Der filmische Schaffensprozess und das Spiel in der Kindheit

Nicht jeder Film mit Kindern handelt auch von Kindheit. Den Anteil von Kindheit in Filmen kann man in drei Kategorien unterteilen:
Am offensichtlichsten sind erstens Filme mit Kinderfiguren, in denen es auch um Kindheit geht: Dazu gehören LES 400 COUPS (Sie küssten und sie schlugen ihn; 1959) von François Truffaut, EL ESPÍRITU DE LA COLMENA (Der Geist des Bienenstocks; 1973) von Victor Erice, die ersten Filme von Abbas Kiarostami, PONETTE (1996) von Jacques Doillon, A PERFECT WORLD (1993) von Clint Eastwood und alle Filme, deren Kinderfiguren Kindheit, das heißt die Fähigkeit zu spielen, verkörpern.
Es gibt aber auch Filme, in denen die Kinderfiguren »falsche« Kinder sind, nichts weiter als Projektionen von Erwachsenen oder Marionetten des Drehbuchs, Kinder, die keine echte Kindheit in sich tragen. Oft werden diese Kinder von kleinen »professionellen« Schauspieler*innen in der Art dressierter Hunde gespielt. Die zweite Kategorie umfasst Filme mit Kinderfiguren, denen eine echte Kindheit verwehrt ist, die das Leben um den Status der Kindheit beraubt hat. Es handelt sich um Filme mit Kindern, die von klein auf in eine Welt geworfen wurden, die ihnen keinen Raum mehr für Spiele lässt: GERMANIA ANNO ZERO (Deutschland im Jahre Null; 1948) von Roberto Rossellini repräsentiert diese Kategorie am besten. Die Realität (des Krieges, der Verantwortung für die Familie, der Krankheit seines Vaters) hat in Edmund (Edmund Meschke) alle Fähigkeit zum Spielen und damit auch die Fähigkeit, zu leben, abgetötet. Kurz vor seinem Gang in den Tod wird Edmund von kleineren Kindern zurückgewiesen, die in den Ruinen Ball spielen und ihn nicht in ihre kleine Gemeinschaft aufnehmen. Diese Unmöglichkeit des Spielens wird Edmund in den Selbstmord treiben. In MOUCHETTE (1967) von Robert Bresson wird die Titelfigur (Nadine Nortier) von der Gemeinschaft der gleichaltrigen Mädchen ihres Dorfes ausgestoßen und ihr einsames Spiel, das Herunterrollen eines Abhangs am Teichufer, mündet ebenfalls in Selbstmord. Im Laufe des Films wurde sie mit dem Bösen, dem Tod und sexueller Gewalt konfrontiert, was sie aus jeglicher Kindheit ausschließt. Nur einmal hat sie gespielt, beim Autoskooter, und sich damit die öffentliche Ohrfeige ihres Vaters eingehandelt. Und der kleine Junge (Billy Chapin) in THE NIGHT OF THE HUNTER (Die Nacht des Jägers; 1955; R: Charles Laughton) ist durch ein Geheimnis und die Verantwortung für seine kleine Schwester in solchem Maße gebunden, dass er im Gegensatz zu ihr nicht mehr am Spielen interessiert ist.
Die dritte Kategorie – diejenige, die uns hier interessieren wird – sind Filme ohne Kinder, in denen aber Kindheit vorkommt. Und zwar auf zwei Ebenen: Die erwachsenen Figuren finden in der Handlung ihre kindliche Fähigkeit zum Spielen wieder. Und der Regisseur, die Regisseurin klammert zumindest zeitweise die produktivistische Logik des Drehbuchs aus und fängt ebenso wie die Figuren an, frei Kino zu spielen, ohne sich um den narrativen Nutzen zu kümmern. Die Fähigkeit zum Spielen zeichnet in solchen Filmen daher sowohl die Filmemacher*in als auch die Figur(en) aus. Wir werden uns hier speziell mit Jean-Luc Godards PIERROT LE FOU (Elf Uhr nachts; 1965) beschäftigen, hätten dieser Frage aber genauso gut an BADLANDS (Zerschossene Träume; 1973) von Terrence Malick, VIVEMENT DIMANCHE! (Auf Liebe und Tod; 1982) von Truffaut, DU CÔTÉ D’OROUËT (1971) von Jacques Rozier oder L’AMOUR FOU (Amour fou; 1969) von Jacques Rivette nachgehen können.
Dieser Artikel erschien 2017 in dem Sammelband Kino und Kindheit.
Was ist Spielen? – Spielen nach Donald W. Winnicott
Für Winnicott ist künstlerisches Schaffen das erwachsene Erbe der frühkindlichen Spielfähigkeit. Spielen entwickelt sich in einem genau umrissenen, intermediären Raum zwischen Mutter und Kleinkind und verläuft in diesem Spielbereich über den Austausch von Objekten, die Winnicott Übergangsobjekte nennt. Dieser Austausch bildet die Grundlage von Fantasie, Wunschvorstellungen und Kreativität. Er verstärkt die Fähigkeit zur Empathie, zum Austauschen und zum Schenken: Sich in den anderen hineinzuversetzen ist das Wesen des Spielens. Kleinkinder, denen weder der Raum noch der spielerische Austausch mit der Mutter (oder ihrem Ersatz) zuteil wurde, deren Mutter nicht mit ihnen spielen konnte oder wollte, werden als Erwachsene weniger imstande sein, ihr Leben zu gestalten, weniger Empathie mit anderen haben und schlimmstenfalls lebensunfähig sein.
Nach Winnicott ist der Raum dieses Austauschs anfangs wichtiger als das Übergangsobjekt selbst: »In diesem Spielbereich bezieht das Kind Objekte und Phänomene aus der äußeren Realität ein und verwendet sie für Vorstellungen aus der inneren, persönlichen Realität.«1
Dieser Spielbereich funktioniert als genau abgegrenzter eigener Bereich in der äußeren Welt. Später, wenn sich das Kind bewusst ins Spielen versenkt, zieht es einen Kreis um sich, der einen Teil der Welt absondert und zum Raum des Spielens, des Austauschens bestimmt. In diesem Kreis stellt das Kind die Regeln auf: »Du bist der Vater, ich bin die Mutter, das ist das Kinderzimmer usw.«, um sich mit dem anderen (der nicht mehr die Mutter ist) im Spiel auszutauschen.
