„Man muss ihr Vertrauen gewinnen, damit sie einen nicht auflaufen lassen."
Deutschland, bleiche Mutter Die Kinder aus Nr. 67 Im Spinnwebhaus
08. Januar 2018

Der Kameramann Jürgen Jürges (Jahrgang 1940) ist bekannt für Filme wie ANGST ESSEN SEELE AUF (R: Rainer Werner Fassbinder, BRD 1974) oder FUNNY GAMES (R: Michael Haneke, Österreich 1997). Seit den 1980er Jahren hat er auch eine Reihe von Filmen mit Kindern als Hauptdarsteller*innen gedreht, darunter Kinderfilmproduktionen wie FLUSSFAHRT MIT HUHN (R: Arend Agthe, BRD 1985) oder DIE KINDER AUS DER NO. 67 (R: Ursula Bartelmess, Werner Meyer, BRD 1980), und Filme, die auch ein erwachsenes Publikum adressieren, wie DEUTSCHLAND BLEICHE MUTTER (R: Helma Sanders-Brahms, BRD 1980), DIE LETZTEN TAGE DER KINDHEIT (R: Norbert Kückelmann, BRD 1979) oder IM SPINNWEBHAUS (R: Mara Eibl-Eibesfeldt, Deutschland 2015). Die Filme zeugen von einem sehr unterschiedlichen Umgang mit den Kindern als Darsteller*innen und zeigen Kinderfiguren in ganz verschiedenen Rollen und Geschichten.
Jürges berichtet in dem Gespräch darüber, wie das Schauspiel von Kindern und ihre Wirkung durch die Kameraarbeit bedingt und ermöglicht wird. In seiner Zusammenarbeit mit den Regisseur*innen aus den 1980er und den 2000er Jahren, zeigt sich der Einfluss von verschiedenen Inszenierungsstilen und technischen Voraussetzungen des analogen und des digitalen Films, aber auch anderer Lebenswelten auf die schauspielerische Leistung von Kindern. Dabei geht es auch um grundsätzliche Fragen zur Arbeit mit den Schauspieler*innen, zur Mise en Scène und zur Montage,
Mit der Kamera reagieren: IM SPINNWEBHAUS
Gibt es für dich grundsätzliche Unterschiede, wenn du mit Kindern oder mit Erwachsenen als Darsteller*innen arbeitest?
Ja, in jedem Fall, weil man auf Kinder ganz anders eingehen muss, um mit ihnen arbeiten zu können. Je nach Alter kannst du einem Kind zwar sagen: „Mach' das so und so“, aber wenn das Kind das nicht versteht oder gerne etwas anders machen möchte, dann geht das nicht. Beim Kind spielt die eigene Phantasie noch viel mehr mit und wenn man ihm die Spielfreude nimmt, indem man zu viele Anweisungen gibt, wird das Ergebnis nie gut. Man wird immer spüren, dass das etwas Aufgesetztes oder nur Produziertes ist. Das habe ich gerade bei den Dreharbeiten zu IM SPINNWEBHAUS erlebt. Da gab es drei verschiedene Altersgruppen: die Kleinste [Helena Pieske] war gerade acht Jahre alt geworden, der Mittlere war neun [Lutz Simon Eilert] und der Älteste [Ben Litwinschuh] war schon zwölf oder dreizehn. Einer Sechs- oder Siebenjährigen kann man schon etwas sagen, aber Helena Pieske hat immer etwas sehr Eigenes machen wollen. Es hat langer Unterhaltung bedurft, um sie zu überzeugen oder Kompromisse zu finden, weil sie es oft anders machen wollte.
Macht es einen großen Unterschied, mit welchen Altersgruppen man arbeitet? Ich habe den Eindruck, dass beispielsweise bei IM SPINNWEBHAUS, aber auch bei DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER die Präsenz von Kleinkindern und von Kindern, die schon zehn oder zwölf sind unterschiedlich ist. Die älteren Kinder werden zu Trägern der Handlung, zu Identifikationsfiguren und sind viel stärker in die Narration eingebunden als kleine Kinder, die eine stärkere Eigendynamik entwickeln. Würdest du dem zustimmen?
