Erinnerungen an die Kindheit eines Filmemachers
20. Oktober 2018
"Eine Hommage? Nicht für mich. Es ist vielleicht ein Film für Jacques [Demy], aber er existiert auch für die Nicht-Cinephilen, für die, die weder Jacques noch meine Filme kennen, und für die, die nichts über meine Beziehung zu Jacques wissen. Kinder zum Beispiel."1 (Agnès Varda)
In Jacquot de Nantes (R: Agnès Varda, Frankreich 1991) widmet sich die Regisseurin Agnès Varda der Kindheit und Jugend ihres Mannes Jacques Demy (1931–1990). Der Film handelt vom Aufwachsen in Nantes während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Jacquot, der Sohn eines Automechanikers, begeistert sich für Puppentheater, Operette und Musik und bildet sich zum Kinofan und Filmemacher. Nachdem er sich gegen den Willen des Vaters und die Vorurteile der Lehrer den Weg an die Filmhochschule erkämpft hat, wurde Demy – das ist in Jacquot de Nantes allerdings nicht mehr zu sehen – zu einem Regisseur, der mit Musicals wie Die Regenschirme von Cherbourg (Les parapluies de cherbourg, R: Jacques Demy, Frankreich/Deutschland 1964) oder Die Mädchen von Rochefort (Les demoiselles de rochefort, Jacques Demy, Frankreich 1967) das Genre erneuerte und in das kulturelle Gedächtnis Frankreichs einging.
Jacquot de Nantes ist auch ein Film über ästhetische Bildung. Wie Der Geist des Bienenstocks (El espíritu de la colmena, R: Víctor Erice, Spanien 1973) erzählt er von der Kinoerfahrung in der Kindheit. Er zeigt das Kind aber nicht nur als einen begeisterten Zuschauer, sondern auch als Bastler und Filmemacher. Jacquot trägt die Filmerfahrung in den Alltag und lässt sich zum Bauen von Puppentheatern und Bemalen von Filmstreifen inspirieren. Die Begeisterung für Kunstwerke und Filme geht hier einher mit dem Wunsch, selbst zu gestalten: Sehen und Machen, Auge und Hand ‚greifen‘ ineinander.
Schließlich ist Jacquot de Nantes auch ein Essayfilm, der das Erinnern selbst thematisiert. Seit den 1980er Jahren hat sich Varda in ihrem Werk – vor allem in ihren späteren, mit Digitalkamera gedrehten Arbeiten Die Sammler und die Sammlerin (Les glaneurs et la glaneuse, R: Agnès Varda, Frankreich 2000) oder Die Strände von Agnès (Les plages d'agnès, R: Agnès Varda, Frankreich 2008) – mit Prozessen der Erinnerung befasst, die für ein Verständnis der Gegenwart notwendig sind. Jacquot de Nantes, der die fiktionale Reinszenierung der Vergangenheit mit dokumentarischen Aufnahmen der Gegenwart und Ausschnitten aus Filmen und Theaterstücken kombiniert, wirft ebenfalls Fragen nach der Verbindung von Geschichte und Gegenwart, individueller und kollektiver Erinnerung, Kunst und Leben auf. Er thematisiert, wie wir unsere Erinnerungen rekonstruieren und wie das, was erlebt und erinnert wird, Menschen und Künstler prägt.
Im Folgenden werde ich vor allem die in Jacquot de Nantes dargestellten gegenläufigen Prozesse des Erinnerns und der Bildung analysieren: Wie wird die Kindheit hier als biografische Erfahrung und als Prozess des Erinnerns dargestellt? Was sagt uns der Film über ästhetische Bildung? Wie überlagern sich der Blick des Kindes (das erlebt) und des Erwachsenen (der erinnert)?
Erinnerung
"Es gab Vorführungen und Gespräche mit Kindern zwischen acht und dreizehn Jahren … Einmal sind zwei kleine Jungs zu mir gekommen. Der eine sagte: „Madame, wie erinnert man sich an seine Erinnerungen?“ Der andere gab ihm einen Rippenstoß: „Das war’s nicht. Wir wollten sagen: Wie können Sie sich an die Erinnerungen eines anderen erinnern?"2 (Agnès Varda)
Schon im Vorspann von Jacquot de Nantes deutet sich an, dass die Kindheitserinnerungen von Jacques Demy hier nicht in einer geschlossenen, gradlinigen Geschichte reinszeniert werden. Der Film beginnt mit farbigen Dokumentaraufnahmen eines alten Mannes, der am Meeresstrand liegt, gefolgt vom Schwenk über ein Gemälde mit einem Liebespaar am Strand, über das eine weibliche Stimme ein nostalgisches Liebesgedicht spricht. In der den Vorspann abschließenden fiktionalen Szene (bunt und schwarz-weiß) weigert sich ein Kind, das Puppentheater zu verlassen, weil es wünscht, der Vorhang möge sich wieder öffnen. Die Kindheit wird im Bezug zum Erwachsenen eingeführt, der Mann als Teil eines Liebespaares und das Vergangene als Theateraufführung.