Nach Winnicott ist dieser Zwischenbereich »für den Einzelnen gewissermaßen etwas Geheiligtes, denn in diesem Bereich erfährt er, was kreatives Leben ist.«2 Demnach ist Spielen das Schaffen eines spezifischen und einzigartigen Raums, der gleichzeitig zur Realität der äußeren Welt und zur inneren Welt des Kindes gehört.
Wie ein Kind unterteilt ein Filmemacher die Welt in raumzeitliche Bereiche (die Einstellungen) und verwendet Objekte und Körper, die ihm in der Wirklichkeit zur Verfügung stehen. Viele Filme gründen ihre Poesie und Freiheit auf diese Ähnlichkeit zwischen dem Spielen und dem filmischen Schaffensakt. Für einen Regisseur bedeutet das Filmemachen, für sich, seine Darsteller*innen (die er bittet, zu »spielen«) und seine Techniker einen gemeinsamen Spielbereich zu schaffen.
In einem Winnicott-Sonderheft der Zeitschrift L’arc schreibt Bernard Pingaud: »Der Status des Übergangsobjekts basiert auf einem Paradoxon: ›Das Kleinkind erschafft das Objekt, aber das Objekt war bereits vorher da, um geschaffen und besetzt zu werden‹ [...] Dieses Paradox wird niemals infrage gestellt: weder innerhalb noch außerhalb kann das Objekt funktionieren, wenn es nicht gleichzeitig als erschaffen und als vorgefunden wahrgenommen wird.«3
Das könnte eine Definition filmischer Kreativität sein, wo Erschaffen immer das Erfinden von etwas schon Vorhandenem ist. Film – wenn er nicht auf künstlich hergestellte Bilder zurückgreift – ist die einzige Kunst, deren Schöpfer ontologisch gezwungen ist, der äußeren Realität entliehene Fragmente zusammenzustellen.
Auch das filmische Schaffen treibt sein Spiel in einem gleichzeitig inneren (das sogenannte »Universum des Autors«) und äußeren (die Welt) Zwischenbereich, einem Freiraum zwischen Vorstellung und Realität. Beim Spielen, wie im Film, ist ein Objekt immer sowohl vorgefunden als auch geschaffen.
Doch auch, wenn diese ontologische Beschränkung für alle Filmemacher*innen gilt, greifen nur wenige sie auf, um sich an ein spielerischeres Kino heranzuwagen, das sich nicht den Zwängen wirtschaftlicher Rendite unterwirft, die eine geregelte Lenkung der Handlung und des Sinns verlangen. Wie auch in der Literatur nicht jeder, der schreibt, die Möglichkeiten von Sprache, mit Worten und Klängen zu spielen, poetisch nutzt und sich von den Zwängen von Syntax und Sinn befreit.
Der Spielplatz
In Filmen ohne Kinder, aber mit Kindheit bedarf das Spielen eines deutlich abgegrenzten Raums, um sich zu entfalten. Dieser Spielbereich hat im Kino oft etwas Insulares, selbst wenn der Film nicht auf einer wirklichen Insel spielt. In BADLANDS ist es eine Art Insel zwischen zwei Flussarmen, in L’AMOUR FOU eine Wohnung, in die sich das Paar nach Abbruch der Theaterproben zurückzieht, in DU CÔTÉ D’OROUËT eine Strandvilla und in VIVEMENT DIMANCHE! seltsamerweise das Büro einer Immobilienagentur, das wie eine kleine Insel mitten in der Stadt liegt, ein Ort außerhalb des sozialen Lebens, der sich auf unerklärliche Weise dem Zugriff der Krimihandlung entzieht.
Für PIERROT LE FOU hat Godard diesen Spielbereich auf der Mittelmeerinsel Porquerolles vor der Côte d’Azur gefunden. Im Roman, der Godard als Vorlage diente (Obsession von Lionel White; 1962 – deutsch: Kein Weg zurück; 1964), gibt es keine Insel im eigentlichen Sinn, das Insulare ist aber in Form einer einsamen Ranch mitten in der Wüste vorgegeben.
Eine Insel ist ein Raum mit starkem Spielpotential, denn sie ist immer ein abgelegener, ein begrenzter und abgegrenzter Raum, ein Raum für Spiel und re-création (Erholung, wörtlich: »Neu-Schöpfung«), der auf natürliche Weise von der Kontinuität der Wirklichkeit abgeschnitten ist. Sie ist bereits ein Zauberkreis, der sich für eine Neuerfindung der Welt anbietet. Der Filmemacher kann sie nach seinem Gutdünken mit Figuren bevölkern, um dort »Kino zu spielen«. In einem sehr schönen Text, Ursachen und Gründe der einsamen Inseln, hat Gilles Deleuze die Affinität der Insel mit der Schöpfung analysiert: »Von den Inseln träumen, ob mit Angst oder mit Freude, heißt davon träumen, dass man sich trennt, bereits getrennt ist, fern von den Kontinenten, dass man allein und verloren ist – oder aber träumen, dass man wieder bei Null beginnt, dass man neu erschafft, dass man von vorne anfängt.«4 »Zunächst freilich findet dank der Insel nicht die Schöpfung selbst statt, sondern die Neuschöpfung, nicht der Beginn, sondern der Wiederbeginn. Sie ist der Ursprung, jedoch der zweite Ursprung. Dank ihrer beginnt alles von Neuem. Die Insel ist das notwendige Minimum dieses Neubeginns, das Material, das den ersten Ursprung überlebt hat, der Kern oder das strahlende Ei, das ausreichen muss, um alles zu reproduzieren.«5 Deleuze entwickelt dann eine Beziehung zwischen einer Ursprungskatastrophe und einer Wiedergeburt auf der Insel, wobei er bemerkt, dass die Erschaffung der Welt »in zwei Takten, zwei Stufen, Geburt und Wiedergeburt, vor sich geht, dass die zweite ebenso notwendig und wesentlich ist wie die erste, dass also die erste notwendig kompromittiert ist, für eine Wiederholung geboren und in einer Katastrophe schon wieder verneint. Nicht weil es eine Katastrophe gegeben hat, gibt es eine zweite Geburt, sondern umgekehrt, es gibt eine Katastrophe nach dem Ursprung, weil es von Anfang an eine zweite Geburt geben muss.«6
So ist es kein Zufall, wenn Godard sich in PIERROT LE FOU vorstellt, dass das Paar – Ferdinand Griffon genannt Pierrot (Jean-Paul Belmondo) und Marianne Renoir (Anna Karina) – sich schon kannte und sich zu Anfang des Films wiederfindet, bevor es die Großstadt und die Gesellschaft verlässt und auf eine einsame Insel zieht. Es handelt sich nicht um die Geburt einer Liebe, sondern um deren Wieder-Geburt. Die Katastrophe, die in die insulare Wieder-Geburt mündet, ist in diesem Film das metaphorische Feuerwerk, die Leiche mit dem Meißel in der Kehle, das verbrannte Auto mit seinen toten Insassen.
