romantik eigene Würdigung des Blicks als eine Form des unvermittelten Ausdrucks in die Figur von Mutter und Kind, Mutter und Säugling einfließt, und zwar durch die lyrische Gleichsetzung von Brust und Auge, schauen und nähren, schauen und lieben.20 Insbesondere vertritt diese Lyrik eine Vorstellung von Mutter und Säugling, geborgen im und durch den reflektierenden Blick, die für die Entwicklung der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert – welches der Psychoanalytiker Michael Eigen als das »Zeitalter des Babys« bezeichnet hat – wesentlich war.21 Wie bereits erwähnt, ist die Psychoanalyse Winnicotts hier von entscheidender Bedeutung, insbesondere seine in Die Spiegelfunktion von Mutter und Familie in der kindlichen Entwicklung (englischsprachige Erstveröffentlichung 1967) gesammelten Überlegungen zur Bedeutung des mütterlichen Gesichts, das heißt der Fähigkeit der Mutter, ihrem Säugling ins Gesicht zu schauen und daraus zu lesen.22 Der Säugling, der sich selbst von der Mutter gespiegelt sieht, wird so zum Sinnbild für die Ursprünge von Selbst, Seele und Kreativität: »Was erblickt das Kind, das der Mutter ins Gesicht schaut? Ich vermute, im allgemeinen [sic] das, was es in sich selbst erblickt. Mit anderen Worten: Die Mutter schaut das Kind an, und wie sie schaut, hängt davon ab, was sie selbst erblickt. Diese Dinge werden allzu oft für selbstverständlich gehalten. Ich bin aber der Meinung, daß man nicht für selbstverständlich halten sollte, was Mütter, die ihre Kinder umsorgen, ganz natürlich tun. Was ich damit meine, wird noch deutlicher, wenn ich direkt die Frage stelle, was ein Kind im Antlitz einer Mutter erblickt, das ihre eigene Stimmung oder – noch schlimmer – die Starrheit ihrer eigenen Abwehr widerspiegelt!«23
Diese Prozesse, so Winnicott, stehen am Anfang. Der Austausch von Blicken zwischen zwei Menschen prägt die frühesten Bindungen zwischen dem Säugling und der Welt: Die Fähigkeit der Mutter, ihr Kind anzuschauen und ihm zu spiegeln, was sie sieht, gehört zu ihrer Fürsorge für einen Menschen, der vollständig von seiner Umwelt abhängig ist. So gesehen, sind das Gesicht und der Blick der Mutter Formen des Haltens oder der Geborgenheit (»Holding«), des Versorgens oder der Zuwendung (»Handling«) und des Objektangebots (»Object presentation«), die drei Elemente der Umweltfunktion, die Winnicott zu Beginn in Die Spiegelfunktion von Mutter und Familie in der kindlichen Entwicklung erläutert: In seiner Lesart ist das Gesicht der Mutter oder, weiter gefasst, das Gesicht des Anderen der Königsweg zur Umwelt. Im Versuch, diese Anfänge näher darzustellen, bezieht sich Winnicott auf die Worte derjenigen Patienten, die »an sehr frühe Phänomene herankommen und sie unter Umständen auch auszusprechen in der Lage sind, ohne dabei das ›Besondere‹ zu zerstören, das kaum sprachlich faßbar oder unausgesprochen und, es sei denn in der Dichtung, eigentlich auch unaussprechlich ist«.24