Diese heterogene Struktur prägt auch den weiteren Film: Die fiktionale (meist schwarz-weiß gedrehte) chronologische Reinszenierung von Episoden aus Demys Kindheit wird gerahmt von farbigen Dokumentaraufnahmen zur Zeit der Dreharbeiten, die Demy als Menschen und Erzähler zeigen, und ist durchsetzt von Ausschnitten aus seinen eigenen Filmen. Jacquot de Nantes zeigt uns Erinnerung damit als eine Überlagerung verschiedener Schichten: Materialien, Zeiten, Realitäten und Perspektiven.
Der erste Zugang zur Erinnerung ist Jacques Demy selbst. Es ist bezeichnend, dass er dabei nicht – wie häufig in biografischen oder dokumentarischen Filmen – als Augenzeuge eingeführt oder als Wissender inszeniert wird, der das Gesehene für den Zuschauer ordnet, kommentiert und beglaubigt.3 Erst später im Film tritt er als derjenige auf, der seine Erinnerungen aufschreibt und sie als Stimme aus dem Off oder mit Blick in die Kamera erzählt. In den ersten totalen Einstellungen sehen wir stattdessen erst das Meer, dann Demy wortlos am Strand liegen. Er fixiert die Kamera, schaut dann in die Ferne. Eine Nahaufnahme zeigt seine braungefleckten Hände, durch die Sand gleitet. Die Hand des Künstlers, die das auf diese Einstellungen folgende Gemälde hervorgebracht hat, vollzieht hier eine Geste, die die Flüchtigkeit der Zeit enthält. Die Kamera zeigt Demy als einen fremden (oder aber sehr vertrauten) Menschen: Sie verzichtet auf eindeutige Zuordnungen und lädt zur Beobachtung, zur Kontaktaufnahme ein. Nicht die Stimme Demys, sondern sein Blick und seine Gesten, kurz: sein Körper wird als Träger der Erinnerung eingeführt. Er zeugt von der Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart.
Dementsprechend werden im weiteren Verlauf des Films immer wieder Aufnahmen des gealterten Demy mit dem jungen Jacquot bzw. einem der drei Darsteller des Kindes in Beziehung gesetzt. Die Montage suggeriert, dass sich ihre Blicke kreuzen: Die Farbfilmaufnahme einer vom Verfall gemaserten Wand verbindet den Blick des Kindes auf den Hof der väterlichen Garage (s/w) und die Detailaufnahme von Demys Auge (Farbe). Es entsteht der Eindruck, als würden beide, das Kind damals und der Mann heute, auf dieselbe Wand blicken. Aber auch ihre Handgriffe spiegeln sich ineinander, wenn die Filmkamera erst in der Hand des Jugendlichen, dann in der Hand Demys zu sehen ist, der ihre Funktionsweise erläutert. Der Blick des Kindes auf die Kunst und die Welt zeigt sich im Blick des Erwachsenen, und der Blick des Erwachsenen bringt den Blick des Kindes hervor.
In beiden Fällen stellt ein Gegenstand die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit, Fiktion und Realität, Schauspieler und Mensch her. Die Kamera, mit der Demy seinen ersten Kurzfilm gedreht hat, existierte noch zur Zeit der Filmaufnahmen und wurde – das legt die Montage nahe – als Requisit in den Dreharbeiten verwendet. Auch weist die von der Alterung gemaserte Wand darauf hin, dass der Film im Wohnhaus von Demys Eltern gedreht wurde – obwohl es einfacher gewesen wäre, das Haus bei einer anderen Garage zu rekonstruieren. Varda begründet die Entscheidung für das Elternhaus mit den Worten: „Ich glaube zu sehr an Mauern, an das Material, an alles, was von einem Ort bleibt, an dem man gelebt hat.“4 Dinge und Orte treten hier, ebenso wie der Körper Demys5, als Zeugen der Vergangenheit und als Speicher der Erinnerung auf. Winfried Pauleit und Isabelle McNeill haben darauf hingewiesen, dass Film wie ein Archiv oder Museum vergangene Momente, Objekte, Architekturen, Menschen ‚sammeln‘ und ‚ausstellen‘ kann.6 Jacquot de Nantes zeigt darüber hinaus, dass die Gegenstände erst in Kontakt mit Menschen diese Bedeutung erlangen: durch Demys Blick oder seine Hand, die nach den Dingen greifen, und durch Vardas Montage, die Vergangenheit und Gegenwart verknüpft.
