Filmästhetik und Kindheit

Erinnerungen an die Kindheit eines Filmemachers

JACQUOT DE NANTES

Bettina Henzler

20. Oktober 2018

Filmanalysen

Titelbild


"Eine Hommage? Nicht für mich. Es ist vielleicht ein Film für Jacques [Demy], aber er existiert auch für die Nicht-Cinephilen, für die, die weder Jacques noch meine Filme kennen, und für die, die nichts über meine Beziehung zu Jacques wissen. Kinder zum Beispiel."1 (Agnès Varda)

In Jacquot de Nantes (R: Agnès Varda, Frankreich 1991) widmet sich die Regisseurin Agnès Varda der Kindheit und Jugend ihres Mannes Jacques Demy (1931–1990). Der Film handelt vom Aufwachsen in Nantes während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Jacquot, der Sohn eines Automechanikers, begeistert sich für Puppentheater, Operette und Musik und bildet sich zum Kinofan und Filmemacher. Nachdem er sich gegen den Willen des Vaters und die Vorurteile der Lehrer den Weg an die Filmhochschule erkämpft hat, wurde Demy – das ist in Jacquot de Nantes allerdings nicht mehr zu sehen – zu einem Regisseur, der mit Musicals wie Die Regenschirme von Cherbourg (Les parapluies de cherbourg, R: Jacques Demy, Frankreich/Deutschland 1964) oder Die Mädchen von Rochefort (Les demoiselles de rochefort, Jacques Demy, Frankreich 1967) das Genre erneuerte und in das kulturelle Gedächtnis Frankreichs einging.

Jacquot de Nantes ist auch ein Film über ästhetische Bildung. Wie Der Geist des Bienenstocks (El espíritu de la colmena, R: Víctor Erice, Spanien 1973) erzählt er von der Kinoerfahrung in der Kindheit. Er zeigt das Kind aber nicht nur als einen begeisterten Zuschauer, sondern auch als Bastler und Filmemacher. Jacquot trägt die Filmerfahrung in den Alltag und lässt sich zum Bauen von Puppentheatern und Bemalen von Filmstreifen inspirieren. Die Begeisterung für Kunstwerke und Filme geht hier einher mit dem Wunsch, selbst zu gestalten: Sehen und Machen, Auge und Hand ‚greifen‘ ineinander.

Schließlich ist Jacquot de Nantes auch ein Essayfilm, der das Erinnern selbst thematisiert. Seit den 1980er Jahren hat sich Varda in ihrem Werk – vor allem in ihren späteren, mit Digitalkamera gedrehten Arbeiten Die Sammler und die Sammlerin (Les glaneurs et la glaneuse, R: Agnès Varda, Frankreich 2000) oder Die Strände von Agnès (Les plages d'agnès, R: Agnès Varda, Frankreich 2008) – mit Prozessen der Erinnerung befasst, die für ein Verständnis der Gegenwart notwendig sind. Jacquot de Nantes, der die fiktionale Reinszenierung der Vergangenheit mit dokumentarischen Aufnahmen der Gegenwart und Ausschnitten aus Filmen und Theaterstücken kombiniert, wirft ebenfalls Fragen nach der Verbindung von Geschichte und Gegenwart, individueller und kollektiver Erinnerung, Kunst und Leben auf. Er thematisiert, wie wir unsere Erinnerungen rekonstruieren und wie das, was erlebt und erinnert wird, Menschen und Künstler prägt.

Im Folgenden werde ich vor allem die in Jacquot de Nantes dargestellten gegenläufigen Prozesse des Erinnerns und der Bildung analysieren: Wie wird die Kindheit hier als biografische Erfahrung und als Prozess des Erinnerns dargestellt? Was sagt uns der Film über ästhetische Bildung? Wie überlagern sich der Blick des Kindes (das erlebt) und des Erwachsenen (der erinnert)?

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