Vom sprachlichen Bild in der Lyrik ließe sich das auch auf das visuelle Bild übertragen. Ein Ausgangspunkt dieses Artikels ist, dass das Kino als Erinnerung an solche präverbalen und nicht verbalisierbaren Geistes- und Daseinszustände fungieren kann. Der Punkt ist: Das, was Winnicott hier freilegt, kann als eine mütterliche Dimension des Wahrnehmungsfelds beschrieben werden: Die Wahrnehmung ist abhängig von der Strukturierung durch das Gesicht (der Mutter) und vom Blickwechsel. Die Mutter schaut ihren Säugling an, und ihr Gesicht verändert sich sogleich, es bewegt und belebt sich: »Die Mutter sieht das Kind an, und wie sie schaut, hängt davon ab, was sie selbst erblickt.«25 Beachtenswert ist hierbei Winnicotts Wortwahl. Er schreibt, der Blick der Mutter hänge ab von dem [engl.: »is related to«], was sie sieht, wenn sie das Kind anschaut, er schreibt nicht, er sei damit identisch. Es geht also um Beziehung, nicht um Abbildung, um eine Wechselbeziehung durch Spiegelung. Das Gesicht der Mutter beziehungsweise der erwiderte Blick kann nicht alles einfangen, ganz im Gegenteil. Das Nichtgesehene, Nichtreflektierte ist grundlegend für Winnicotts Verständnis des Spiels zwischen Mutter und Kind: entweder im Gesicht einer Mutter, die »ausreichend gut« ist (lebendig; spiegelnd, aber nicht immer), oder am anderen Ende der Skala in einem Gesicht, das stillsteht, erstarrt ist, in das die Stimmung der Mutter eingeschrieben ist, das »tot« ist.
Den frühesten Bindungen zwischen Mutter und Kind zugehörig, handelt es sich hierbei um eine Art des Todes oder Sterbens, die den Start des Säuglings ins Leben notwendigerweise überschattet. Und es ist die Spiegelung – zu sehen, dass man gesehen wird –, der die Aufgabe zukommt, die Unterscheidung zwischen Leben und Lebendigsein zu treffen. In Kreativität und ihre Wurzeln nennt Winnicott dies die »kreative Apperzeption« – oder kreative Wahrnehmung –, die »einem Menschen das Gefühl gibt, dass das Leben lebenswert ist«.26 Wie in einer Art Schauspiel ist es das Gesicht der Mutter, das den Unterschied zwischen Stille und Bewegung, menschlich und unmenschlich, Leben und Tod vermittelt (laut Eigen ist das Lächeln der »Heimatort des menschlichen Selbst«27).
Kino: Eine komplexe Nachbildung des Gesichts?
Was passiert, wenn man der Leinwand das menschliche Gesicht28 entzieht? Hanekes Filme sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den Blick des Publikums erwidern, indem sie dem Zuschauen zuschauen.29 Dadurch, dass das menschliche Gesicht in DER SIEBENTE KONTINENT über längere Strecken verschwindet oder den Zuschauer*innen vorenthalten wird, verdrängt oder verzerrt der Film die Gefühlsstruktur, die auf dem Blickkontakt zwischen zwei Personen und dem lebendigen menschlichen Gesicht gründet. Diese Lebendigkeit des Mienenspiels ist im besprochenen Film nicht vorhanden: Die Unbewegtheit der Gesichter der Darsteller*innen ist eines seiner auffälligsten Merkmale. Verändert sich der Ausdruck doch einmal, ist er so verkrampft, dass sich das Gesicht dagegen wehrt. Ein besonders markantes Beispiel ist Annas Zusammenbruch beim Anblick eines Autounfalls: Die ersten Toten, die in Hanekes Film (wenn auch kaum) zu sehen sind, sind eine Mutter und ihr Kind, die am Straßenrand liegen. Es ist früher Abend, es ist dunkel und regnerisch. Der Verkehr fließt zäh. Die Szene ist aus dem Inneren des Autos der Familie gefilmt und wird durch den starken Regen und die hin und her schwenkenden Scheibenwischer noch verdunkelt. Das Auto wird langsamer, und die Umrisse zweier unter einer Plastikplane liegenden Körper kommen ins Bild. Es hat einen Unfall gegeben. Jemandes Leben wurde beendet oder hat sich durch einen Verlust für immer verändert.