Mit dieser Darstellung (der Beziehung) von Gegenständen und Körpern betont Jacquot de Nantes die physische Dimension von Erinnerung und Zeit. Auf der Wand sind die Spuren der Alterung zu sehen, wie auch in dem von Krankheit gezeichneten Körper Demys. Dieser wird nicht nur in Totalen an wichtigen Orten oder in Großaufnahmen des Gesichts und der Hände gezeigt – also in konventionellen Formen der filmischen Darstellung von Individualität und Subjektivität, sei sie fiktional oder dokumentarisch.7 Vielmehr tastet die Kamera immer wieder im Detail seine Körperoberflächen ab und betont deren Materialität: Die Strukturen der Haare und Haut, die Falten und Bartstoppeln des Gesichts werden ähnlich wie die Maserungen in der Wand oder die Körnung des Sandes gefilmt.8 Als wolle die Kamera (bzw. Agnès Varda, die sie führt) sich der Gegenwart dieses menschlichen Körpers versichern, ihn filmisch und emotional festhalten.9
Dadurch werden zugleich seine Lebendigkeit und seine Vergänglichkeit betont: Wir sehen, dass Demy während der Dreharbeiten von Jacquot de Nantes anwesend war, aber die Zeichen seiner Krankheit kündigen auch den bevorstehenden Tod an.10 Zehn Jahre später wird Varda in Die Sammler und die Sammlerin in ähnlicher Weise die Vergänglichkeit ihres eigenen Körpers zeigen. Sie filmt darin ihre Hand, die den weißen Haaransatz kämmt, und kommentiert: „O Alter, du bist nicht mein Feind, O Alter, du bist eher meine Freundin, aber dennoch, da sind meine Hände, die mir sagen, dass das Ende nah ist.“11 Der vom Alter und Krankheit gezeichnete Körper steht in beiden Filmen für den unausweichlichen Zusammenhang von Leben und Tod, von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.
Mit Blick auf Jacquot de Nantes kommentiert Varda selbst das Abschiednehmen wie folgt: „In Noirmoutier, ein Sonntag im August, ich mache ein paar Aufnahmen von Jacques am Meeresstrand. Ein oder zwei Einstellungen mit der Hand. Ich nähere mich dem Gesicht von Jacques. Ich habe Angst, dass er stirbt.“12 Und auch Demy wirkt in diesen Szenen am Meer, die den Film rahmen, anders als in den Einstellungen, in denen er erzählt oder schreibt, wehmütig: Er schaut direkt in die Kamera und wendet sich dann ab, als wolle er in Gedanken schon davongehen – wie die Figuren auf romantischen Gemälden, die über das Meer ins Jenseits schauen.
Das in den Aufnahmen von Demy am Meeresstrand gegenwärtige Abschiednehmen, der Blick der Frau auf den geliebten Mann, wird in der dazu klingenden Musik, der Stabat mater von Antonio Vivaldi13 , angestimmt und in den folgenden Aufnahmen explizit thematisiert: wenn die Kamera über das (von Demy gemalte) Bild eines nackten Liebespaares schweift und dazu Vardas Stimme aus dem Off folgende Verse aus dem Gedicht Der Balkon von Charles Baudelaire (in geänderter Reihenfolge) spricht:
"Ich kann sie wecken, jene holden Zeiten,
Ihr Schwüre, Düfte, Küsse steigt hervor,
Steigt aus dem tiefen Abgrund meiner Qualen,
Wie Sonnen, die aus Meeresgrund empor
Zum Firmament in junger Schönheit strahlen;
Ihr Schwüre, Düfte, Küsse steigt hervor!
