Filmästhetik und Kindheit

Nichts sehen: Das Kind in Michael Hanekes "Der siebente Kontinent"

Der siebente Kontinent

Vicky Lebeau

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Titelbild

Wie auch der Tod, sind Kinder in Michael Hanekes Filmen allgegenwärtig. DER SIEBENTE KONTINENT, sein heute sehr geschätztes Kinodebüt aus dem Jahr 1989, etablierte Haneke als einen der außergewöhnlichsten und provokantesten Regisseure unserer Zeit. Die gefühlskalte Provokation besteht in der Tötung eines Kindes durch seine Eltern, die sich anschließend selbst das Leben nehmen. Es geht um den Tod in Form von Mord und Selbstmord: Eine Mutter und ein Vater beschließen, nicht in dieser Welt zu bleiben, und ein Kind sieht dem eigenen Tod erwartungsvoll entgegen.1 Der Tod von Georg, Anna und Eva (Dieter Berner, Birgit Doll und Leni Tanzer) führt zum unvergesslichen Ende des Films: die tote – oder sterbende – Familie aufgereiht vor dem Fernsehbildschirm.

DER SIEBENTE KONTINENT ist kein Film »über« Kinder, zumindest nicht direkt.2 Die Funktion des Kindes, das Haneke in diesem Film einsetzt, ist indes ungewöhnlich: Er zeigt ein junges Mädchen, das den eigenen Tod willkommen heißt, aber nicht durch die eigene Hand stirbt. Anders ausgedrückt, ein Kind steht vor der Frage, die für Albert Camus zentral ist: Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord«3 – oder die Frage, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden, und zwar als Tochter eines Elternpaars, dessen Leben (mit Camus’ Worten) vom »Fehlen jedes tieferen Grundes zum Leben«4 überschattet ist.

Ich möchte nachfolgend die Eröffnungssequenz von DER SIEBENTE KONTINENT und seine Bedeutung für den Forschungsgegenstand Kino und Kindheit in den Blick nehmen. Zur Debatte steht nicht – oder nicht nur – das Bild des Kindes auf der Leinwand. In den Anfangsszenen bekommt der Zuschauer das Mädchen nämlich kaum zu sehen. Der Auftakt zu DER SIEBENTE KONTINENT, seine Choreografie des Blicks, die mit dem On und Off spielt, ist stattdessen von einem augenfälligen Verschwinden des menschlichen Gesichts aus dem Bild gekennzeichnet. Dieses Verschwinden, so meine These, eröffnet uns die Sphäre des infans – also der frühesten Bindungen zwischen Säugling und Welt –, in der die Reflexion, das heißt die zwischen dem Selbst und dem Anderen getauschten, gespiegelten Blicke, für das (Mensch-)Werden entscheidend ist. In diesem Sinne fungieren die Eröffnungsszenen als Erinnerung an unsere Anfänge, als wir »Augen brauchten, die den Blick erwidern«, ein Bedürfnis, das laut Eric Santner Teil der »Triebkraft« wird, die unsere Beziehung zum Kino bestimmt.5

Die Eröffnungssequenz von DER SIEBENTE KONTINENT verstößt gegen den grundlegenden Code der Filmsprache, dass Figuren sich anschauen, wie Christian Metz es ausdrückt, und verleiht der Nichterfüllung dieses Bedürfnisses damit eine kraftvolle visuelle Form: Das Verschwinden des menschlichen Gesichts, die Abwendung des Blicks, bestimmt die Haltung und führt das Publikum hinein in die Lebenswelt des Films.6 Um diese Lebenswelt zu verstehen, greife ich auf die Arbeit von Donald Winnicott zurück. Bei den Studien im Grenzbereich von Psychoanalyse und Wahrnehmung vollzieht sich heute eine Hinwendung zu den Schriften Winnicotts, um über die Konzepte Lacans hinauszudenken, die die psychoanalytische Filmtheorie beherrschen. Gestützt auf Winnicotts Psychoanalyse, versucht der vorliegende Artikel die Verbindungen zwischen Kindheit und Kino zu beleuchten. Die hierin vorgestellten Überlegungen untersuchen die Erfahrung des Negativen – Verlorenheit, Nichtanwesenheit, Leere, Verschwinden –, die in Hanekes Kinofilmen am Werk ist. Anhand von Winnicotts Psychoanalyse werden diese in einen weiteren Zusammenhang gestellt. Das genannte Negative ist demnach eine Grundstruktur der menschlichen Wahrnehmung, genauer gesagt: der frühkindlichen Erfahrung und der Ursprünge des Selbst.

Dieser Beitrag erschien 2017 in dem Sammelband "Kino und Kindheit".

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