„Wenn du ein Kind bist, ist dein Zimmer die ganze Welt...“
08. Januar 2018
Die Regisseurin Sandra Kogut hat in der Videokunst und im Dokumentarfilm gearbeitet, bevor sie seit 2007 zwei Spielfilme mit Kindern als Hauptfiguren drehte – die beide auf internationalen Festivals ausgezeichnet wurden: MUTUM (2007) und CAMPO GRANDE (2015). In diesem Gespräch gibt sie Auskunft über die Dreharbeiten zu MUTUM, der mit Laiendarstellern in einer entlegenen, ländlichen Region Brasiliens – dem Sertao – gedreht wurde. Der Film bezieht sich auf einen Roman der brasilianischen Moderne Campo Geral von João Guimarães Rosa, der als innerer Monolog eines Kindes angelegt ist. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Verfilmung im engeren Sinne, denn MUTUM findet eine ganz eigene filmästhetische Form, um sich der Wahrnehmung eines Kindes, das die Welt nur ins Ausschnitten und aus der Nähe begreift, zu vermitteln. Das Gespräch befasst sich mit der Arbeit mit Kindern als Darstellern, mit dem Aufrufen von Gefühlen – und führt zu grundsätzlichen Fragen zur Kindheit und ihrer filmästhetischen Reflexion. Siehe dazu auch die Analyse von Mutum in Kino, Kindheit, Filmästhetik.
Du kommst aus dem Video- und Dokumentarfilmbereich und hattest nicht von Anfang an die Idee, einen Film mit Kindern zu machen. Warum hast du deinen Debütspielfilm und auch deinen zweiten Spielfilm mit Kindern gedreht?
Kinder stehen nicht sehr oft im Vordergrund. Sie stehen meist eher am Rande. Sie betrachten die Welt von einem ganz einzigartigen Ort aus, und dieser Blick interessiert mich.
Außerdem beschreibt das Buch Campo Geral, auf dem der Film MUTUM basiert, die Kindheit auf eine dermaßen direkte und berührende Art und Weise, dass ich Lust hatte, daraus einen Film zu machen. Die Kindheit ist in dieser Geschichte wirklich eine präverbale Zeit, sehr sinnlich und intuitiv, und genau das finde ich extrem kinematographisch. Das Kino ist ein so mächtiges Mittel, um die Wahrnehmung der Welt auszudrücken, die Subtilität der zwischenmenschlichen Beziehungen, das Ungesagte. Ein Blick auf eine zwölf Meter große Leinwand ist erheblich mächtiger als viele Worte.
Ein Buch über die Kindheit als Inspirationsquelle
MUTUM basiert auf dem Roman Campo Geral von João Guimarães Rosa – insbesondere einem Teil des Buchs „Miguilim“, der wie ein innerer Monolog eines Kindes erzählt ist. Wie hast du das Drehbuch anhand des Romans erarbeitet?
João Guimarães Rosa ist ein Grundpfeiler der brasilianischen Literatur, der ‚Joyce‘ Brasiliens sozusagen. Es war nicht einfach, einen derartigen Mythos anzugehen! Sehr lange habe ich überlegt, ob ich es machen sollte, obwohl ich sehr große Lust dazu hatte. Gleich zu Beginn habe ich meiner Mitarbeiterin, die sehr viel zum Werk dieses Schriftstellers gearbeitet hat, gesagt, dass ich erst einmal nicht das Buch aufschlagen möchte. Ich wollte zunächst mit den Sachen arbeiten, an die ich mich erinnern konnte. Sie waren schließlich auch der Grund dafür, warum ich diesen Film machen wollte. Mit diesen Erinnerungen an den Roman wollte ich vorsichtig umgehen, ich wollte sie beschützen. ... Ich war mir nicht einmal sicher, ob die Dinge, an die ich mich erinnerte, überhaupt im Buch standen. So haben wir in der ersten Phase gearbeitet und erst danach haben wir das Buch aufgeschlagen.
Der Roman ist in Brasilien sehr bekannt. Hast du auch auf die Erinnerung der Schauspieler*innen gesetzt?