Diese Szene, in der die Familie zur Waschanlage fährt, ereignet sich mitten in Zweiter Teil: 1988. Sie wiederholt den Vorspann, aber in veränderter Form. Der Unterschied liegt in einem Blickwechsel zwischen Georg und Anna, deren Gesicht sich vor Schmerz zu verzerren beginnt, und in einer Bewegung aufeinander zu, als Anna ihrer Tochter die Hand nach hinten reicht. Ihre Hände berühren sich kurz, bevor Anna ihre zurückzieht und Eva sich selbst überlässt. Es ist, als ob etwas – der Schmerz, der Verlust, die Welt – zu ihnen durchgedrungen sei. Diesen Unfall zu sehen ist eine Variation innerhalb der Wiederholungen, die den Film kennzeichnen. Sie markiert die Krise, unmittelbar bevor die Familie die Entscheidung trifft, Selbstmord zu begehen. Dies entspricht dem Rhythmus, der Problematik von Hanekes Filmschaffen. Was bleibt zu tun, wenn das Leid die Welt einstürzen lässt? Wie kann man (neu) beginnen? Was geschieht, wenn man es sein lässt?
»Sie leben nicht wirklich, sie tun Dinge«:30 Als Haneke sich an die mühsame Suche nach einer Struktur (oder einem »Container«) für den Film DER SIEBENTE KONTINENT erinnert, stellt er diesen Unterschied heraus, der sein Filmschaffen durchzieht: Es ist der Unterschied zwischen der Tatsache, dass man lebt, und der Erfahrung oder dem Gefühl, zu leben. In einem Interview aus dem Jahr 2008 stellt er die Vorstellung vom »unlebbaren Leben« ins Zentrum der sogenannten »Trilogie über die Vergletscherung«, deren erster Film DER SIEBENTE KONTINENT ist, gefolgt von benny’s video (1992) und 71 fragmente einer chronologie des zufalls (1994). »Ich glaube«, so Haneke weiter, »die zentrale Rolle in der Trilogie spielt das unlebbare Leben. Der Tod bzw. der Suizid sind darin lediglich Folgeerscheinungen.«31
Tod, Selbstmord als Folgeerscheinungen eines unlebbaren Lebens? Was Hanekes Formulierung evoziert, ist nicht die Form des Todes, der das Leben vorzeitig beendet, sondern eine Form des Lebens, die dadurch, dass es nicht gelebt wird, den eigenen Tod darstellt. Aber was ist der Tod ohne das Leben? Was ist der Suizid, wenn »es keines [kein Leben] mehr gibt«,32 wie Theodor Adorno es ausdrückt? Oder anders gefragt: Was macht das Leben lebenswert? Was macht das Leben zum Leben?
Die oben gestellten Fragen durchziehen Hanekes Filmschaffen, das mit dem Entschluss einer Familie beginnt, ihr Zuhause zu zerstören, bevor sie sich das Leben nimmt. DER SIEBENTE KONTINENT wagt den Versuch, eine audiovisuelle Sprache zu entwickeln, die diese grundlegenden Fragen in sich aufnimmt (»hold«) und zugleich jede Form von Kino verwirft, die Antworten auf die Frage nach dem Warum zu präsentieren versucht. Dieser Frage, hervorgerufen durch Zerstörung – Gewalt, Depression, Verzweiflung –, gibt Haneke in seinen Filmen Raum. »Meine Filme beabsichtigen, bestimmte Fragen zu stellen«, so hat er sich häufig über seine Arbeit geäußert. »Betrachtet man den Zuschauer ernsthaft als Partner«, stellt er 2004 in einem Interview erneut heraus, »ist das Einzige, was man machen kann, die Fragen nachdrücklich zu stellen. […] Ich denke, dass jede Kunstform heute nur Fragen präsentieren kann, keine Antworten. Das ist die Grundbedingung.«33
Fragen, keine Antworten. Oder Fragen ohne Antworten? Entscheidend für Hanekes Kunstbegriff ist sein Anspruch, beides aufzunehmen: Dies verbindet sein Kino mit einer philosophischen Tradition, die den Akt des Fragenstellens als ein Privileg des Menschseins betrachtet.34 In DER SIEBENTE KONTINENT kündet das verschwindende Gesicht von diesen Fragen – ein Rückzug, der als Erstes auf die Figur des kindlichen Betrachters übertragen wird. Der Film führt uns hin zu jenen »Leerstellen unserer Anfänge«, wobei dem Schatten der Seelenqualen filmisch durch einen nicht stattfindenden Blick, ein nicht erscheinendes Gesicht Ausdruck verliehen wird.35 Die Botschaft ist: Wir leben im Gesicht des anderen und können dort auch sterben.