Dann sank die Welt in nächt’ge Dunkelheit,
Mein Auge suchte deins. Die Nacht ward stummer,
Ich trank dein Atmen, Gift voll Süssigkeit,
In meinen Bruderhänden lag dein Schlummer,
Dann sank die Welt in nächt’ge Dunkelheit."14
Dieses Anrufen einer glücklichen Vergangenheit im Angesicht des Todes deutet auf die folgenden Erinnerungen an eine glückliche Kindheit. Vor allem aber markiert die Ansprache des verlorenen Geliebten auch die Position, von der aus gefilmt wird. Der Film gibt sich von Anfang an als ein Liebesdialog zu erkennen oder, anders gesagt, als zweistimmig.
Diese Zweistimmigkeit liegt dem Filmprojekt zugrunde: Demy hatte kurz vor seinem Tod seine Kindheitserinnerungen aufgeschrieben. Dies bewog Varda noch zu seinen Lebzeiten zu dem Filmprojekt, mit dem sie ihrem Mann eine Freude machen wollte. Sie schrieb die Dialoge, führte Regie und montierte den Film. Die Dreharbeiten wurden so eingerichtet, dass Demy – obwohl er bereits viel im Bett liegen musste – anwesend sein konnte. Er schlief in einem Nebenraum am Set, lernte die Darsteller kennen, sichtete die Rohaufnahmen und bestätigte durch seine Gegenwart Varda in ihrem Tun – ohne, wie sie betont, selbst einzugreifen. Die zweistimmige Anlage des Films ist somit Ausdruck einer besonderen Beziehung, die auf einem gemeinsamen Beruf beruht. Und sie sagt etwas über die Intersubjektivität von Erinnerung aus. Denn Erinnerung ist nicht nur das, was ein Individuum in seiner Imagination und in seinem Körper trägt, sondern sie wird kommuniziert und konstruiert: Sie entsteht in der Erzählung, im Austausch mit denen, die an ihr Anteil nehmen. Erinnerung wird im Dialog mit anderen und im Blick des Anderen geformt.
„Es ist nicht zu Ende! … Manchmal öffnet sich der Vorhang nochmal!“15 Auch die den Vorspann abschließende Szene mit dem Kind, das sich weigert, den Zuschauerraum zu verlassen, verweist uns auf Vergangenes und den Wunsch, es filmisch wiederzubeleben. Der Einstieg über den Besuch eines Puppentheaters hebt einerseits hervor, dass im Folgenden die Kindheit Demys reinszeniert wird, sie also Teil fiktionaler kultureller Produktionen ist. Die Szene kündigt aber auch an, dass wir eine Bildungsbiografie sehen werden, in der kulturelle Erlebnisse einen ebenso großen Stellenwert einnehmen wie Erfahrungen des Alltagslebens oder auch die Ausnahmesituation des Kriegs. Jacquot de Nantes führt die medialen und kulturellen Erfahrungen als wesentlichen Teil der Erinnerung vor – ein Phänomen, das in der Forschung als „prosthetisches Gedächtnis“ bezeichnet wird.16 Erinnerung, das scheint der Anfang anzudeuten, wird stets imaginiert und produziert: Sie holt nicht etwas einmal Gespeichertes unverändert hervor, sondern sie wird von der jeweiligen Gegenwart ausgehend erzählt und geschrieben, aktualisiert und verändert. So führt die den Film charakterisierende Montage von Szenen aus bekannten populären Theaterstücken, Märchen, Chansons und Filmen sowie aus Jacques Demys eigenen Werken vor, wie individuelles und kollektives Gedächtnis ineinandergreifen.17 „Individual memory is seen to be constituted by a framework of intersubjectivity. In this case, the ‘stories friends and family have told, photographs, films and books one has come into contact with’ […], would not be seen as simply interiorised, forming part of the individual’s declarative memory, but as constitutive (along with all the other social structures) of memory itself.“18
Jacquot de Nantes bearbeitet somit in seiner komplexen Struktur drei Ebenen von Erinnerung: als individuelle, in den Körper des einzelnen Menschen (und der Dinge) eingeschriebene und von ihm bezeugte Erfahrung, als intersubjektive, im Verhältnis zu vertrauten Personen ausgehandelte Geschichte und als kollektives kulturelles Gedächtnis, an dem alle Menschen einer Gesellschaft oder eines kulturellen Raumes – als Rezipienten und Produzenten – teilhaben. Der Film führt vor, wie das Kind im Erwachsenen fortlebt und der Erwachsene sich in seinem Schaffen auf das Kind bezieht, das er einmal war.