Der Schriftsteller ist sehr bekannt, aber dieses Buch ist nicht sein bekanntestes. Die Schauspieler*innen wussten nicht, dass es sich bei dem Film um eine Adaption des Buchs handelte. Niemand wusste das. Ich glaube, dass es einen Moment gibt, in dem es angebracht ist, die Szenen und die Geschichte des Films zu entdecken und das geschieht während des Drehs, während des Arbeitsprozesses, aber nicht davor. Das Drehbuch sollte kein Äußeres werden. Ich strebe danach, dass es von innen empfunden wird, zeitgleich mit den Emotionen der Szenen, und dass es kein Objekt ist, das man kühl analysieren kann. Deshalb habe ich niemandem das Drehbuch zu lesen gegeben. Ich wollte nicht, dass die Schauspieler*innen einen zu kopflastigen und analytischen Zugang zu den Figuren bekommen. Ich suche nicht nach einer Kompositions- oder Konstruktionsarbeit. Ich suche nach einer viel irrationaleren, lebendigen Arbeit, einer ständigen Veränderung. Dafür war es essenziell, dass ich die Momente sorgfältig aussuchte, in denen die Schauspieler*innen die Szenen entdecken konnten. Außerdem ist das Drehbuch so wie ein lebendiges Wesen. Du fängst an, einen Film zu drehen, und die Szenen möchten überdacht werden, die einen in Bezug auf die anderen. Ich habe sehr viele Szenen während des Drehs umgeschrieben.
Mit Kindern wird sehr oft in Kontinuität gedreht, damit sie die Geschichte, die sie spielen, leben und sich mit ihr weiterentwickeln können. Hast du chronologisch gedreht?
Mir ist klargeworden, dass es keine gute Idee ist, in Kontinuität zu drehen, denn so wird der Film eine kleine Geschichte. Er wird zu sehr etwas, das du von außen betrachtest. Aber wie so oft im Leben verstehst du nicht die Bedeutung der Dinge, du konstruierst die Narration erst viel später, im Nachhinein. Ich wollte das bewahren. Deshalb habe ich Kontinuitätsblöcke gemacht, chronologische Abschnitte.
Aber das Ende des Films, als das Kind entdeckt, dass es kurzsichtig ist, habe ich am Ende der Dreharbeiten gefilmt. Das war ein Wagnis, denn normalerweise lässt du bei einem Dreh niemals die wichtigen Sachen für den letzten Tag übrig, denn am Ende hast du nichts: Die Leute sind erschöpft und du hast kein Geld mehr. Aber ich habe tatsächlich die allerwichtigste Sache bis zum Schluss aufgehoben, weil ich nicht wollte, dass jemand – vor allem nicht der Junge – weiß, dass er nicht richtig sehen kann.
Ich glaube, dass Spielfilme gleichzeitig auch Dokumentarfilme über die Erfahrungen sind, die die Schauspieler*innen während des Drehs machen, vor allem bei einem Dreh wie diesem, wo sie die ganze Zeit drin sind und sich völlig in ihrer Rolle versenken. Ich wusste, dass die Kinder sich in den drei Monaten, in denen wir da waren, verändern würden. Ich wollte, dass das auch ein Teil des Films wird.
Kinder als Darsteller*innen
Wie hast du Thiago, den Hauptdarsteller des Films, kennengelernt, nach dem du auch seine Figur benannt hast?
Anderthalb Jahre lang bin ich durch diese sehr ländliche Region im Binnenland von Brasilien gereist, die man den Sertão nennt. Ich besuchte kleine, oft winzige Schulen auf dem Land, wo die Kinder zu Fuß oder mit dem Pferd hinkommen. Manche müssen zwei oder drei Stunden laufen, um zur Schule zu gelangen. Sie überqueren Flüsse mit den Büchern auf dem Kopf. Das ist eine andere Welt. Ich sagte, dass ich Kinder für einen Theaterworkshop in einigen Monaten suchte. Ich wollte nicht über den Film reden, aber ich wollte auch nicht lügen. Also machte ich einen Workshop mit den Kindern, die mir am besten gefielen.