Um wiedergeboren zu werden, muss sich das Paar, das per Zufall wieder-aufeinandergetroffen ist, von allem entledigen, was aus seinem ersten Leben stammt: des Geldes (im Kofferraum des Wagens), der Kleider (in der Szene mit der Zirkusmusik) und schließlich sogar des gestohlenen Autos, das im Meer versenkt wird. Es muss mehrere Demarkationslinien überschreiten (die Land-Meer-Grenze der Petit Rhône, die sie zu Fuß durchwaten), um auf die einsame Insel zu gelangen.
Bei der Ankunft auf der Insel filmt Godard Pierrots und Mariannes buchstäbliche Wieder-Geburt als neues Urpaar Adam und Eva, die aus dem Sand wie »aus Lehm« erstehen.



Inseln als natürliche Spielplätze sind Schauplatz vieler Filme, die mit dem Spielen zu tun haben. Doch Inselfilme unterteilen sich in zwei antinomische Spiel-Kategorien, die Winnicott als game und als play unterscheidet. Das game ist anders als das play keine schöpferische Tätigkeit.7 Das game wird von strengen Regeln bestimmt und tendiert zur Obsession, zur Paranoia oder zum Ritual. Insulares Eingeschlossensein begünstigt Paranoia. In THE MOST DANGEROUS GAME (Graf Zaroff, Genie des Bösen; 1932) von Ernest B. Schoedsack oder in BATTLE ROYALE (Batoru rowaiaru; 2000) von Kinji Fukasaku ist die Insel ein Wettkampffeld. In beiden Filmen wird sie zum Kampfplatz eines tödlichen Spiels um absolute Macht, das Gegenteil des lebendigen und kreativen Kinderspiels. Die Spielregeln werden von einem paranoiden Meister erlassen, der seine Insel zu einem Raum der Macht über andere gemacht hat, der Macht, zu manipulieren und den Tod zu geben. Spielen folgt hier einem Zwang, wird zur Unterwerfung, die zum Tod führen kann. Das Spiel ist simuliert, denn der Tyrann beherrscht den Raum und die Regeln des Spiels, das er seinen Opfern aufgezwungenen hat: es ist also niemals kreativ. Spielen im Sinne von play muss – laut Winnicott – dagegen ein spontaner Akt sein und nicht Ausdruck von Unterwerfung oder Einwilligung.
In PIERROT LE FOU wie in SOMMAREN MED MONIKA (Die Zeit mit Monika; 1953) von Ingmar Bergman ist die Insel hingegen sowohl für den Filmemacher als auch für seine Figuren ein freier Raum für kreatives Spielen.
Das Spielen in PIERROT LE FOU
Godard, der in den 1960er Jahren viel »Kino gespielt« hat, hat im Mai 1967 ein kleines Gedicht geschrieben, mit dem er daran erinnert, dass Kino »ein Kinderspiel« sei: »Ich spiele/ Du spielst/ Wir spielen/ Kino/ Du glaubst, es gibt/ Eine Spielregel/ Weil du ein Kind bist/ Das noch nicht weiß/ Dass es ein Spiel ist und dass es/ Den Großen vorbehalten ist/ Zu denen du schon gehörst/ Weil du vergessen hast/ Dass es ein Kinderspiel ist […]«8
Als er PIERROT LE FOU drehte, hat Godard oft vom Kino als einem Spiel gesprochen. In Pierrot mon ami schreibt er: »Diese doppelte Bewegung, die uns auf die anderen projiziert, während sie uns gleichzeitig in unser tiefstes Inneres zurückführt, definiert das Kino auf körperliche Weise. Ich beharre auf dem Wort körperlich, das in seiner einfachsten Bedeutung zu nehmen ist. Man könnte fast sagen greifbar, um es von den anderen Künsten zu unterscheiden.«9
Diese Definition eines Kinos, das gleichzeitig innerlich und äußerlich ist und das ein physisches, greifbares »Objekt« produziert, passt exakt zu Winnicotts bereits zitierter Definition des Übergangsobjekts: »In diesem Spielbereich bezieht das Kind Objekte und Phänomene aus der äußeren Realität ein und verwendet sie für Vorstellungen aus der inneren, persönlichen Realität. Das Kind lebt mit bestimmten, aus seinem Inneren stammenden Traumpotentialen in einer selbst gewählten Szenerie von Fragmenten aus der äußeren Realität, ohne dass man dabei von Halluzination sprechen könnte.«10
In PIERROT LE FOU tritt die künstlerische Kreativität ein Erbe reinsten Wassers der Bedingungen und Modalitäten des Kinderspiels an. Die Ankunft auf der Insel bedeutet in diesem Film, wie in seinem strukturellen Vorbild SOMMAREN MED MONIKA, freiwillig die Gesellschaft zu verlassen und sich zur Rückkehr zum Garten Eden, zur Kindheit, zur kreativen Freiheit zu entscheiden. Ferdinand verlässt die Welt der gesellschaftlichen Verpflichtungen und der Rendite: seine Frau, seine Tochter, seine Arbeit. Marianne flieht vor der Welt der Gangster, in die sie geraten ist.