In jedem Fall. Kleine Kinder kennen zwar Video und Film, wissen aber nicht richtig damit umzugehen. Für sie ist die Welt real, die man da aufbaut, unser Set zum Beispiel im SPINNWEBHAUS. Die Kleine hat sich da richtig reingespielt und reingefühlt, während die beiden Größeren mehr Abstand hatten. Der Älteste konnte reflektieren, was das eigentlich ist und wofür er das macht. Dem konnte man sagen: „Mach‘ das mal bitte so und so. Und rede doch mit dem Mädchen, damit sie das versteht.“ Da haben wir manchmal auch über die Mitspieler Einfluss genommen.
Wie baust du die Beziehung zu den Kindern beim Drehen auf?
Ich komme meistens recht gut mit Kindern aus. Ich bin ein sanftmütiger Mensch (lacht). Ich sehe die Kinder als kleine Menschen und versuche, auf sie einzugehen. Man muss ihr Vertrauen gewinnen, damit sie einen nicht auflaufen lassen, wenn irgendwas nicht geht. Wenn man mit den Kindern keine gute Ebene hat, wird’s einfach schwierig… Ich mache meine Position klar und auch ihre Position, das schafft ein sehr gutes Verhältnis. Ich versuche nie, sie einzuengen, indem ich sage: „Ihr müsst jetzt von da nach da gehen und da ist eure Position, weil da das bessere Licht ist oder wegen der Schärfe.“ Ich versuche zu ermöglichen, dass sie in ihren Aktionen relativ frei sind.
Das heißt, du reagierst mit der Kamera auf sie?
Ja, ich reagiere auf sie. IM SPINNWEBHAUS drehten wir mit digitalen Kameras, aufgehängt an einem Tragegurt. Diese Kameras kann man sehr klein konfigurieren, man kann sie in die Hand nehmen oder umhängen – die Kinder lachen sich erst mal tot, wenn man mit so einem Gestell ankommt, aber sie akzeptieren es sehr schnell und arbeiten dann sehr gut mit. Wenn sie irgendwo hingehen, wo ich nicht hinkomme, rede ich mit ihnen und dann verstehen sie das. Ich versuche, sie so wenig wie möglich mit der Technik zu belasten, obwohl Kinder sehr interessiert sind an Technik. Die zeigt man ihnen und erklärt sie, um eine Basis zu schaffen.
Welche Unterschiede gibt es in der Arbeit mit einer 35mm-Kamera oder mit digitalen Kameras?
Das macht einen riesigen Unterschied. Mit Digital bin ich relativ frei. Ich kann zum Beispiel eine Karte nehmen, die hat 20 Minuten Laufzeit, und wenn die um ist, schnipst man nur um und drei Sekunden später kann man weiterdrehen. Man kann viel mehr laufen lassen beim Filmen und viel mehr mitnehmen von Sachen, die eigentlich nicht im Bild geplant waren, aber wenn es interessant ist, dann dreht man es einfach. Bei 35mm-Film hast du meist viereinhalb Minuten Laufzeit oder bei einer großen Rolle elf Minuten. Da hast du eine große Kamera, mit der du nicht so schnell auf den Boden kommst und danach wieder hoch. Das ist mit den digitalen anders. Die hängt man sich einfach um und dann kann man sehr gut auf Augenhöhe filmen. Sehr wichtig ist, dass man auf Augenhöhe ist, es sei denn, man erzählt vom Erwachsenenpunkt aus und guckt von oben nach unten. Aber sonst bin ich immer sehr tief und auf Augenhöhe.




Auffallend ist, dass der Film sehr nah ran geht, viel mit Detailaufnahmen arbeitet, die der Welt eine phantastische Dimension geben, wenn Raben, Spinnen, Spinnweben in Detailaufnahmen gezeigt werden. Zugleich hatte ich den Eindruck, dass die Kamera gegenüber den Kindern teilweise fast dokumentarisch ist. Wie hast du das gedreht? Wenn die Kinder zum Beispiel auf dem Jahrmarkt sind oder wenn sie zusammen spielen, entsteht der Eindruck, dass das mit einer dokumentarischen Haltung gefilmt wurde.
Ich habe dafür zwei Kameras eingesetzt, um nicht so oft wiederholen zu müssen. Wir haben ein bisschen geprobt und dann gedreht. Die eine Kamera hat immer einzelne Details aufgenommen. Ich habe dem zweiten Kameramann gesagt, was wichtig ist, dass er zum Beispiel möglichst viele Reaktionen von den Kindern mitnehmen soll, während ich mit der anderen Kamera die Szene sozusagen abcovere. Er konnte also aus jeder Wiederholung andere Sachen herausziehen. Manchmal, wenn ich noch ausgeleuchtet habe und die Kinder schon im Set waren, oder wenn sie nur zugehört haben, wenn etwas angesagt wurde und es ergaben sich gute Momente, sollte er das ruhig mitdrehen, damit man solche authentischen Momente schonmal hat.