Bildung als Verbindung von Kunst und Leben
"Seine Kindheit war so gegenwärtig für uns beide, dass ich die Idee hatte, daraus einen Film zu machen. Um ihm einen Gefallen zu tun, aber auch um das Entstehen einer Berufung zu erzählen."19 (Agnès Varda)
Jacquot de Nantes erzählt das Aufwachsen des Kindes als Geschichte einer „Berufung“, einer Bildung zum Filmschaffenden.20 Die Kindheit vor und während des Krieges ist eine Zeit der Entdeckung aller Arten von Populärkultur, die den Alltag und das Leben der Familie prägen. Auch die Ereignisse des Krieges (die Verschickung der Kinder aufs Land, die deutsche Besatzung und die Bombardierung von Nantes) unterbrechen diese Zeit nur kurz. Nach dem Krieg entwickelt der jugendliche Jacquot eine Leidenschaft für das Kino und eignet sich autodidaktisch Techniken des Filmemachens an – des handmade Films, des Spielfilms und des Stopptrickfilms.
Wie andere Filme des modernen Kinos und autobiografische Texte von Cinephilen und Filmschaffenden, die in den 1930er bis 1970er Jahren Kind waren, thematisiert Jacquot de Nantes somit die prägende Rolle des Kinos in der Kindheit.21 In verschiedenen Episoden werden typische Motive einer ‚cinephilen Biografie‘ aufgerufen: die Faszinationskraft der Plakate und Aushangfotos vor den Kinos, das Lesen von Filmzeitschriften, das Sammeln von Filmstreifen, die Gespräche über Filme unter Freunden oder in der Familie, der Kinobesuch mit der ersten Freundin, die autodidaktische Bildung. Dabei zeichnet sich eine Entwicklung ab: Sprechen die Kinder nach dem ersten Kinobesuch in Schneewittchen (Snow white and the seven dwarfs, R: David Hand, USA 1937) vor allem über Figuren und Gefühle – „es ist toll, und es macht Angst“22 –, so verschiebt sich die Wahrnehmung später auf die Filmästhetik (der Farbe in Münchhausen; R: Josef von Báky, Deutschland, 1943), die Eigenart von Drehbuchautoren oder Regisseuren (z. B. Jacques Prévert für Die Nacht mit dem Teufel; Les visiteurs du soir, R: Marcel Carné, Frankreich 1942; Jean Cocteau in Es war einmal; La belle et la bete, Frankreich 1946) oder auf die Schönheit und die Qualitäten der Schauspielerinnen (in Gilda; R: Charles Vidor, USA, 1946). Die naive Begeisterung des Kindes verwandelt sich in das wertschätzende Urteil eines Kenners, der Filme, die er schauen möchte, bewusst auswählt und anderen empfiehlt. Dementsprechend wird nur nach dem ersten Kinobesuch der Blick des Kindes mit bildfüllenden Aushangfotos von Schneewittchen gegengeschnitten, die im Unterschied zum Schwarz-Weiß der Spielfilmszenen farbig eingeblendet sind: als tauche das Kind hier noch einmal in die Welt des Films ein. Die spätere distanziertere Rezeptionsweise wird dagegen durch die Rahmungen der Bilder betont, die auf Titel, Regienamen und Produktionskontexte aufmerksam machen.
Dieses Bild der ‚typischen‘ cinephilen Biografie wird allerdings erweitert: Denn die Kinobesuche sind eingebettet in vielfältige andere kulturelle Einflüsse, und Jacquot wird nicht nur als Schauender gezeigt, sondern auch als Machender: als Darsteller, Bastler, Vorführer und Regisseur. Es geht nicht nur um den Blick des Kindes auf Filme und die Welt, sondern auch um die Aneignung und Bearbeitung dieser Erfahrung in der Kommunikation und kreativen Praxis. So werden die Kinoerlebnisse selbst nicht gezeigt, vielmehr kommentieren die Figuren die (gesehenen oder noch zu sehenden) Filme vor Aushangfotos am Ausgang des Kinos. Die Filmerfahrung erscheint erst in der Nachahmung und Wiederholung, wenn Jacquot Figuren aus Märchen bastelt oder mit Freunden über Filme spricht. Die assoziative Montage – die keiner kausalen Handlungslogik folgt, sondern motivische Korrespondenzen zwischen den gesehenen Filmen, der Alltagswirklichkeit, den Produktionen des Kindes und den Filmen des späteren Demy hervorhebt – suggeriert darüber hinaus das enge Ineinandergreifen von Kunst und Leben, beides scheint aufeinander zu antworten.