Anders als in Filmen mit unfreiwilligen Schiffsbrüchigen, sind Pierrot und Marianne freiwillige Schiffsbrüchige und finden auf der Insel anfangs zum sinnfreien Kinderspiel zurück. Frankreich zu Fuß zu durchqueren, das Auto ins Meer zu fahren, sind Befreiungsakte, sind Einforderungen einer ursprünglichen körperlichen Freiheit. PIERROT LE FOU ist ein idealer Film, um zu erklären, dass im kreativen Schaffen wie im Spielen die Welt zuerst zerstört werden muss, um sie wieder aufbauen zu können. Wie Kinder, die damit anfangen, die Wirklichkeit und ihre Beständigkeit zu leugnen, um sie in ihrer Spielwelt in einem abgesteckten Bereich anhand von realen Gegenständen mit neuen Definitionen, neuen Zusammenstellungen und neuen Regeln wiederaufzubauen: »Das ist mein Pferd, das ist das Schloss der Feinde, das ist das Versteck im Wald usw.«
Godard bezieht Fragmente von Porquerolles ein, aber wenn man wirklich auf der Insel ist, stellt man schnell fest, dass er ihre Morphologie dekonstruiert hat, angefangen damit, dass er sich der Landschaft als Ganzes verweigert, um willkürlich, nach seinem persönlichen Gusto die Fragmente hervorzuheben, die er brauchte, um »seine« reale und gleichzeitig mythische, äußere und gleichzeitig innere Insel zu schaffen. Man kann an der Realität dieser Insel sehen, was er alles nicht in seinen Film einschreiben wollte: Vom Dorf sieht man beispielsweise nur die Rückfront eines Hauses, obwohl es dort einen großen Platz, Geschäfte und Restaurants gibt.
In Romanen oder Filmen von Schiffbrüchigen und natürlich in paranoischen Filmen versuchen die Figuren stets, sich rasch eine Übersicht über die Insel zu verschaffen, um das Gebiet, an dem sie gestrandet sind, zu begreifen und besser für ihr Überleben gewappnet zu sein. So eine Übersicht wäre auf Porquerolles möglich, doch Godard verweigert eine Einstellung in Aufsicht, die eine wirkliche, umfassende Vorstellung von der Anlage der Insel geben würde. Der insulare Raum soll in seinem Film imaginäre Landschaft bleiben, bestehend aus getrennten und wieder zusammengesetzten Fragmenten.
Die Behandlung, die er in der Wohnung, in der Marianne eingesperrt ist, dem Picasso-Gemälde zuteilwerden lässt, folgt demselben Prozess der Fragmentierung, Dekonstruktion, Rekonstruktion. Godard spielt damit, das Gemälde in seine Einzelteile zu zerschneiden und wie Puzzleteile neu zusammenzusetzen, wobei der ruckartige Schnitt dem Zuschauer ein Gefühl des visuellen Rutschens und Schwindels vermitteln soll.
Übergangsobjekte und Spiele mit dem Signifikanten in PIERROT LE FOU
Das Übergangsobjekt (der Teddybär, das Fläschchen, der Zipfel der Decke, das Schmusetuch usw.) ist für das Kleinkind ein Hilfsmittel gegen die Angst vor der Trennung von seiner Mutter. Es verleiht ihm die Illusion der Allmacht angesichts einer Abwesenheit und das tröstende Gefühl, sie symbolisch aufzuheben. Das Kleinkind gibt sein Übergangsobjekt im Allgemeinen vor dem Alter von acht Jahren auf, wenn es fähig wird, auf autonome Weise mit der Abwesenheit und der Angst, die sie auslöst, umzugehen. Aber manchmal erhalten sich bis ins Erwachsenenalter hinein Reste von Schmuseobjekten, die ein Gefühl von Geborgenheit verleihen.
Godard hat jeder seiner Hauptfiguren ein Übergangsobjekt beigegeben: Mariannes Handtasche in Form eines Hundes, ihr »Erwachsenen-Teddybär« (der direkt von Ginnys/Shirley MacLaines Handtasche aus SOME CAME RUNNING abstammt [Verdammt sind sie alle; 1958; R: Vincente Minnelli]), und Ferdinands Comic-Heft Les Pieds nickelés.11 Diese beiden Objekte werden sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit den ganzen Film über begleiten. Zum Wesen eines Übergangsobjekts gehört, dass es unzerstörbar und unverwüstlich ist und nicht verloren gehen kann.
Zwei weitere Objekte sind mit Ferdinand verbunden: sein Schreibheft und die Taschenausgabe von Élie Faures Geschichte der Kunst. Sein Heft verliert er, Marianne findet es am Strand wieder und gibt es ihm im Hafen von Toulon wieder, womit ihr Wiedersehen besiegelt wird. Aber die Figur Pierrot-Ferdinand teilt sich dieses Übergangsobjekt mit dem Filmemacher, der ihm seine Handschrift leiht, seine Kalligrafie und seine bunten Filzstifte. Élie Faures Buch taucht seinerseits ganz unerwartet und überraschend, wie von Zauberhand im Kinosaal von Toulon wieder auf, denn es ist kaum denkbar, dass Ferdinand es vom Badezimmer seiner Pariser Wohnung aus, wo er seiner kleinen Tochter daraus vorlas, während der ganzen Reiserei mit sich herumgeschleppt hätte. Ein Übergangsobjekt hat immer etwas Magisches und manifestiert sich dann, wenn es gebraucht wird.