Es ist auffällig, dass ihr relativ viel schneidet.
Das war mir am Anfang sogar zu viel. Durch das viele Material waren der Cutter und die Regisseurin der Versuchung erlegen, viel zu schneiden. Nach dem ersten Rohschnitt habe ich gesagt, dass man durch die vielen Schnitte nicht mehr der Geschichte folgen kann. Das haben wir durchgesprochen und dann ist noch sehr viel geändert worden.
Habt ihr die Szenen im Zusammenhang gefilmt? Haben die Kinder die Szenen ganz durchgespielt – oder wurden Teile herausgegriffen und zusammengesetzt?
Bei drei Kindern kriegst du nie zwei Takes, die identisch sind. Es ist immer anders: Da agiert der eine anders und dann fällt dem anderen gerade etwas ein und die Kinder reagieren darauf. Natürlich mussten wir Szenen zusammenschneiden, weil es am Stück meistens nie gut war, weil einfach sehr viel Konzentration gefordert ist. Du kannst mit einem kleinen Kind nicht sieben oder acht Mal eine Szene wiederholen. Da ist sie so gelangweilt, dass sie sich nicht mehr konzentrieren mag und sagt: „Ich mag nicht, ich will nicht mehr.“ Du musst versuchen, das so gut wie möglich und schnell zu kriegen. Damit wir nicht immer die Szene wiederholen mussten, haben wir Teile aus den verschiedenen Szenen genommen.
Die Figuren der Kinder sind im Charakter und in der Entwicklung des Schauspiels sehr unterschiedlich. Miechen ist immer auf dieselbe Weise verträumt und ein bisschen für sich. Jonas fängt irgendwann auszubrechen, wenn er am Ende ausflippt, kehrt sich die Rolle des für die anderen Verantwortlichen um. Wobei man bei ihm merkt, dass das Ausflippen sehr gut, aber sehr bewusst gespielt ist. Nick kann am Anfang gar nicht stillhalten und wird dann aber immer ruhiger. Habt Ihr mit dem Darsteller an dieser Entwicklung gearbeitet habt?
Das hat sich so ergeben: Am Anfang war er kaum zu bändigen, weil er immer andere Sachen im Kopf hatte und es bewusst anders gemacht hat. Das hat sich im Lauf der Zeit gelegt. Das war eine persönliche Entwicklung, die im Film stattfand.
Das heißt, ihr habt chronologisch gedreht. Ist es wichtig, mit Kindern chronologisch zu drehen?
Es ist sehr wünschenswert. Auch für erwachsene Schauspieler gilt: Was man chronologisch drehen kann, sollte man chronologisch drehen. Natürlich kann man so etwas herstellen, aber da hereinzuwachsen ist eine ganz andere Sache. Wir hatten das Glück, an dem Set, wo wir so lange waren, einigermaßen chronologisch drehen zu können und zu müssen, schon allein durch die extreme Veränderung. Die Spinnenweben, die wuchsen ja, die konnten wir nicht jeden Tag abreißen und wieder hinbauen. Beim Außendreh war es manchmal anders.
Du hast gesagt, dass Helena Pieske (Miechen) sehr eigenwillig war. Zum Beispiel, wenn sie Märchen erzählt. Das ist in einer Weise erzählt, als käme das aus dem Kind gerade heraus. Hat sie da eigene Sachen eingesponnen?
Sie hat nie die richtigen, festgelegten Texte gesagt, sie hat es sehr für sich verändert, aber in einem Rahmen, in dem das okay war. Gerade mit ihrem langen Text in der Nacht, wo sie da liegt und wir irgendwelche Spinnen haben durchlaufen lassen, das war schon geprobt, aber es war immer wieder verändert worden. Wir mussten öfter mal unterbrechen und noch einmal anfangen, weil sie so sehr abschweifte, dass es nicht mehr hinpasste.
Das heißt, das Kind bearbeitet den Dialog und eignet ihn sich an? Deswegen wirkt das sehr lebensnah, was sie macht. Aber wenn sie beim Haareschneiden weint, das waren wahrscheinlich Kunsttränen, oder?
Ich habe gedreht und war glücklich, dass ich eine Träne laufen sah…
Wie ist es dazu gekommen?