Elemente der gesehenen Filme finden sich in der Alltagsrealität wieder: Beispielsweise wird das Schneewittchen-Motiv der Prinzessin, die bei der Arbeit singt, mit einer Küchenszene mit der singenden und backenden Mutter und einem Ausschnitt aus Eselshaut ( Peau d‘âne , R: Jacques Demy, Frankreich/Italien 1970) mit Catherine Deneuve als singender und backender Prinzessin verkettet.23
Dies legt nahe, dass der kleine Jacquot im Film liebt, was er aus dem Alltag kennt, und umgekehrt im Alltag bemerkt, was ihn am Film beeindruckt hat. Aber es suggeriert auch, dass der erwachsene Regisseur diese Kindheitserfahrungen des Alltags und des Films in seinen eigenen Werken wieder aufgreift: diese also auch als Verarbeitungen und Zeugnisse der Erinnerung, als „transformed recreations of Jacques’ own childhood“ verstanden werden können.24
Dementsprechend werden auch Jacquots eigene Arbeiten durch ein Netz von Motiven mit anderen Ereignissen verknüpft. Ein Beispiel dafür ist der erste Film, den Jacquot als Jugendlicher herstellt, indem er einen 8-mm-Zelluloidstreifen bemalt und dann seiner Familie (und den Zuschauern) mit dem Projektor vorführt: Le pont des mauves (R: Jacques Demy, Frankreich 1944), der auf Basis von Originalmaterial rekonstruiert wurde, ist in voller Länge zu sehen.25 Er zeigt Formationen von Raumschiffen gleichenden Flugzeugen, aus denen ein Fallschirmspringer abspringt.
Le pont des mauves lässt sich mit mehreren anderen, zuvor in Jacquot de Nantes gesehenen Erlebnissen und Aktivitäten von Jacquot in Verbindung bringen: 1. Jacquot als Filmvorführer – der mit einem Kurbelprojektor seiner Familie Chaplin-Kurzfilme vorführt, bevor er beginnt, seine eigenen Arbeiten zu zeigen. 2. Jacquot als Bastler – der in der Küche aus Kartoffeln und Pappe Marionetten bastelt und jetzt einen Film ‚malt‘. 3. Jacquot als Sammler – der auf einer Müllhalde Filmstreifen von NS-Wochenschauen mit Kriegsflugzeugen findet, die seine Mutter umgehend wegwirft. 4. Jacquot, das Kriegskind – das im Luftschutzkeller die Bombardierung von Nantes miterlebt und in einer Landschule dem Absprung eines Fallschirmspringers zusieht. 5. Jacquot, das Kind aus Nantes – das unter der alten Eisenbrücke „Pont de Mauves“ schwimmen lernt, die im gleichnamigen Film als Schauplatz gezeigt und titelgebend ist.
Diese und weitere motivische Verknüpfungen, die Jacquot de Nantes durchziehen, sind nicht in einem dramaturgischen Bogen eingegliedert, der eindeutige Ursache-Wirkung-Mechanismen nahelegt. Es bleibt vielmehr den Zuschauern überlassen, sie aufzusuchen und zu deuten. Auch der Bildungsprozess von Jacquot wird nicht als stringente, kausale Entwicklung gezeigt, sondern zeigt sich als Patchwork aus ästhetischen Erfahrungen und Wahrnehmungen, Erlebnissen, Situationen und Handlungen, deren konkrete Auswirkungen unabsehbar bleiben.
Neben dieser ‚Vernetzung‘ von Kunst und Leben, die auch mit Theorien der Intertextualität erschlossen werden könnte, steht in Jacquot de Nantes darüber hinaus die körperlich-sinnliche Dimension von Bildungsprozessen im Vordergrund. Denn neben dem Blick des Kindes, das Filme schaut, wird immer wieder die Hand, die etwas tut, in den Mittelpunkt gerückt: Jacquot handhabt Marionetten, führt Filme mit einem kleinen Projektor vor, der mit der Hand gekurbelt werden muss, bemalt einen Filmstreifen, führt die Kamera, positioniert Schauspieler für seinen ersten Spielfilm und bewegt die Pappfiguren für seine Stopptrickfilme. Entscheidend sind dabei nicht die Tätigkeiten selbst, die einem selbstverständlich erscheinen mögen. Entscheidend ist, dass in der Inszenierung und Montage die körperliche und vor allem handwerkliche Dimension des kreativen Prozesses immer wieder herausgestellt wird. Nachdem die Kinder nach einem Operettenbesuch schlafen gegangen sind, wird beispielsweise eine Einstellung der Sängerin mit einer Einstellung von Jacquot auf einer improvisierten Bühne gegengeschnitten, der die theatralische Geste der Sängerin aufgreift. Ein einziger Schnitt macht sichtbar, wie die Kunsterfahrung nicht nur in die Imagination (die Träume), sondern auch in den Körper eingeht.