Wenn ich in den Schulen ankam, wählte ich ein paar Kinder aus, machte mit ihnen Spiele und sprach mit ihnen. […] Die Lehrer*innen versuchten immer, mir die besonders extrovertierten Kinder zu präsentieren. Aber ich sagte mir, dass die Kinder, die eine besonders reiche Innenwelt haben, oft die introvertiertesten sind. Wie sollte ich sie also finden? Und zur gleichen Zeit erschien es mir widersprüchlich, dass ein introvertiertes Kind einen Film machen wollte… Ich suchte also nach Kindern, die gerne zeichneten, lasen…
Thiago ging in eine kleine Schule in einem kleinen Dorf. Als ich in eine der Klassen kam, sah ich Thiago hinten in der letzten Reihe sitzen. Er hatte große, offene Augen, wie jemand der sagt: „Es ist unmöglich, dass die Welt so ist wie sie ist.“ Ein perplexer, erstaunter Blick, der mich sofort erfasst hat. Ich habe die Lehrerin gebeten, mit ihm Zeit allein zu verbringen, aber sie wollte nicht. Da habe ich nicht lockergelassen. Und ich habe sehr schnell verstanden, dass er nicht schüchtern war, er war zurückhaltend. Das ist ein sehr großer Unterschied. Seine Stimme war fest, sein Blick tief. Ich bin mit zu ihm nach Hause gegangen an dem Nachmittag. Er wohnte an einem völlig isolierten Ort, sehr ähnlich wie der, den man im Film sieht. Ohne Nachbarn. Seine Mutter kam mit dem Pferd angeritten und er hatte einen sehr strengen Vater. Sein Leben war sehr nah am Universum des Films.
Gibt es einen Unterschied zwischen der Arbeit mit erwachsenen Schauspieler*innen und Kinderdarsteller*innen?
Ich glaube, dass die Kindheit eine Zeit im Leben ist, in der man nicht so sehr in der verbalen Sprache kommuniziert. Es interessiert mich sehr, damit zu arbeiten, auch bei Erwachsenen. Die Schauspieler*innen lesen nicht das Drehbuch, aber ich möchte auch nicht, dass sie improvisieren. Deshalb sage ich ihnen ein einziges Mal die Textzeilen während wir drehen. Ich sage sie ihnen in einem genauen Moment, wenn sie sich emotional in der Situation der Szene befinden. So kommt der Text nicht aus dem Gehirn, er kommt aus dem Inneren. Oft bitte ich sie, die Augen zu schließen, wenn ich ihnen ihre Zeilen sage. Da ich ihnen den Text nur einmal sage, können sie ihn nicht auswendig lernen. Deshalb sagen sie ihn mit ihren eigenen Worten. Manchmal gab es einige Ausdrücke oder Worte, die sie nicht sagten. Dann habe ich nicht darauf bestanden, weil ich mir gesagt habe: Das sind sie nicht, das passt nicht zu ihnen.
Während des Drehs spreche ich oft mit den Schauspieler*innen während der Szenen. Ich glaube fest an das, was man den Subtext nennt: Was man denkt, aber nicht ausspricht. Oft schafft das zwei Lagen von Text. Ich glaube, dass es oft einen Unterschied gibt zwischen dem, was man sagt und dem, was man denkt. Dieser Unterschied interessiert mich weitaus mehr als nur das, was man sagt. Oft sprechen sie mit den Augen, das ist viel wichtiger als die Sätze.
MUTUM ist ein Film, den verschiedene Emotionen durchdringen: die Freude, der Schmerz, die Traurigkeit, die Angst... Beginnen wir mit einer fröhlichen Szene. Wie hast du die Situation geschaffen, in der die Kinder mit dem Papagei spielen und Thiago in Gelächter ausbricht?
In dieser Szene haben wir ein Spiel gespielt. Das waren eigentlich die einfachsten Szenen, weil wir gespielt haben und sie es gewöhnt sind, mit den Tieren zu spielen.
Die Tiere sind also wichtig für das Spiel der Kinderdarsteller*innen?