Sie hat sich sehr stark mit ihrem Miechen identifiziert.


Das hat auch Sandra Kogut erzählt, dass sie, wenn sie Filme dreht, den Kindern nie diktiert hat zu weinen, sondern dass sie an der Situation und an den Gefühlen gearbeitet hat, und das Weinen dann manchmal entstand. Auch Im Spinnwebhaus war das Weinen also nicht unbedingt geplant, sondern hat sich ereignet?
Das war natürlich sehr schön.
Die Mise en scène des Schauspiels: DIE KINDER AUS Nr. 67
DIE KINDER AUS NO. 67 ist die Verfilmung eines Kinderbuchs, das das Leben in einem Berliner Hinterhof zur Zeit der NS-Machtergreifung schildert. Auch stehen Kindergruppen im Mittelpunkt. Bemerkenswert scheint mir vor allem, dass das Spiel der Kinder die Ästhetik des Films zu beeinflussen scheint und gewissermaßen zum ästhetischen (und politischen) Konzept gemacht wird: Der Anfang des Films ist geprägt von unübersichtlichen Szenen, in denen sehr viel gleichzeitig passiert, in denen die Energie der Kindergruppen zu einer chaotischen Lebendigkeit führt. Am Ende, mit der Übernahme der Macht durch die Nazis, 'entmischt' sich dann alles: Jungen spielen nicht mehr mit Mädchen, Juden werden ausgegrenzt, und auch die Freundschaft der beiden Hauptfiguren geht in die Brüche. Es dominieren dementsprechend strukturierte Szenen mit genau abgezirkelten, geradlinigen Bewegungen: das Marschieren in der Reihe. Die Inszenierung der Kinder vermittelt hier, was die NS-Ideologie mit den Menschen macht.
Auch hier geht es um Kindergruppen, um eine Interaktion zwischen Kindern, die den Film prägt und trotzdem handelt es sich um eine ganz andere Kamera- und Regiearbeit als die eben beschriebene.
Das stimmt absolut. Die Kinder waren schon älter, die waren 13/14 und man konnte richtig mit ihnen reden und ihnen wurde die Situation erklärt. Da wurde sehr viel mehr geprobt, so richtig, wie man beim Film eben probt. Es wurde relativ wenig spontan gedreht, weil es eben Film war und Film war teuer, und es war kein reichlich finanzierter Film. Im Gegensatz zu IM SPINNWEBHAUS war Szene für Szene sehr genau aufgelöst und fast nichts wurde dem Zufall überlassen.
Das merkt man auch daran, dass die Einstellungen lang sind und genau mit der Kamera austariert ist, wie was wann aufgenommen ist. Und trotzdem wirkt es nicht konstruiert. Auf der DVD wird darauf verwiesen, dass Ursula Barthelmess und Werner Meyer mit den Kindern zu Beginn einen Schauspiel-Workshop gemacht haben, der Inspirationsquelle war, um das Drehbuch umzuschreiben. Offensichtlich haben sie also schon im Drehbuch berücksichtigt, wie sich die Kinder die Rollen aneignen. Auch haben die Kinder selber einen Film gedreht, um die technischen Bedingungen kennenzulernen. Das ist ein pädagogischer Ansatz, die Kinder lernen, wie das funktioniert. Hat diese Vorarbeit das Drehen beeinflusst, gerade auch den Umgang der Kinder mit der Kamera?
1979 hatte man noch eine ganz andere Art, an das Filmen heranzugehen. Heutzutage mit dem SPINNWEBHAUS hat man eine viel größere Freiheit als wir damals hatten. Wir waren damals viel mehr an die Technik gebunden und aus dieser relativ unflexiblen Technik resultierte, dass man den Film sehr genau aufgelöst hat. Man hat normalerweise ein Drehbuch. Das mache ich jetzt wieder, übermorgen fahre ich nach Bamberg und setze mich mit dem Regisseur ans Drehbuch. Man kennt schon ungefähr die Motive und liest dann die Szenen: „Die kommen da rein und die Kamera ist da. Dann fahren wir da rum, weil die Kinder nach da gehen.“ Eine rein theoretische Auflösung. Wir haben den Film vor dem Dreh einmal aufgelöst und dann jeden Abend mit Uschi [Ursula Barthelmess] überlegt, wie unsere ursprüngliche Auflösung war und ob die noch aktuell ist oder ob man irgendetwas ändern müsste, aus der Erfahrung heraus, die wir in den ersten Drehtagen mit den Kindern gemacht hatten.