Das Spielen in PIERROT LE FOU ist auch das Spielen Godards, des Filmemachers und bildenden Künstlers, der mit den Signifikanten spielt. Wie gewöhnlich spielt Godard mit Worten, ihrer Bedeutung und ihrem Klang, aber auch mit ihrer grafischen Materialität. Schon im Vorspann erscheinen die Worte auf rätselhafte Weise Buchstabe für Buchstabe, wobei sich ihr Sinn erst am Ende dieses lettristischen Spiels ergibt. Später spielt Godard mit den Farben von Buchstaben und den Kadrierungen von Worten in gewohnter Manier, die Buchstaben, die ein Wort ausmachen, und bringt die OAS12 in OASIS (»Oase«) zum Vorschein, die SS in ESSO und das Leben, vie, in RIVIERA – getreu seiner Formel von MASCULIN FÉMININ (Masculin - Feminin oder: Die Kinder von Coca Cola; 1966): »dans masculin il y a cul« (wörtlich: »in männlich gibt’s Arsch«).


Aber für den Filmemacher Godard ist das bevorzugte Übergangsobjekt natürlich das Kino selbst und die Filme, die er in den Jahren der Ausbildung seiner Cinephilie lieben gelernt hat. Sicher mehr als in allen seinen anderen Filmen besteht in PIERROT LE FOU das Spielen darin, bestimmte Szenen aus seinen bevorzugten Filmen zu zitieren und umzuformen. Er verwendet sie niemals als legitimierende, kulturelle Referenzen, sondern spielt mit unbändiger Freude das Spiel, sie zu verformen und neu zu erschaffen – so wie Picasso Las Meninas (Die Hoffräulein, 1656) von Velázquez neu erfindet oder Francis Bacon Velázquez’ Portrait von Papst Innozenz X (1650). Den ganzen Film über spielt Godard mit Situationen und Szenen aus Bergmans SOMMAREN MED MONIKA, dessen Remake er in gewisser Weise ist. Aber die Liste der in PIERROT LE FOU umgestalteten Szenen anderer Filme, die Godard beim Dreh im Kopf hatte, ist lang. Hier einige Titel bunt gemischt: THEY LIVE BY NIGHT (Im Schatten der Nacht; 1949) von Nicholas Ray, A KING IN NEW YORK (Ein König in New York; 1957) von Charles Chaplin, JOHNNY GUITAR (1954) von Ray, RUBY GENTRY (Wildes Blut; 1952) von King Vidor, GONE TO EARTH (Die schwarze Füchsin; 1950) von Michael Powell und Emeric Pressburger, SOME CAME RUNNING von Vincente Minelli, DIAL M FOR MURDER (Bei Anruf Mord; 1955) von Alfred Hitchcock, LA PAURA (Angst; 1955) von Rossellini, YŌKIHI (Die Prinzessin Yang; 1955) von Kenji Mizoguchi.
Mehrmals kommt es vor, dass auch die Filmfiguren auf ihre eigenen Filmerinnerungen anspielen: »Ich erinnere mich an ein Ding aus einem Film von Laurel und Hardy …«, »Sieht aus wie die Kulissen aus PÉPÉ LE MOKO [Im Dunkel von Algier; 1946; R: Julien Duvivier]…« usw.
Die Typologie des Spielens nach Roger Caillois
Winnicott hat seine Theorie des Spielens ausgehend von seinen Erfahrungen als Psychoanalytiker erarbeitet, basierend auf der engen Beziehung, die er im Verlauf der Behandlung zu Kleinkindern und ihren Müttern hatte. Caillois hat sich dem Spielen hingegen aus einem anderen Blickwinkel genähert, mit dem umfassenden und beschreibenden Blick des Soziologen, der die als soziale Tätigkeit betrachteten Spiele von Erwachsenen definieren und klassifizieren will. Dieser radikale Unterschied in der Reflexionshaltung hat beide aber nicht daran gehindert, in wesentlichen Aspekten des Spielens übereinzustimmen, das Caillois als: freiwillig, begrenzt, ungewiss, unproduktiv, geregelt und fiktiv definiert.
In Die Spiele und die Menschen klassifiziert Caillois »vier Hauptrubriken, je nachdem, ob innerhalb des jeweiligen Spiels das Moment des Wettstreits, des Zufalls, der Maskierung oder Rausches vorherrscht.«13 Alle vier Grundkategorien kommen in PIERROT LE FOU vor, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, je nach ihrer Affinität zum Kino als Spiel.
Erstens, der Wettkampf (Agôn) ist schwach vertreten, da die zu dieser Kategorie gehörenden Spiele mit ihren festen Regeln und ihrem »Renditedenken« (gegen die anderen zu gewinnen) kaum vereinbar sind mit der offenen Freiheit des play, die Godard für sich als Schöpfer wie auch für seine Figuren als »kreative« Kreaturen anstrebt. PIERROT LE FOU beginnt mit Bildern junger Tennis spielender Frauen. Tennis als Wettkampf ist ein reglementierter Sport (ein game), aber Godard hat überhaupt kein Interesse an diesem Aspekt der Szene und filmt einzig die anmutigen Bewegungen der jungen Frauen, ihr Vergnügen am playing, das sich mit seinem eigenen Vergnügen mischt, sie zu betrachten und diskret und unverhofft in schönem Licht filmen zu können. Vor der finalen Katastrophe trifft Ferdinand Marianne – die in T-Shirt und enger Jeans stark sexualisiert ist – auf einer Bowlingbahn wieder, wo sie für sich alleine spielt. Auch Bowling ist ein Wettkampfspiel, aber Raoul Coutards Kamera interessiert sich mehr für die physische Fortbewegung der Kugel, als für das Ergebnis, denn Marianne spielt mit hohem Einsatz um ihre Beziehung zu Ferdinand.
Zweitens, das Glücksspiel (Alea): In den 1960er Jahren steht das Spiel mit dem Zufall im Zentrum von Godards kinematografischem Gestus; berühmt wurde seine Formulierung: »Was ich will, ist das Entscheidende durch den Zufall zu treffen.« PIERROT LE FOU ist ein Film, der in Wahrheit erheblich weniger improvisiert war, als Godard seiner Legende getreu behauptet hat. Wie in allen seinen Filmen dieser Periode hat der Ablaufplan »Spiel«: vor Drehbeginn in großen Zügen erstellt, aber von Fall zu Fall ganz zufällig ausgeführt. Und wie gewöhnlich integriert Godard Zufallsfunde und Zufallsbegegnungen während des Drehs, wie die mit Prinzessin Aicha Abadie oder mit den Stammgästen jener Bar am Straßenrand, in der Pierrot und Marianne bei ihrer Fahrt in den Süden Zwischenstopp machen – Figuren des realen Lebens, die in den Film aufgenommen wurden.