Sie sind sehr wichtig und auch sehr wichtig in ihrem Leben. Zum Beispiel gibt es eine Szene, in der das Mädchen Wasser auf den Vogel spuckt. Ursprünglich war die Szene nicht so, sie war viel einfacher, banaler. Und dann hat das Mädchen zu mir gesagt: „Nein, ich habe da eine Technik. Schau, ich mache das so...“ Ich fand das genial und habe gesagt: „Gut, dann machen wir das so. Natürlich!“
Die Kinder steuern sehr viel zu den Szenen bei. Daher habe ich gerade solche Szenen verwendet, denn sie waren dort sehr präsent. Ich mache das nicht, damit es wahrheitsgemäßer wird, das ist wichtig. Ich glaube nicht an die absolute Wahrheit. Ein Film hat eine innere Wahrheit und das gilt für alle Filme, egal ob dokumentarisch oder fiktional. Um sich dieser inneren Wahrheit zu nähern, müssen die Leute eine wahre Präsenz im Film haben, sie müssen wirklich da sein. Sie sollen nicht dabei zusehen, wie sie da sind, oder denken, sie seien da. Eine Möglichkeit, das zu erreichen, ist es, ihnen in den Szenen Raum dafür zu geben, sie selbst zu sein.
Gibt es einen Unterschied, ob man diese Präsenz mit erwachsenen oder mit Kinder-Schauspieler*innen schafft?
Manchmal ist es mit Kindern einfacher, denn Kinder verfügen über eine Art rohe Emotion, deshalb kann man manchmal schneller an diesen Punkt kommen. Aber im Prinzip ist es dasselbe, es ist dieselbe Arbeit.
Eine sehr berührende Szene ist die Streitszene, in der der Vater die Mutter schlägt (und möglicherweise auch Thiago, der einschreitet). Man sieht die Szene nicht, sie ist außerhalb des Bildes und man sieht nur die Reaktionen im Gesicht des Bruders, der – wie die Zuschauer*innen – den Streit anhört. Wie hast du diese Szene gedreht?
Das hat nicht auf Anhieb geklappt. Ich war fest entschlossen, einen richtigen Streit hinter verschlossener Tür zu inszenieren, den wir nicht filmen wollten, aber auf den die Kinder reagieren sollten. Ein Streit ist immer schwierig, mit vielen Spannungen. Ich war so sehr damit beschäftigt, dass die Szene, in der das Kind rennt und vor der Tür stehen bleibt, auf mich mechanisch wirkte, einfach falsch. All meine Aufmerksamkeit hatte ich auf den Streit gelegt, und nicht auf den Jungen.
Das war zu Beginn der Dreharbeiten, ohne diese Szene konnte ich die Geschichte nicht erzählen. Ich konnte auch nicht sagen: „Das ist nicht gut geworden.“ Du kannst so etwas nicht zu Kindern sagen. Also habe ich nichts gesagt und einen Monat gewartet. Dann habe ich angekündigt, dass wir die Szene wiederholen werden und diesmal haben wir nur den bereits aufgezeichneten Ton verwendet. Den Jungen habe ich den ganzen Tag mutterseelenallein auf einem benachbarten Hof zurückgelassen. Als er zurückkam, habe ich verstanden, dass er nun die Szene so spielen würde, wie ich es mir vorgestellt hatte. Er war hochkonzentriert und sehr empfindlich, weil er viele Stunden ganz allein verbracht hatte. Wir haben die Szene gedreht und diesmal war der Streit nur der aufgezeichnete Ton. Aber die Hauptsache war, dass Thiago da war, präsent und konzentriert. Er war dermaßen berührend, dass ich Einstellungen gedreht habe, die ich nicht geplant hatte, und ich fand ihn richtig gut. Für jede Szene muss man also eine Lösung finden, eine eigene Herangehensweise. Es gibt keine vorher festgelegten Methoden.