Diese Darstellung des Kunstschaffens als in den Alltag eingebettetes Handwerk hat verschiedene Implikationen. Erstens wird – wie bereits erwähnt – dadurch ein ästhetischer Bildungsprozess gezeigt, der nicht nur die Imagination und Realitätswahrnehmung betrifft, sondern sich in den Körper einprägt. Zweitens wird eine Analogie zwischen der Arbeit der Erwachsenen (in der Küche, in der Garage oder an der Nähmaschine) und der kreativen Praxis des Kindes nahegelegt. Besonders eindrücklich ist das in einer Montagesequenz, in der die Detailaufnahme der Hände des bastelnden Jacquot mit den Aufnahmen der Hände der Mutter, die Benzin einfüllt und Geld kassiert, und den Händen des Vaters, der ein Auto repariert, gegengeschnitten wird. Filmschaffen wird hier in einem buchstäblichen Sinne als Hand-Werk vorgeführt.
Drittens wird im Motiv der Hand-Arbeit, wie bereits in dem Motiv der singenden und backenden Prinzessin, auch die utopische Überwindung von sozialen Differenzen angedeutet, die der später im Film von einem Berufschullehrer betonten Trennung zwischen intellektueller und manueller Arbeit zugrunde liegt. Die Erwachsenen versuchen den Jugendlichen Jacques von seinem Wunsch, die Filmhochschule zu besuchen, mit den Worten abzubringen: „Erlerne lieber einen Beruf!“26 (Vater), und „Das Kino, das ist ein ganz anderes Milieu, da gibt es viele Berufene und wenige Erwählte!“27 (Zeichenlehrer). Die Infragestellung der Gleichwertigkeit von Arbeit und Kunst beinhaltet in diesen Bemerkungen auch das Gebot, die eigene soziale Schicht nicht zu verraten (bzw. zu verlassen).28
Jacquot de Nantes formuliert dazu – wie in meiner Analyse gezeigt – eine Gegenposition: Denn Kunstschaffen wird als Verbindung von intellektueller und manueller Arbeit vorgeführt – wie um dies zu betonen, wird auch in den Dokumentarszenen Demy beim Schreiben mit der Hand und beim Handhaben der Kamera gezeigt. Im Motiv des Handwerks artikuliert Jacquot de Nantes also, viertens, auch eine künstlerische Ethik, die das Filmschaffen von Demy und Vardas kennzeichnet – so verschieden ihre Werke sonst auch sind. Das Motiv der singenden und backenden Prinzessin ist für das Werk von Demy programmatisch, es ist das Stilprinzip, mit dem er das Musical in den 1970er Jahren erneuert hat. Denn er widmet dieses hochartifizielle Genre den ‚einfachen‘ Menschen, die als Automechaniker oder Verkäuferin, Tanzlehrerin oder Zirkusartist tätig sind. Und der Gesang bleibt in manchen seiner Filme nicht nur auf besondere Momente beschränkt, sondern ersetzt die Dialoge: wenn ein Automechaniker in Die Regenschirme von Cherbourg einem Kunden das reparierte Auto vorführt – dann tut er das singend. Die Filme und Erfahrungen von Demys Kindheit erweisen sich damit nicht nur als Inspirationsquelle, sie prägen auch die Ästhetik seiner eigenen Werke.