Das heißt, die Szenen wurden zunächst ohne Kamera geprobt und dann kam die Kamera dazu?
Ja, das war so: Die Uschi und der Werner Meyer, das haben die zu zweit gemacht, haben mit den Kindern schon vorher geprobt. Nur die reinen Texte, Abläufe und was sie spielen sollten. Am Drehtag haben wir eine Probe gemacht mit den Kindern und dann habe ich noch die Technik einrichten müssen, Licht korrigieren und Schienen bauen und so etwas. Dann wurde mit den Kindern mit Kamera geprobt und erst dann wurde gedreht.
Das merkt man dem Film an, dass eine Choreographie im Zusammenspiel mit der Kamera erarbeitet wurde. Das wirkt sich auch auf das Schauspielen der Kinder aus.
Meiner Meinung nach spielt auch noch mit rein, dass die heutige Kindergeneration sehr stark mit Fernsehen und Video aufwächst. Sie leben damit und die Generation damals überhaupt noch nicht. Die hatte nur einen Fernseher, und eventuell konnten sie Super-8 drehen, aber das war sehr umständlich und aufwändig. Das iPhone heute ermöglicht einen ganz anderen Umgang mit dem Film.
Hat das die Arbeit erleichtert damals, dass sich die Kinder der Technik nicht so bewusst waren?
Die waren einfach viel leichter steuerbar. Man hatte viel mehr Einfluss auf sie.
Weil sie noch nicht so eine Vorstellung vom eigenen Bild haben?
Ja, und da war auch Respekt vor der Riesenapparatur mit dem ganzen Licht. Heute sieht man das überall, die wissen, wie das aussieht, wenn man dreht. Heute wird Video gedreht, das ist eine andere Herangehensweise. Früher musste man ihnen alles erklären und dann haben sie das nach einer gewissen Zeit akzeptiert und eigene Sachen gebracht.
Das ist interessant, weil ich den Eindruck habe, dass die Kinderdarsteller in DIE KINDER AUS NO. 67 eine viel stärkere Eigenständigkeit haben: Sie können ihr Schauspiel vor der Kamera entwickeln, es wird nicht aus Einstellungen zusammengesetzt, die aus ganz unterschiedlichen Situationen ‚zusammengeklaubt‘ werden. Sie spielen ganze Szenen aus und begeben sich richtig in dieses Schauspielen hinein. Man merkt so eine Spielfreude, man merkt, dass sie sich bewusst sind, was sie tun.







In dieser Szene aus dem Anfang des Films verliert man schnell den Überblick, man muss sich orientieren, wo das Zentrum der Einstellung ist. Die Kinder singen, dann springen sie herum, plötzlich kommt Miriam (das Mädchen auf dem Fahrrad) und ein paar fangen an, auf Miriam zu reagieren, andere tun das nicht. Miriam ist weg, dann fangen die Mädchen zur Musik, die schon länger zu hören ist, an zu tanzen, dann auch die Jungs und andere machen wieder etwas ganz anderes. Es ist ziemlich bemerkenswert, wie dieses Zusammenspiel der Kinder choreographiert ist.
Ja, das stimmt, das war alles sehr gut inszeniert und geprobt. Wir hatten nur eine Kamera, da war die Auflösung sehr wichtig, was wann wie im Bild ist und was wir sehen wollen und was wichtig ist. Die Kinder bekamen gesagt, was sie zu welchem Zeitpunkt machen mussten, dann wurde geprobt, geprobt, geprobt und dann wurde es einfach gedreht.
Und trotzdem spielen sie das so, als würde das im Moment entstehen. Das Ganze hat ein genaues Timing.
Wir haben die Szenen aufgelöst und sehr viel zuerst nur mit den Kindern geprobt, dann, wenn das gut war, kam die Kamera mit dazu. Es wurden dann noch einige Änderungen gemacht, weil sich vielleicht einige der Kinder gegenseitig verdeckten, oder so etwas, und erst dann wurde gedreht. Dadurch hatten die Kinder schon eine so große Sicherheit bekommen, dass sie dann von sich aus oft noch etwas Eigenes einbrachten. Es war eine genaue Choreographie, die aber nicht starr war.
Ja und zugleich lebt der Film auch davon, dass ihr nicht alles komplett kontrolliert, zumindest scheint es so. Dass es Reibungen gibt und dass man den Eindruck hat, manchmal ist das Wesentliche ein bisschen versteckt.