Was passiert mit dieser Erfahrung des Sterbens – der Erfahrung, ungesehen, unbemerkt, unerkannt zu sein – im Wahrnehmungsfeld? Wie kann das visuelle Objekt die grundlegende Struktur des Nicht(-an-)erkennens verstärken oder ausgleichen? Wie nehmen wir diese Struktur – des Todes und des Sterbens – im visuellen Leben der Kultur auf? Diese Struktur durchzieht den Film DER SIEBENTE KONTINENT, sie rührt auf und gibt den »Leerstellen« eine visuelle Form. So wird Hanekes Film im zeitgenössischen europäischen Kino zu einer kraftvollen Vision eines gescheiterten Lebendig-Seins. Und es ist letztlich dieses Verschwinden des Gesichts, das als visuelle Entsprechung für ein unlebbares Leben steht, für ein bis hin zur Selbstzerstörung und zur Zerstörung des eigenen Kindes entleertes Leben: Der Wunsch, am Leben zu sein, schwindet dahin, rohe Formen von Gewalt, die das Leben eines anderen beenden können, treten hervor, und die Bürde dieser Grausamkeit steht in den Gesichtern geschrieben, die sich von uns abwenden und so unserem Blick entziehen.
Übersetzung aus dem Englischen von Hilla Czinczoll
Der Artikel erschien erstmals in dem Sammelband Kino und Kindheit: Vicky Lebeau: Nichts sehen: Das Kind in Michael Hanekes Der siebente Kontinent. In: Bettina Henzler, Winfried Pauleit (Hg.): Kino und Kindheit. Figur - Perspektive - Regie. Berlin 2017. S. 77-87.
Filme / Literatur
amour / Liebe, 2012, Regie: Michael Haneke
benny’s video, 1992, Regie: Michael Haneke
caché, 2005, Regie: Michael Haneke
der siebente kontinent, 1989, Regie: Michael Haneke
funny games, 1997, Regie: Michael Haneke
71 fragmente einer chronologie des zufalls, 1994, Regie: Michael Haneke
Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Hamburg 1959.
Bryher: The Days of Mars. A Memoir, 1940–1946. London 1972.
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Franz Grabner: Der Name der Erbsünde ist Verdrängung. Ein Gespräch mit Michael Haneke. In: Christian Wessely et al. (Hg.): Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft. Marburg 2012.
Hannah Arendt: Philosophie und Politik (1954). In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 41:2, 1993, 381–400.
Haneke, Interview mit Serge Toubiana, The Haneke Trilogy, DVD Tartan Films 2006.
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T.S. Eliot: Beiträge zum Begriff der Kultur. Frankfurt am Main 1949.
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Anmerkungen
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1
Ich glaube, ein Leben, wie wir es gelebt haben, vor Augen, sagt man leicht zu jeder Vorstellung vom Ende ja. Der Brief des Vaters an seine Eltern kündigt den Entschluss der Familie, zu sterben, an. Der Vater erzählt im Brief, dass Evas sofortige Antwort auf die Worte der Kantate: Ich freue mich auf meinen Tod einmal gewesen sei: Ich auch.