Wie hast du Traurigkeit hervorgerufen? Es gibt eine Szene, in der Thiago seinen Onkel trifft. Der Onkel hatte ihn gebeten, der Mutter einen Brief zu überbringen, möglicherweise einen Liebesbrief. Thiago gesteht dem Onkel, dass er den Brief nicht übergeben hat, und fängt in derselben Einstellung an zu weinen. Für mich ist das eine richtige Schauspielleistung, wenn eine Emotion innerhalb der Einstellung kommt und nicht mit der Montage konstruiert wird.
Ja, da stimme ich dir zu. Mich berührt das am meisten am Schauspiel, in einer Performance, wenn ich dabei zusehen kann, wie die Emotion kommt. Wenn sie schon da ist, finde ich sie weniger bewegend. Das haben wir in mehreren Schritten gemacht, denn alles zählt dabei, verstehst du? … Ich habe sie [die Kinderdarsteller*innen] gemeinsam [in dem Haus, in dem gedreht wurde] leben lassen. Sie haben Beziehungen zueinander aufgebaut, die die Beziehungen im Film sind. So bekommen sie ein affektives Gedächtnis. Sie hatten eine gemeinsame Geschichte während der Monate vor den Dreharbeiten.
Dann, als das Team angekommen ist, waren die Kinder die Chefs. Es war ihr Haus, sie fühlten sich nicht eingeschüchtert. Ich habe auch dafür gesorgt, dass das Material zwei Tage vor Drehbeginn eingetroffen ist. Sie haben zwei Tage mit den Mikros verbracht. Ich habe die Kamera auf den Boden gelegt und gesagt: „Jetzt könnt ihr sie anfassen und alles fragen, was ihr wollt.“ Sie haben mit der Kamera gespielt, all das hat die Technik entsakralisiert. Das alles hat gezählt.
Bevor wir die Szene mit dem Onkel gedreht haben, haben die beiden Schauspieler einen ganzen Tag miteinander verbracht. Sie haben miteinander gespielt, Sachen zusammen unternommen – es gab wirklich eine Verbundenheit zwischen den beiden. Den kleinen Zettel mit dem Brief des Onkels habe ich Thiago vor dem Schlafengehen gegeben und er hat drei Nächte lang mit diesem Papier in der Tasche geschlafen. Jeden Morgen habe ich ihn gefragt: „Was denkst du? Meinst du, du solltest ihr den Brief heute geben oder nicht?“ Er dachte darüber nach. Diese Frage war für ihn eine richtige Frage geworden, die er aus dem Inneren heraus verstand, mit seinem Bauchgefühl.
Also wusste der Junge, dass der Onkel ihm einen Brief für die Mutter gegeben hat und dass es in dieser Familie vielleicht einen Ehebruch gibt und sein Vater betrogen wird?
Wir haben das gedreht, also hat er es gesehen. Ich habe ihn mit dem Brief schlafen lassen, und er hat darüber nachgedacht. Das war für ihn eine richtige Frage. Und als wir die Szene gedreht haben, wusste ich, dass er dachte, er sollte den Brief nicht übergeben. Er hatte eine Art Gepäck, einen emotionalen Reichtum zur Verfügung, um diese Szene zu leben. In dem Moment, in dem wir die Szene drehten, habe ich ihm erklärt, dass das jetzt die Szene ist. Ich habe gesagt, was passieren wird und ihn gebeten, die Augen zu schließen. Bei geschlossenen Augen habe ich ihm die Sätze gesagt, wie ich es immer gemacht habe. Wenn man das mit geschlossenen Augen macht, kommt das von einem anderen Ort. Das alles muss geschehen, damit man eine Szene drehen kann. Aber es gibt auch Male, wo das nicht funktioniert.
Und die Tränen sind von ganz alleine gekommen, du hast nichts vorgeschrieben?
Ich verlange niemals von jemandem, dass er weint. Nie. Jedes Mal, wenn sie weinen, weinen sie, weil es so kommt. Ich möchte eine Emotion schaffen, die so stark wie möglich ist. Wenn die Person durch diese Emotion zum Weinen gebracht wird, ist das für mich fast nur ein Detail. Manchmal finde ich es viel bewegender, jemanden zu sehen, der geweint hat, wenn man es im Gesicht der Person sehen kann, dass sie geweint hat, als sie weinen zu sehen. Ich finde das auch viel bewegender, wenn jemand versucht, nicht zu weinen, die Tränen zu unterdrücken.