Die längeren Einstellungen sind viel distanzierter. Hier entsteht die Dynamik nicht dadurch, dass ihr nahe herangeht, sondern durch das, was die Kinder vor der Kamera machen. Nur wenn es relevant ist, geht ihr näher ran. Hier ist so eine Szene, wo der Wechsel von Emotionen innerhalb der Szene gedreht wird. [...] Die spielen das alles aus, zumindest in dem zweiten Teil. Erst die Wut und dann das Lachen. Das entsteht vor der Kamera.







Und zugleich sieht man aber: Sie spielen. Ich finde, dass man bei denen stärker den Eindruck hat, sie schauspielern. Aber sie sind in diesem Schauspiel drin.
Ja, absolut. [...]
Bemerkenswert ist auch, dass die Kinder eine Zeit spielen, die sie gar nicht kennen. Sie sind so reinversetzt in diese Zeit, dass sie auch die Kluft zur Jetzt-Zeit der Zuschauer überbrücken. Durch das Spiel der Kinder wirkt das sehr nah und direkt.
Wobei man sagen muss, dass das heute sicherlich schwieriger zu machen wäre. Wir waren 34 Jahre nach Kriegsende und da ähnelte Berlin noch sehr dem Nachkriegs-Berlin. Heute glänzt das alles neu. Die Kinder kamen noch aus der Zeit, die Zeit war noch nicht so anders, wie heute.
Die Widerständigkeit des Kindes: DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER
DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER ist ein ganz anderer Film, der komplexeste Film von den drei, die wir bisher besprochen haben. Er ist autobiografisch - erzählt die Geschichte der Mutter aus der Perspektive der Tochter - und verhandelt Kindheit auf unterschiedlichen Ebenen: Es gibt den Off-Kommentar, der von der Regisseurin selbst gesprochen wird und der teilweise Kindheitserinnerungen hervorholt. Dann gibt es die unterschiedlichen Darstellerinnen (vier), die das Kind verkörpern, von denen eine die Tochter von Helma Sanders-Brahms ist, an die wiederum der Film in der Widmung des Abspanns adressiert ist.
Und dann unterscheidet DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER sich radikal von den anderen beiden, weil das ein Film ist, in dem die Kinder immer mit Erwachsenen interagieren. Wir haben hier keine Kindergruppen. Was ist aus deiner Sicht anders, wenn man mit Kindergruppen dreht oder wenn man mit Kindern dreht, die von Erwachsenen umgeben sind?
Die beiden Filme haben wir direkt hintereinander gedreht. Erst war Helma Sanders-Brahms' Film und dann der hier. Das war innerhalb von vier oder fünf Monaten. DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER war ein reiner Erwachsenenfilm. Die kleine Anna, die Tochter von Lena, war noch so klein und das war ein ganz, ganz schwieriger Dreh. Sie war zwei Jahre alt oder noch nicht mal und man konnte ihr nichts erklären. Das Heulen, das man im Film sieht, das war zum Herzerweichen. Wir haben es gedreht, aber es war furchtbar, weil das Kind nichts verstand und irgendwas machen sollte und wir haben es gedreht. Es war Stress für uns, aber natürlich unvergleichlich mehr für die kleine Anna.

Das Weinen des Kindes artikuliert also einen Unwillen über die Dreharbeiten, es ist ein Widerstand gegen das Gedreht-Werden?
Total, ja.
Für mich sind die Szenen mit dem Kleinkind die stärksten, weil man merkt, dass das Kleinkind gegen die Inszenierung arbeitet. Das Ganze kriegt dadurch plötzlich eine Lebendigkeit, die erstaunlich ist.
Ja, das war natürlich eine Reaktion, die so nicht sein sollte. Dadurch bekommt die Schauspielerei für mich etwas Ungeplantes und etwas An-den-Nerven-Zerrendes.
Habt ihr diese Szenen sehr lange geprobt?
Das haben wir so gemacht, dass wir ohne das Kind geprobt haben, um die geplanten Abläufe zu haben. Zum Drehen wurde die Kleine dazugenommen. Wir haben noch mit Primärton2 gedreht. Dadurch konnten wir manchmal, auf die Mundbewegungen der kleinen Anna, Texte legen, die sie in der Situation nicht gesagt hatte, die aber wichtig waren.