Der Schnitt gilt gemeinhin als eine Phase der Kontrolle, in welcher der Zufall, der während der Dreharbeiten eine Rolle gespielt haben mag, für gewöhnlich aufgegeben und ausgemerzt wird, um Logik und Zusammenhang des Films aufrechtzuhalten. Godard hingegen spielt auch beim Schnitt gelegentlich mit dem Zufall. Seine Cutterin, Françoise Colin, erzählt, dass Godard ihr eines Tages, als er in einer Sequenz ein Insert brauchte, für das er keine Idee hatte, sagte, er wolle den Zufall entscheiden lassen.14 Gegen Ende der Dreharbeiten hatte Godard eine Serie von Gemälden ohne genaue Bestimmung für den Film abgefilmt und Françoise Colin hatte aus jeder dieser Einstellungen eine kleine Filmrolle gemacht. Beim Schnitt Godard hat sich dann auf gut Glück, ohne zu wissen, um welches Gemälde es sich handelt, eine dieser Rollen gegriffen und gesagt: »Das schneiden wir rein.« Es war van Goghs Caféterrasse am Abend: Der Zufall hätte es für diese Episode nicht besser treffen können, in der Ferdinand und Marianne Frankreich in südlicher Richtung durchqueren und zwangsläufig an Arles vorbeikommen. Später hat Godard Belmondo einen Satz im Off sprechen lassen, der dieser durch Zufall gewählten Einstellung etwas Entschiedenes verleiht: »Ich habe das Café gesehen, in dem van Gogh eines schrecklichen Abends beschlossen hat, sich das Ohr abzuschneiden.«
Ferdinand schlägt Marianne gegen Ende des Films vor, bis 137 zu zählen, bevor er zu ihr komme, so wie Kinder beim Versteckenspielen zählen, bevor sie sich nach ihren Mitspielern umsehen. Marianne aber wird falschspielen und mit dem Boot ihres falschen Bruders flüchten, bevor Pierrot sie einholen kann. Sie bedient sich des von ihrem Partner vorgeschlagenen Spiels, um das Spielfeld zu verlassen, ihn zu verraten und ihre Schicksalswürfel ein letztes Mal zu werfen.
Drittens, Spiele mit Illusion und Schein (Mimicry), bei denen es darum geht, »zu spielen, ein anderer zu sein« und sich zu verkleiden, sind in PIERROT LE FOU allgegenwärtig. Marianne und Ferdinand spielen oft wie Kinder, anders zu sein, als sie in der Erwachsenenwelt sind: »Wir sind Adam und Eva, die aus dem Lehm kommen.«, »Wir sind Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel.«, »Wir leben von Jagd und Fischfang.«, »Wir sind ein amerikanischer Soldat und eine Vietnamesin.«, »Ich bin Michel Simon.« usw. Marianne gibt Ferdinand sogar einen anderen Namen, Pierrot, und verschafft ihm so eine Art Doppelgänger. Von Anbeginn ihrer Reise, als sie im Café am Straßenrand halten, um etwas Geld zu verdienen und zu tanken, stürzen sie sich in ein Theaterspiel, in dem sie sowohl an Aucassin et Nicolette erinnern, an Georges Guynemer und an Nicolas de Staël und seinen Selbstmord (den Pierrot am Ende ebenfalls ausführen wird).15 Um auf der Insel erneut Geld zu erbetteln, werden sie sich verkleiden, schminken und vor amerikanischen Soldaten, denen sie ein paar Dollar abknöpfen, eine kleine Theateraufführung improvisieren. Belmondo und Karina haben an diesem Maskenspiel offensichtlich ihre kindliche Freude. In der Szene, in der Karina den Strand entlangläuft und immer wieder sagt: »Was soll ich bloß anfangen? Ich weiß nicht, was ich machen soll.«, spielt sie ein schmollendes Kind, das die Aufmerksamkeit der Eltern will. In dieser Szene besteht die spielerische Regression in der Nachahmung eines kindlichen Verhaltens, das der Schauspielerin sichtbar Spaß macht.

Bisweilen spielt Godard damit, seine Figuren im Bild durch gemalte Doppelgänger zu ersetzen, durch Figuren der Gemälde, deren Reproduktionen er an die Wände seiner Kulissen geheftet hat. In der Szene, in der sie am Morgen nach der mondänen Abendgesellschaft in Mariannes Appartement aufwachen, verdoppelt Godard Pierrot in einigen Einstellungen, indem er statt seiner Picassos Pierrot mit Maske filmt und ersetzt Marianne durch eine Reproduktion von Auguste Renoirs Mädchen mit der Gießkanne oder einer von Amedeo Modigliani gemalten Frau. Mehrere Gemälde von Picasso werden im Laufe des Films zu Doppelgängern, zu Scheinbildern der Figuren und ihrer Darsteller*innen.


Viertens, die Rauschspiele (Ilinx): Laut Caillois zielen die Rauschspiele darauf ab, »die Stabilität der Wahrnehmung zu stören.« Er spricht von einem »tranceartigen Betäubungszustand […] der mit kühner Überlegenheit die Wirklichkeit verleugnet.«16
Diese Spiele sind in PIERROT LE FOU am häufigsten, sowohl vonseiten der Figuren als auch des Filmemachers. Dem Vergnügen des Schwindels geben sich Pierrot und Marianne genauso hin, wie der Filmemacher Godard, der offenbar seine spielerische Freude daran hat, die Zuschauer*innen mit den Mitteln von Dreh und Schnitt schwindelig zu machen.