Kurzsichtigkeit, Kindheit, Ästhetik
Thiago ist im Film kurzsichtig, aber das stellt sich erst ganz am Ende heraus. Meiner Meinung nach ist das eine sehr kinematographische Idee, sie bringt die Frage ins Spiel, was man sieht und was man nicht sieht. Welche Rolle spielt für dich die Kurzsichtigkeit im Film?
Ich glaube, dass die Kurzsichtigkeit ein herausragendes Symbol der Kindheit ist. Denn wenn du ein Kind bist, ist dein Zimmer die ganze Welt und alles, was weiter entfernt ist, ist sehr mysteriös, sehr nebulös. Genauso ist es, wenn man kurzsichtig ist. Man interessiert sich für das, was auf Armeslänge entfernt ist, für alles, was man anfassen kann. Das ist eine derart schöne Metapher für die Kindheit.
Zu erzählen, dass Thiago nicht gut sehen kann, hieß auch zu sagen, dass er sehr viel hört. Bei ihm geht alles über die Sinne, vor allem das Hören. Von allen Sinnen ist das Gehör dasjenige, das uns am schnellsten in die innere Welt führt. Für mich ist all das sehr kinematographisch. Mir gefällt die Idee, dass Filme wie mentale Landschaften sind, die aber manchmal sehr konkret, also real sein können. Ich glaube, dass die Grenze zwischen beidem nicht sehr klar ist, sie ist subtil. Es gibt Menschen, die sehen mehr die realistische Seite, und es gibt andere, die sehen mehr die andere Seite. Auch das gefällt mir, denn ich denke, dass man den Zuschauer*innen Raum geben muss.
Dennoch spielt der Point of view keine wichtige Rolle. Manchmal sieht man, was das Kind sieht, aber nicht sehr oft. Vielmehr sind andere Wahrnehmungen sehr präsent, denn du arbeitest mit sehr engen Kadrierungen, mit dem Off – also dem, was im Bild nicht sichtbar ist, aber dazu gehört.
Am Kino interessiert mich besonders dieses Gefühl der Versenkung. Wenn auf eine Weise gefilmt ist, die weder erklärend noch illustrativ oder beschreibend ist. Als ob man vergessen hätte, dass die Leinwand flach ist. Man ist darin versunken, man versteht nicht richtig, wo man gerade ist. Das gehört zum Gefühl der Versenkung dazu. Es ist nicht selbstverständlich, so zu arbeiten, auch nicht für den Kameramann. Man muss eine Sprache schaffen, um dort hinzukommen. Es ist immer viel einfacher, mit der Kamera zu beschreiben.
Wie hast du diese Versenkung in der Welt mit der Kamera ausgedrückt?
Normalerweise ist beim Kino alles ein bisschen festgelegt: Du hast Markierungen am Boden, die Leute wissen, wo sie stehen bleiben sollen, weil es jemanden gibt, dessen Job es ist, die Schärfe einzustellen. Mit dem 35mm-Filmmaterial und all den Filtern, die wir hatten, war es sehr schwierig, die Schärfe zu finden. Der Kameramann konnte das nicht blind machen. Wir mussten eine etablierte Arbeitsweise ganz über Bord werfen. Ich habe gesagt: „Wir werden wilder arbeiten“, weil ich nicht zu den Schauspieler*innen sagen wollte: „Du wirst dich hier hinstellen und dann stellst du dich da hin...“. Ich wusste, dass das schlecht werden würde. Deshalb mussten wir wie bei einem Dokumentarfilm arbeiten. Der Kameramann hatte für jede Szene nur einen Versuch. Wir hätten sie wiederholen können, aber das wäre nicht dasselbe gewesen, denn die Schauspieler*innen sagen nie zwei Mal dieselben Worte. Es gibt somit immer einen technischen Widerstand, das war manchmal ganz schön stressig.
Trotzdem habe ich den Eindruck, dass die Kadrierung sehr präzise ist, vor allem zu Beginn der Einstellungen.