Wir haben überwiegend darauf geachtet, ob die erwachsenen Schauspieler gut waren. Das Kleinkind haben wir genommen, wie es war. Wie es geheult hat oder nicht geheult hat. Wir haben erst versucht, das ohne Weinen hinzukriegen, das war aber nicht möglich und dann mussten wir es einfach mit dem Heulen drehen.
Diese Szene im Zoo zeigt einen Moment des Zusammenspielens von Hauptdarstellerin und Kind. Eva Mattes geht auf das Kind ein, es wird nichts anderes verhandelt wird: Eva Mattes spielt mit dem Kind und die Kamera dokumentiert das:












Diese Zoo-Sache haben wir frei gedreht. Wir waren da und haben gedreht, was sie da machten. Und wir hatten immer die Möglichkeit, auf die Tiere zu schneiden und das war gut. Das war auch nicht so stressig, weil die Kleine im Zusammenspiel mit Eva Matthes sehr gut drauf war. Extrem war es in der Wohnung der Verwandten in Berlin.3 Das war das Haus, in dem wir damals alle gewohnt haben, das Literarische Kolloquium am Wannsee. Da war die Zeit, wo sie einfach nicht mehr wollte. Ich hatte ganz vergessen, dass sie hier [in der Zoo-Szene] sehr gut reagiert hat, auch mit dem Lied und so.
Am Ende der Szene beginnt das Kind plötzlich mit jemandem im Off zu kommunizieren. Sie stiehlt den Nazis regelrecht die Show.
Da reagiert sie auf Helma glaube ich, die stand neben der Kamera.
Aber Helma Sanders-Brahms hat nicht versucht, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen?
Nein. Eva hat sie gleich wieder rumgenommen. Da sah es noch so aus, als ob die Aufnahme nicht geht, weil das Kind auf das Off des Bildes reagiert.
Durch das Verhalten des Kindes wird man als Zuschauer immer wieder aus der Inszenierung 'rausgekippt', aber das scheint mir eine Stärke des Films, darin liegt seine Faszinationskraft. Hier ist das Spiel des Kindes ja fast ein subversiver Akt: Die Nazis spielen ihren Auftritt und das interessiert das Kind nicht.
Absolut, ja. Aber das haben wir beim Drehen noch nicht gesehen. Das wurde erst beim Schnitt klar. Wir haben das bestimmt nochmal gedreht, ohne dass das Kind sich umdreht. Helma hat die Wirkung wahrscheinlich während des Schnitts erkannt und die Aufnahme dann eben reingenommen.
Das ist bemerkenswert. Einerseits klingt es so, als habe man das Kind in Situationen gezwungen, in denen es nicht sein wollte. Aber spätestens im Montageprozess wird der Eigenwille des Kindes dann doch in den Film hineingeholt. Man hätte das ja auch wegschneiden oder eine Szene nehmen können, in der sie sich artiger verhält.
Das war Helmas Stärke, dass sie in einer Situation, die eigentlich nicht so gedacht war – und mit so einem kleinen Kind kann man so etwas nicht richtig planen –, etwas sieht und das dann verwendet.
Noch mal zurück zum Drehen mit der Kleinen. Wir waren auf Schienen und wir hatten einen Zoom mit dabei, damit man flexibel auf das Kind reagieren konnte, damit man, wenn sie sich so umdreht, dass sie verdeckt ist, ein Stück fahren und dann rangehen kann. Heute macht man das eher per Hand und mit Gimbal.4
DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER zeigt Kinder verschiedenen Alters, die jeweils dieselbe Protagonistin spielen. Alle drei sind sehr unterschiedlich inszeniert. Bei dem mittleren, etwa vierjährigen Kind wird vor allem der Blick auf das Geschehen gezeigt.
Dieses Kind war sehr schwierig zu inszenieren. Sie war nicht in der Lage, das zu machen, was Helma wollte. Da mussten wir es so machen, dass wir sie aufgenommen haben und dann das, was sie gesehen hat.
In der Vergewaltigungsszene zeigst du anstelle des Gesichts die Füße des Kindes. Das sieht man öfters in Filmen mit Kindern, dass in rührenden Situationen, wo Hilflosigkeit oder Alleinsein artikuliert werden soll, die Füße von Kindern gezeigt werden. Ist das ein Stellvertreter für das Gesicht, das man in dem Moment nicht zeigen kann oder will?