Belmondo-Ferdinand ist eine Figur im Ungleichgewicht, die ständig mit der Schwerkraft spielt, wie in der Szene, wo er über den Baumstamm läuft, auf das Dach des Häuschens klettert und gekonnt wieder auf festen Boden springt.
Marianne-Karina ihrerseits spielt mit einem prekären Gleichgewicht. In einer Einstellung geht sie aufrecht auf dem Anhänger des Traktors, während der ein unebenes Gelände entlang rast. Oder in einer anderen Szene versteckt sie nach dem Raub des Ford Galaxy die Kleider im Gestrüpp, bevor sie ins fahrende Auto springt.
Der Tanz unter den Pinien vor dem Hintergrund des Meeres ist ein wirbelnder Tanz, der an die Spiele erinnert, in denen Kinder sich bis zum Schwindel, bis zum Verlust des Gleichgewichts im Kreis drehen, bis sie stürzen.
Aber Film kann auch mit seinen spezifischen Mitteln – beim Dreh (durch die Kamerabewegungen) und im Schnitt (durch Bildsprünge und akrobatische Anschlüsse) – in den Zuschauer*innen einen Drehwurm, einen Schwindel erzeugen: und zwar durch die Darstellung selbst. Das lässt Godard sich in diesem Film vielleicht noch weniger als in anderen Filmen entgehen: Man denke nur an das schwindelerregende Ballett von Kamera und Darstellern in der Szene vor der Abfahrt des Paares aus Paris, eine Plansequenz, deren Virtuosität den Zuschauer benommen macht. Er verliert jeden festen Orientierungspunkt zwischen dem Innen des Appartements und der Terrasse, so sehr wird er von den verschlungenen Bewegungen von Kamera und Figuren mitgerissen, die aus einer Kombination aus Fahrten und Schwenks bestehen. Oft bittet Godard Coutard in PIERROT LE FOU um kippende, »beschwipste« Bewegungen zwischen Erde, Himmel und Sonne, die jegliche stabile Darstellung von Oben und Unten der sichtbaren Welt ins Wanken bringen.
Die letzte Szene des Films gehört gleichzeitig in den Bereich »Maske und Rausch« (um den Untertitel von Caillois Buch aufzugreifen), so als bedürfe Ferdinand beider, um aus sich herauszutreten, in eine Art primitive Trance zu verfallen und sich dem Tod hinzugeben. Er beginnt damit, sich das Gesicht blau zu malen, als ob er sich eine Maske machte, um ein anonymer, mythischer Anderer zu werden. Dann geht er sich im Kreis drehend den Pfad hinunter, der bis zur Felsenspitze führt, wo er sich umbringen wird. Mit einer Art Singsang schwingt er mit ausgestrecktem Arm die bunten Dynamitstangen wie Engelsflügel, mit denen er dem irdischen Leben entfliehen will. Er wird berauscht wie die mexikanischen »Voladores«, die um ihre farbigen Masten kreisen und drehen. Selbst sein Tod wirkt wie ein lustiges Spiel, das er zu ernst nimmt und nicht rechtzeitig stoppen kann. Im letzten Moment, zu spät, versucht er die Lunte zu löschen und verflucht seine Dummheit. Ein schlecht kontrolliertes Spiel kann sich als zerstörerisch erweisen.


Die Ungewissheit des Spiels
Spielen ist eine ungewisse Angelegenheit, es kann immer in sich zusammenfallen. Wie der Glaube der Zuschauer*in ans Kino. Eine Spielsequenz in einem Film verlangt einen doppelten Glauben: an das fiktionale Universum des Films und an das Universum des Spielens, das sich die Figuren innerhalb des ersten geschaffen haben.
Winnicott spricht von der grundsätzlichen Ungewissheit des Spielens, jeden Spieles. »Der wesentliche Aspekt des Spielens liegt darin, dass es stets mit einem gewissen Wagnis verbunden ist, das sich aus dem Zusammenwirken von innerer Realität und dem Erlebnis der Kontrolle über reale Objekte ergibt. Magisches, das in der Vertrautheit enger, verlässlicher Beziehungen erlebt wird, hat immer etwas Ungewisses.«17
Zu Beginn des Aufenthalts auf der Insel erscheint diese wie eine einsame Insel, ein Spielfeld, das auf wundersame Weise von der Gesellschaft und ihren Regeln abgesondert ist, ein Raum, wie geschaffen für den möglichen Aufbau einer neuen Welt. Und für den Filmemacher ein Raum der Freiheit, in dem die Fantasie herrscht. Aber Pierrot und Marianne werden genau wie Monika und Harry in Bergmans SOMMAREN MED MONIKA nach und nach entdecken, dass die Insel so paradiesisch und einsam nicht ist, wie sie gerne glauben wollten, dass die Gesellschaft und ihr vergangenes Leben sie dort eingeholt haben, dass die Realität gegenüber der Fantasie an Boden gewonnen hat und Spielenden und Zuschauenden mit dem Ausscheiden droht.
Übersetzung aus dem Französischen Andrea Kirchhartz
Der Artikel erschien erstmals in dem Sammelband Kino und Kindheit. Alain Bergala: Der filmische Schaffensprozess und das Spiel in der Kindheit – Zu Pierrot le fou von Jean-Luc Godard. In: Bettina Henzler, Winfried Pauleit (Hg.): Kino und Kindheit, Berlin 2017, S. 117-128.