Ja, oft habe ich gründlich über die gesamte Szene nachgedacht. Aber ich wusste, dass wir uns darauf einstellen mussten, mit dem Zufall zu spielen. Dass etwas sich vielleicht nicht so entwickeln würde, wie es vorgesehen war. Je präziser man ist, desto größer ist die Freiheit, die Leichtigkeit. Die Präzision erlaubt es uns, darüber hinauszugehen, die Unschärfe ist immer ein wenig lähmend. Aber es ist gut, wenn die ästhetische Konzeption eins wird mit der Emotion, dem Leben des Films.
Der Film spielt mit dem, was man sieht und was man nicht sieht, durch die Beziehung zwischen dem On und dem Off, durch die Kadrierung, aber auch durch die Lichtsetzung. Es gibt Nachtszenen, die sehr dunkel sind, in denen man nichts sieht außer dem Bereich, der von einer Lichtquelle erleuchtet wird.
Wir haben mit sehr wenig künstlichem Licht gearbeitet, wir haben nur die Dachziegel des Hauses entfernt, um am Tag filmen zu können und die Nachtszenen haben wir sehr dunkel gehalten, denn wenn ich Menschen gefragt habe: „Was ist deine tiefgehenste, stärkste Kindheitserinnerung?“, haben viele mir gesagt: „Die Dunkelheit, es war sehr dunkel“. Es gab nämlich keine Elektrizität, die gibt es bis heute nicht. In anderen Filmen sind die Nachtszenen oft zu hell erleuchtet. Im Gegensatz dazu haben wir diese Szenen wirklich sehr dunkel gemacht und wenn es ein Licht gibt, dann ist es ein richtiges Licht. Das macht einen Unterschied. Und noch einmal: Du möchtest nämlich keine Szene machen, die etwas beschreibt, sondern du möchtest das Gefühl vermitteln, wie es ist, da zu sein.
Da das Kind nicht gut sieht, spielt der Ton – auch der Ton von dem, das man nicht sieht – eine wichtige Rolle im Film. Abschließend die Frage: Wie hast du mit dem Ton gearbeitet?
Die Arbeit am Ton war essenziell. Während der Dreharbeiten und auch bei der Suche nach Drehorten habe ich parallel ein Drehbuch nur für den Ton geschrieben. Ich habe die Geräusche identifiziert und notiert. Zum Beispiel: „Das ist ein trauriges Geräusch für diese Szene.“ Als wir mit dem Dreh fertig waren und alle abgereist sind, bin ich mit dem Toningenieur zurückgeblieben und wir haben eine Woche damit verbracht, diese Geräusche aufzuzeichnen. Es war mir wichtig, die Tonspur so zu gestalten, als wäre es Musik. Es gibt viele Menschen, die denken, dass das die wirklichen Geräusche der Szenen sind, weil sie nicht sehr stark hervorgehoben werden. Im Grunde bleibt das an dieser Grenze, der Grenze zwischen dem Realen und dem Imaginären. Diese Grenze mag ich sehr gern. Ich habe immer allen im Team gesagt, dass wir Imperfektionisten seien. Dass wir sehr hart daran arbeiten würden, dass die Arbeit unsichtbar wird. Und was wir am meisten erwartet haben, als der Film fertig war, war, dass die Menschen sagen: „Welch‘ Zufall! Welch‘ Zufall, dass es geregnet hat, als der Junge ankam.“ All das kann etwas Selbstverständliches haben und die verschiedenen Aspekte der Arbeit (Ton, Bild, Geschichte) formen ein unlösbares Ganzes.
28.05.2016
Übersetzung von Louisa Manz
Zitiervorschlag: Bettina Henzler: Gespräch mit Sandra Kogut. In: Bettina Henzler (Hg.): Filmästhetik und Kindheit. Onlinedokumentation zum gleichnamigen Forschungsprojekt. Veröffentlicht am 08.01.2017.
Filme / Literatur
Mutum, 2007, Regie: Sandra Kogut
Campo Grande, 2015, Regie: Sandra Kogut