Bei der Aufnahme, in der das Kind runter zur Mutter geht, war es ein Risiko, das Gesicht zu filmen. Außerdem fand ich ihre kleinen, tapsigen Füße, die sich ihrer Mutter nähern, sehr schön. Schöner als das Gesicht. Das hat auch so ein Zögern. Und komischerweise eine Zärtlichkeit, wenn sie sich annähert. Und dann konnte man gleich von den Füßen weiter rüberschwenken auf die Mutter, das hat sehr gut funktioniert.




Und vielleicht noch kurz zum dritten und ältesten Kind, das am stärksten mitspielt in den Szenen. Da scheint das besser geklappt zu haben mit dem Zusammenspiel? Es gibt eine Szene, wo sie von ihrem Vater verprügelt wird und das Kind weint. Wird sie da wirklich verprügelt? Wusste die Schauspielerin, was auf sie zukommt?
Die Szene wirkt sehr brutal. Ernst Jacobis Reaktion auf den Ausspruch des Kindes „Du bist ein Waldheini“ ist aus der Situation der Figur durchaus verständlich, der Vater fühlt sich fehl am Platze, ungewollt, ungeliebt und ausgegrenzt. Die Szene war so nicht geprobt worden, aber dadurch wirkt sie vielleicht so echt und berührt so stark.






Das trägt zur Authentizität der Szene natürlich stark bei, ist aber nicht unproblematisch. Zugleich filmst Du das Kind von Hinten und vermeidest damit einen voyeuristischen Blick auf das weinende Gesicht.
Das hat sich so ergeben. Sie hat sich einfach weggedreht. Dadurch hat die Szene eine wahnsinnige Authentizität finde ich.
Ich habe den Film damals angenommen, weil das genau meine Situation war: Mein Vater ist auch erst 1955 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft gekommen. Es ärgert mich, dass der Film in Deutschland gar nicht so richtig wahrgenommen wurde. In Frankreich ist das ein Kultfilm, in Japan ist er auch sehr gut angekommen. Hier ist der Film damals sehr schlecht behandelt worden und ich bin sehr froh, dass wir vor ein paar Jahren vor Helmas Tod noch die Restaurierung machen konnten.5
Berlin, den 7. Juli 2016,
Transkription von Louisa Manz
Zitiervorschlag: Bettina Henzler: „Man muss ihr Vertrauen gewinnen, damit sie einen nicht auflaufen lassen...“ – Kameramann Jürgen Jürges zur Dreharbeit mit Kindern. In: Bettina Henzler (Hg.): Filmästhetik und Kindheit. Onlinedokumentation zum gleichnamigen Forschungsprojekt. Veröffentlicht am 08.01.2018.
Filme / Literatur
Angst Essen Seele auf, R: Rainer Werner Fassbinder, BRD 1974
Deutschland, bleiche Mutter, R: Helma Sanders-Brahms, BRD 1980
Die Kinder aus No. 67 oder Heil Hitler, Ich hätt gern ‘n paar Pferdeäpfel…,
R: Ursula Barthelmess, Werner Meyer, BRD 1980
Die letzten Tage der Kindheit, R: Norbert Kückelmann, BRD 1979
Flussfahrt mit Huhn, R: Arend Agthe, BRD 1985
Funny Games, R: Michael Haneke, Österreich 1997
Im Spinnwebhaus, R: Mara Eibl-Eibesfeldt, Deutschland 2015
Anmerkungen
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1
Ursula Barthelmess hat nur einen Kinofilm gemacht, danach als Psychologin gearbeitet und gemalt. Sie hat für DIE KINDER AUS NO. 67 den Bundesfilmpreis erhalten.
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2
Der Primärton wird während des Drehs mitgeschnitten, obwohl man weiß, dass man ihn wegen lauter Nebengeräusche o.ä. nicht verwenden kann. Dieser Primärton vermittelt bei der Tonmischung einen Eindruck von der akustischen Originalsituation am Set und hilft bei der anschließenden Synchronisation des Films – besonders, wenn die Bewegungen der Akteure auf Musik synchronisiert werden müssen.
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3
In der Wohnung findet eine lange Szene statt, in der Hans seine Familie im Krieg auf Heimurlaub besucht und sich die Entfremdung der Eheleute durch den Krieg zeigt.
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4
Gimbal: Kamerastabilisator, Ersatz für eine Steadycam.
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5
DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER wurde bei seiner Erstaufführung auf der Berlinale von der deutschen Kritik derart verrissen, dass der Verleih ihn im Nachhinein noch um fast ein Viertel gekürzt und nur in einer verstümmelten Version in die Kinos gebracht hat.