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2
Kindheit, Kino: Sie teilen eine lange und komplexe Geschichte. Sowohl im klassischen als auch im »Weltfilm« oder modernen Film erscheinen Kinder zahlreich auf der Leinwand – eine Allgegenwärtigkeit, die das Kino zu einer unschätzbaren, vielleicht sogar unermesslichen Quelle für die Untersuchung verschiedener Kulturgeschichten der Kindheit im 20. Jahrhundert und darüber hinaus macht. Seit seinen Anfängen hat das Kino das Kind für sich beansprucht: als Bild, als Geschichte, als Zuschauer (die »Child Pictures«, in denen Babys und Kleinkinder auf der Leinwand essen, laufen, weinen und spielen, gehörten zu den ersten und populärsten Filmgenres des viktorianisch-britischen Kinos). Indem das Wahrnehmungsfeld mit Kindern besetzt wird, reflektiert das Kino als Medium den Wunsch, das Kind und seine Welt zu sehen und zu kennen. Dieses Sehen- und Kennenwollen sind Kennzeichen der Moderne, in der das Kind, wie Carolyn Steedman es formuliert, »beobachtet, beschrieben und gewollt wird« (»[…]watched, written about and wanted«; Übers. H.C.), Carolyn Steedman: Strange Dislocations. Childhood and the Idea of Human Interiority, 1780–1930. London, Cambridge, MA 1995, S. 9.
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3
Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Hamburg 1959, S. 9.
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4
Ebenda, S. 11.
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5
Vgl. Eric Santner: Stranded Objects. Mourning, Memory and Film in Postwar Germany. Ithaca, NY, London 1993, S. 125.
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6
Siehe Christian Metz: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino. Münster 2000.
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7
»[The baby] learns to distinguish animate objects from inanimate ones by the spectacle provided by his mother’s face« (Übers. H.C.), René Spitz: Hospitalism. An Inquiry into the Genesis of Psychiatric Conditions in Early Childhood. In: The Psychoanalytic Study of the Child, 1, 1945, S. 67.
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8
Haneke, Interview mit Serge Toubiana, The Haneke Trilogy, DVD Tartan Films 2006.
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9
Robert Bresson: Notizen zum Kinematographen. Berlin 2007, S. 22.
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10
T.S. Eliot: Beiträge zum Begriff der Kultur. Frankfurt am Main 1949, S. 122.
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11
Vgl. Haneke, Interview mit Serge Toubiana, The Haneke Trilogy, DVD Tartan Films, 2006. Bei genauerer Betrachtung ist dies eine merkwürdige Aussage, denn sie deutet auf einen Ort, der irgendwie »im« Film vorhanden ist, ohne da zu sein (abgesehen vom Nummernschild gibt es im Film offenbar keinen Hinweis auf Linz oder das Stadtbild).
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12
Spätestens seit Marcel Duchamps berüchtigter Fontaine lässt sich jedes unbearbeitete – genauer gesagt: gebrauchsfertige – Objekt zum Vergnügen und zur Verwirrung der Betrachtung, der Reflexion darbieten. In diesem Fall verleitet uns der Rahmen des Autorenfilms zu dem, was Thierry de Duve den »permanenten Skandal« nach Duchamp genannt hat: ein Urinal, das sich nicht von allen anderen Urinalen unterscheidet und in aller Frömmigkeit als Kunst bewahrt wird. Dieses »Bewahren« des gewöhnlichen Objekts auf der Leinwand hat nicht an Kraft verloren und durchzieht Hanekes Film DER SIEBENTE KONTINENT, indem dieser eine Grundfrage der Regiearbeit Hanekes stellt: Wie sieht man, was vor einem ist? Was braucht man, um etwas sichtbar zu machen?
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13
Bresson 2007, a.a.O., S. 39.