Filme / Literatur
a king in new york / Ein König in New York, R: Charles Chaplin, UK 1957
a perfect world, R: Clint Eastwood, USA 1993
badlands / Zerschossene Träume, R: Terrence Malick, USA 1973
battle royale / Batoru rowaiaru, R: Kinji Fukasaku, Japan 2000
dial m for murder / Bei Anruf Mord, R: Alfred Hitchcock, USA 1955
du côté d’orouët, R: Jacques Rozier, Frankreich 1971
el espíritu de la colmena / Der Geist des Bienenstocks, R: Victor Erice, Spanien 1973
germania anno zero / Deutschland im Jahre Null, R: Roberto Rossellini, Italien 1948
gone to earth / Die schwarze Füchsin, R: Michael Powell und Emeric Pressburger, UK 1950
johnny guitar ,R: Nicholas Ray, USA 1954
l’amour fou / Amour fou, R: Jacques Rivette, Frankreich 1969
la paura / Angst, R: Roberto Rossellini, Deutschland/Italien 1955
les 400 coups / Sie küssten und sie schlugen ihn, R: François Truffaut, Frankreich 1959
masculin féminin / Masculin - Feminin oder: Die Kinder von Coca Cola, R: Jean-Luc Godard, Frankreich/Schweden 1966
mouchette, R: Robert Bresson, Frankreich 1967
pépé le moko / Im Dunkel von Algier, R: Julien Duvivier, Frankreich 1946
pierrot le fou / Elf Uhr nachts, R: Jean-Luc Godard, Frankreich/Italien 1965
ponette, R: Jacques Doillon, Frankreich 1996
ruby gentry / Wildes Blut, R: King Vidor, USA 1952
some came running / Verdammt sind sie alle, R: Vincente Minnelli, USA 1958
sommaren med monika / Die Zeit mit Monika, R: Ingmar Bergman, Schweden 1953
the most dangerous game / Graf Zaroff, Genie des Bösen, R: Ernest B. Schoedsack, USA 1932
the night of the hunter / Die Nacht des Jägers, R: Charles Laughton, USA 1955
they live by night / Im Schatten der Nacht, R: Nicholas Ray, USA 1949
vivement dimanche! / Auf Liebe und Tod, R: François Truffaut, Frankreich 1982
yōkihi / Die Prinzessin Yang, R: Kenji Mizoguchi, Japan 1955
Alain Bergala: Godard au travail. Les années 60, Paris 2007
Bernard Pingaud: Une tâche sans fin. In: L‘arc, 69: D.W. Winnicott, 1977
Donald W. Winnicott: Playing and Reality. New York / London 1971
Donald W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1974
Gilles Deleuze: Ursachen und Gründe der einsamen Inseln. In: G.D. / David Lapoujade (Hg.): Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953–1974. Frankfurt am Main 2003
Jean-Luc Godard: Lettre à mes amis pour apprendre à faire du cinéma ensemble. In: L’Avant-Scène CINÉMA, 70: Godard. 2 ou 3 choses que je sais d’elle. Made in U.S.A., 1967
Jean-Luc Godard: Pierrot mon ami. In: Cahiers du cinéma, 171, 1965
Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch. Stuttgart 1960
Anmerkungen
-
1
Donald W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1974, S. 63.
-
2
Ebenda, S. 119.
-
3
»Le statut de l’objet transitionel repose sur un paradoxe: ›le bébé crée l’objet, mais l’objet était déjà là, attendant d’être créé et de devenir un objet investi‹ […] Ce paradoxe ne sera jamais remis en cause : ni dedans, ni dehors, l’objet ne peut fonctionner que s’il est perçu comme à la fois créé et trouvé.« (Übers. A.K.), Bernard Pingaud: Une tâche sans fin. In: L‘arc, 69: D.W. Winnicott, 1977, S. 59; das Winnicott-Zitat nach: Winnicott 1974, a.a.O., S. 104.
-
4
Gilles Deleuze: Ursachen und Gründe der einsamen Inseln. In: G.D. / David Lapoujade (Hg.): Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953–1974. Frankfurt am Main 2003, S. 11 (Herv. A.B.).
-
5
Ebenda, S. 15.
-
6
Ebenda, S. 16.
-
7
In der deutschen Winnicott-Fassung wird game als »Spiel mit Regeln« übersetzt – sodass die Unterscheidung der Begriffe nicht eindeutig nachvollziehbar ist: »Ich nehme an, daß Kulturerfahrungen sich direkt aus dem Spiel ableiten, und zwar aus dem Spiel derjenigen, die noch nie von Spielregeln [games] gehört haben.« D.W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1974, S. 116; siehe auch D.W. Winnicott: Playing and Reality. New York / London 1971, S. 50, 100 (Anm. d. Hg.).
-
8
»Je joue/ Tu joues/ Nous jouons/ Au cinéma/ Tu crois qu'il y a/ Une règle du jeu/ Parce que tu es un enfant/ Qui ne sait pas encore/ Que c'est un jeu et qu'il est/ Réservé aux grandes personnes/ Dont tu fais déjà partie/ Parce que tu as oublié/ Que c'est un jeu d'enfants/ [...]« (Übers. A.K.), Jean-Luc Godard: Lettre à mes amis pour apprendre à faire du cinéma ensemble. In: L’Avant-Scène CINÉMA, 70: Godard. 2 ou 3 choses que je sais d’elle. Made in U.S.A., 1967, S. 46.
-
9
»Ce double mouvement qui nous projette vers autrui en même temps qu’il nous ramène au fond de nous-même définit physiquement le cinéma. J’insiste sur le mot : physiquement, à prendre dans son acception la plus simple. On pourrait presque dire : tactilement, pour différencier des autres arts.« (Übers. A.K.), Jean-Luc Godard: Jean-Luc Godard: Pierrot mon ami. In: Cahiers du cinéma, 171, 1965, S. 18.
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10
Winnicott 1974, a.a.O., S. 63.
-
11
Französische Comicreihe um drei großspurige Nichtsnutze und Filous, die seit 1908 erscheint (Anm. A.K.).
-
12
Organisation de l'armée secrète, nationalistische, französische Untergrundbewegung während des Endes des Algerienkrieges (Anm. A.K.).
-
13
Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch. Stuttgart 1960, S. 19.
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14
Vgl. Alain Bergala: Godard au travail. Les années 60, Paris 2007, S. 282.
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15
Aucassin et Nicolette ist eine anonyme Liebensnovelle aus der altfranzösischen Literatur um 1200; Georges Guynemer war ein französisches Fliegerass aus dem Ersten Weltkrieg und Nicolas de Staël ein französischer Maler russischer Herkunft, der sich in Antibes das Leben genommen hat (Anm. A.K.).
-
16
Caillois 1960, a.a.O., S. 32.
-
17
Winnicott 1974, a.a.O., S. 59.