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In diesem Sinne nimmt die Eröffnungssequenz von DER SIEBENTE KONTINENT den Rhythmus in Hanekes viel diskutiertem Film FUNNY GAMES (1997) vorweg und erinnert in der Rückschau daran. Wenn FUNNY GAMES auch zwei Jahrzehnte nach seiner Premiere immer noch eine rohe Kinoerfahrung darstellt, so liegt es nicht zuletzt daran, dass die Qualen andauern: Die Familienmitglieder auf der Leinwand sind ohne Pause der Pein ausgesetzt, den Schmerz (geliebter) anderer mitanzusehen; etwa zwölf Stunden lang werden sie von zwei jungen Männern als Geiseln gehalten, die Zeit des Films und der unseligen Wette, die abgeschlossen wurde, ist die Zeit des Leidens der Familie, denn in zwölf Stunden sollen alle Familienmitglieder tot sein. Auf die Forderung eines Mannes (Ulrich Mühe), der den Schmerz nicht mehr aushält: »Macht Schluss. Es ist genug«, schaut Paul, einer der Peiniger (Arno Frisch), in die Kamera und spricht gepflegt in den Raum vor der Leinwand, an die Zuschauer gerichtet: »Ist es dir schon genug? Sie wollen doch ein richtiges Ende, mit plausibler Erklärung, oder?« Wollen Sie das? Und was heißt es, wenn Sie das wollen? FUNNY GAMES verspottet die Zuschauer*innen und deren (vorausgesetzten) Wunsch, das Leiden nicht nur zu sehen, sondern es verständlich zu machen, ihm über eine Handlung mit Anfang, Mitte und Ende eine Form und Sinn zu geben, und zielt damit auf den Skandal einer Ästhetik der Darstellung und auf die Ambivalenz, die Hanekes Werk bisweilen hervorruft: dass es die Zuschauer*innen dazu bringen kann, das, was für jemand anderen unerträglich, undenkbar, unlebbar ist, zu ertragen, darüber nachzudenken – es auszudehnen, Vergnügen daran zu finden. In diesem Fall ist es der Tod eines Kindes. Auf das Schlimmste, das passieren kann – die Eltern müssen hilflos mitansehen, wie Schorschi (Stefan Clapczynski) stirbt –, folgt in einer langen, statischen Einstellung auf den Fernseher mit seinen bedeutungslosen, lauten Bildern und Spritzern von Schorschis Blut darauf eine Art Ende. Die in einer Kameraeinstellung gedrehte Sequenz dauert etwa zehn Minuten. So zeigt FUNNY GAMES ein inzwischen klassisches Beispiel für das Zusammengehen des Todes eines Kindes mit dem nachdrücklichen Stillstand von Hanekes Kamera. Wieder fragt man sich: Wie lange dauert es, bis sich jemand oder etwas bewegt? Wie lange, bis die Kamera weiterschwenkt? Vielleicht zählen die Zuschauer*innen sogar die Minuten und haben das Gefühl, es wird nie enden (möglicherweise ein Versuch, die unendliche Trauer von Eltern über den Verlust eines Kindes filmisch umzusetzen). Mit dem Tod des Kindes ist das Spiel vorbei. Doch der Film geht natürlich weiter.
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So dürfte eine Meldung am 8. oder 9. Oktober 1987 gelautet haben, siehe Dilip Hiro: The Longest War. The Iran-Iraq Military Conflict. New York 1991.
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Der Effekt kann zugleich überraschend und bedrückend sein. In benny’s video (1992) beispielsweise füllt der Fernsehbildschirm die Leinwand aus, sodass Nachrichtenbilder aus Sarajewo das Bild der Familie (auch hier Georg, Anna und Benny) zum Filmton verdrängen: Ihre unzusammenhängende Unterhaltung erfolgt über Bilder einer Stadt in Trümmern, einer bombardierten Telefonvermittlung, eines Mannes, der offenbar um sein Leben kämpft: »Was sagen sie?« – »Nichts.«
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In diesem Film ist der Iran-Irak-Konflikt, der »längste Krieg« des 20. Jahrhunderts, in dem von 1980 bis 1988 über eine Million Menschen ihr Leben verloren, Teil einer Routine, die in der Zerstörung einer Familie und ihres Zuhauses endet. Es kommen offenbar keine Nachrichten an diejenigen durch, die zu den Bildern und Tönen ihrer Routine nachgehen. Sie sehen und hören sie nicht, als ob der Film die Herausforderung von Radio und Fernsehen für die Vergangenheit und (Zukunft) der liberalen Humanität inszeniere – denkt man etwa an Jacques Derridas lange gehegte Sorge, dass die Telemedien uns den Tod und die Gewalt und das Kriegsgeschehen, die stattgefunden haben, leugnen, neutralisieren, verdrängen und vergessen ließen; siehe Jacques Derrida / Bernard Stiegler: Echographien. Fernsehgespräche. Wien 2006).
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Maurice Merleau-Ponty: The Primacy of Perception. Evanston, IL 1964, S. 146.
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Originalzitat aus Blest Babe: »[…] who ›sinks to sleep/Rocked on his Mother’s breast; who with his soul/Drinks in the feelings of his Mother’s eye!‹« (Übers. H.C.), William Wordsworth / Jonathan Wordsworth (Hg.): The Prelude. The Four Texts (1798, 1799, 1805, 1850). Buch II, Zeilen 234ff. (1850). London 1995, S. 87; einem heutigen Herausgeber der Werke Wordsworths zufolge bietet The Prelude mit seiner Würdigung der Blickbeziehung zwischen Mutter und Säugling als Urquelle von Ich-Entwicklung und Kreativität »einen neuen humanistischen Mythos, der mit seinen psychologischen Implikationen seiner Zeit um hundert Jahre voraus war« (»[…] offers a new humanist myth with psychological implications a hundred years ahead of its time«; Übers. H.C.), ebenda, S. xxix.
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Es ist festzustellen, dass Wordsworth in seiner bemerkenswerten Schilderung der Arbeit des Schauens, Verinnerlichens und Fühlens nicht auf die Gefühlswelt der Mutter eingeht. Er lässt damit die Möglichkeit offen, dass das, was das Baby aus den Augen der Mutter aufnimmt, durchaus auch kein Segen sein kann, vgl. David Wellberys Ausführungen über die Betrachtungen des Blicks in der Romantik »als einen perfekten, wortlosen Austausch« (»a perfect, and wordless, exchange«; Übers. H.C.), David Wellbery: The Specular Moment. Goethe’s Early Lyric and the Beginnings of Romanticism. Palo Alto, CA 1996, S. 25.
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21
Vgl. Michael Eigen: The Electrified Tightrope. Northvale, NJ 1993, S. 200.
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22
Vgl. Donald Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1974, S. 129.
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23
Ebenda.
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Ebenda; interessant ist, dass das Werk des Malers Francis Bacon für die in diesem Essay von Winnicott vertretene Theorie entscheidend ist; im Hinblick auf die Ursprünge von Identität und auf das psychoanalytische Verständnis davon, wie die therapeutische Praxis gelingen kann, beruhen seine Überlegungen zur Bedeutung des Gesichts eindeutig auf Bacons Werk. Der Maler macht etwas mit dem menschlichen Gesicht – und Winnicott nutzt dies, um psychoanalytische Konzepte und seine eigene Praxis zu untersuchen.
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25
Ebenda.
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26
Ebenda, S. 78.
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27
Eigen 1993, a.a.O., S. 55.
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28
Am Ende des Kapitels zur Spiegelfunktion beginnt Winicott, die Grenzen der Interpretation in der klinischen Praxis der Psychoanalyse klarzustellen. »Psychotherapie bedeutet nicht, kluge und geschickte Deutungen zu geben«, bemerkt er zur Aufgabe des Analytikers angesichts der Entdeckung der Verbindung zwischen dem Spiegel und der Rolle der Mutter, »im großen und ganzen stellt sie einen langfristigen Prozeß dar, in dem dem Patienten zurückgegeben wird, was er selbst einbringt. Psychotherapie hat im weitesten Sinne die Funktion des Gesichts, das widerspiegelt, was sichtbar ist«, Winnicott 1974, a.a.O., S. 134f. Auch diese Erkenntnis ist an der Schnittstelle zwischen Psychoanalyse, Kindheit und Kino erst unzureichend untersucht worden, doch sie führt zu einem Verständnis des Wahrnehmungsfeldes, in dem die Interpretation den Vorstellungen der Geborgenheit, der Spiegelung und der Zuwendung möglicherweise weicht.
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Hinterfragt man den Akt des Schauens im Kino, wird der Blick in Hanekes Filmen zu einem Mittel, die Welt infrage zu stellen. Vom Kind, das zu Beginn von DER SIEBENTE KONTINENT vorgibt, nicht sehen zu können, bis hin zum getäuschten Blick der Zuschauer*innen, genauer: ihrem Starren, in der Eröffnungssequenz von CACHÉ (2005) oder zum Bild des Publikums vor der Bühne am Anfang von amour (Liebe 2012), bleibt der Akt des Schauens in Hanekes Kinofilmen durchgängig offen für Fragen, für Manipulation.
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Haneke, Interview mit Serge Toubiana, The Haneke Trilogy, DVD Tartan Films, 2006.
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Haneke, zitiert nach: Franz Grabner: Der Name der Erbsünde ist Verdrängung. Ein Gespräch mit Michael Haneke. In: Christian Wessely et al. (Hg.): Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft. Marburg 2012, S. 11.
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Theodor Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben [1951]. Berlin, Frankfurt am Main 2001, S. 8.
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»It is the purpose of my films to pose certain questions […]. If you take the viewer seriously as your partner, the only thing that you can do is to put the questions strongly. […] I think every art form today can put out only questions, not answers. It’s the fundamental condition« (Übers. H.C.), Haneke, zitiert nach: Christopher Sharrett: The World that is Known. Michael Haneke Interviewed. In: Kinoeye. New Perspectives on European Film, 4:1, 2004.www.kinoeye.org/04/01/interview01.php; siehe auch IndieWire: Decade. Michael Haneke talks »Code Inconnu« und »The Piano Teacher«, 2009. www.indiewire.com/2009/12/decade-michael-haneke-talks-code-inconnu-and-the-piano-teacher-55651/.
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»Indem die Menschen unbeantwortbare Sinnfragen stellen«, wie Hannah Arendt es ausdrückte, »qualifizieren sie sich als fragende Wesen«, Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Denken. München 1998, S. 71. In »Philosophie und Politik«, einer Vortragsreihe aus dem Jahr 1954, hatte sie bereits ein Bild des Menschen als »fragendes Wesen« entworfen sowie die apokalyptischen Folgen für die Zivilisation, falls die Menschheit je die Fähigkeit verlieren sollte, über das Unlösbare oder das, was sie auch als die »letzten« Fragen bezeichnete, nachzudenken: »Was ist das Sein? Wer ist der Mensch? Welchen Sinn hat das Leben? Was ist der Tod? etc.«, siehe Hannah Arendt: Philosophie und Politik (1954). In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 41:2, 1993, 381–400. Aus der Erfahrung des Nichtwissens heraus sind dies unerhörte Fragen, die an das erinnern, was in der Psychoanalyse Urfantasien genannt wird: Lösungen des Kindes (und der Eltern) für die Rätsel der Geburt und des Ichs, der Sexualität, der Geschlechterunterschiede und des Todes. Es sind dies Fragen, die nicht schnell an Grenzen stoßen, quasi einem erforschbaren Projekt oder einer konkreten Disziplin zuzuordnen sind. Konkret kann Arendts Darstellung helfen, zu erkennen, worum es bei Hanekes Gleichsetzung von »heutiger Kunst« und bei der Verpflichtung geht, Fragen zu stellen, wie resigniert und skeptisch auch immer diese sein mögen.
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Vgl. Bryher: The Days of Mars. A Memoir, 1940–1946. London 1972, S. 150.