Varda wiederum verwirklicht die Verbindung von Kunst und Leben – in Filmen wie Jacquot de Nantes, Die Strände von Agnès oder Die Sammler und die Sammlerin – gerade in der Montage heterogener Materialien und in der Art und Weise, wie sie Geschichten und Erinnerungen über Begegnungen mit Menschen erzählt. In Jacquot de Nantes vermittelt sich diese Durchdringung von Kunst und Leben nicht nur in der Grundstruktur aus den drei Strängen Dokument – Fiktion – Filmzitat. Sie artikuliert sich auch in den Verzweigungen auf der Mikroebene, den assoziativen Montagen, die die verschiedenen Stränge verbinden: Über Gesten, Bewegungen, Motive und Blicke stellen sie formale und inhaltliche Korrespondenzen her und durchkreuzen die lineare Handlung. So wird sichtbar, wie Kunst im Alltag verwurzelt ist und in ihn eingeht, wie Erinnerung an Menschen und Dinge geheftet ist, in ihnen gespeichert, von ihnen hervorgebracht wird und sie zeichnet.29
Diese Abschweifung von linearen Erzählungen und Lebensläufen hat Varda in ihren späteren Filmen radikalisiert. In dem ihrer eigenen Biografie gewidmeten Die Strände von Agnès finden sich dieselben Ebenen wie in Jacquot. Es gibt fiktionale Reinszenierungen von Momenten der Vergangenheit (diesmal in grellen Farben), Zitate aus ihren Filmen sowie Aufnahmen anderer künstlerischer Arbeiten (Fotografien, Installationen), und die Regisseurin selbst spricht als Offstimme und als Erzählerin im Bild zu den Zuschauern. Allerdings wird keiner der Stränge für sich entwickelt, vielmehr verzweigt sich jede biografische Episode in verschiedene Richtungen, die Ebenen sind eng miteinander verbunden. Das Ausgreifen auf die Gegenwart und die intersubjektive Erzählung werden zudem verstärkt, indem Varda auch Begegnungen mit anderen Personen einbezieht, die für ihr Leben wichtig waren oder denen sie während der Dreharbeiten begegnet ist. Varda zeigt den eigenen Lebenslauf als verwoben mit den Lebensläufen anderer.
Trotz dieser Ähnlichkeiten kann Die Strände von Agnès in Hinblick auf die Kindheitserinnerungen als Gegenentwurf zu Jacquot de Nantes verstanden werden. Die Regisseurin betont in ihrem Kommentar unmissverständlich die Belanglosigkeit der Kindheitserinnerung für ihr eigenes Leben: „Alle sagen, dass die Kindheit grundlegend sei, die Struktur, was weiß ich … Ich habe keine besondere Beziehung zu meiner Kindheit. Sie ist kein Bezugspunkt, an den ich denke. Sie ist keine Inspiration. Na ja, ich weiß nicht.“30 Dementsprechend zeigt sich der erste Teil des Films ‚unwillig‘, die Kindheit aufzusuchen, und betont sogar das Scheitern der Erinnerung: Die Musik, welche die Künstlerin nach eigener Aussage oft im Elternhaus gehört hat, wird abrupt unterbrochen. Alte Fotos der Familie steckt Varda in den Strand des Meeres, statt sie in Detailaufnahmen ‚herzuzeigen‘. Die Reinszenierung von Szenen dieser Fotos mit Mädchen in altmodischen Badeanzügen stellt sie mit den Worten infrage: „Ich weiß nicht, was das ist, eine Situation wiederherzustellen. Lässt das die damalige Zeit wiederaufleben? Es ist Kino, es ist ein Spiel!“31 Und ein Besuch in ihrem früheren Elternhaus in Brüssel endet damit, dass der Besitzer ihr seine Sammlung von Modelleisenbahnen zeigt: Die Sammlerin von Begegnungen in der Gegenwart siegt über die Erzählerin, die die Kindheit in der Vergangenheit aufsuchen möchte. Vardas Kommentar dazu: „Was meine Kindheit betrifft, war’s ein Reinfall!“32 In Die Strände von Agnès scheint die Negierung der Kindheitserinnerung Voraussetzung für eine Hinwendung zur Gegenwart.
Mit Die Strände von Agnès lässt sich das in Jacquot de Nantes gefilmte Zusammenwirken von biografischer Erfahrung und rückblickender Konstruktion somit infrage stellen: Zeugt die Darstellung einer glücklichen Kindheit, in der Kunst und Leben eine Einheit bildeten, davon, wie ein Kind die Welt (selektiv) wahrnimmt und erfährt? Oder sagt sie vielmehr etwas darüber aus, wie Erinnerung funktioniert? Wurden die darin gezeigten Momente der Kindheit von Demy erinnert und von Varda ausgewählt, weil sie einen prägenden Einfluss auf das weitere Leben und die Entwicklung zum Filmschaffenden hatten? Oder definieren Demy/Varda im Rückblick gerade die Momente der Kindheit als entscheidend, die für ihr Selbstverständnis als Mensch und Künstler relevant sind? Was schreibt sich ‚unwillentlich‘ ins Gedächtnis ein, und was wird im Prozess des Erinnerns aktiv konstruiert – im Spiegel der anderen und in der Selbstbetrachtung? Und welche Rolle spielt hier die Nostalgie, die sich in den eingangs zitierten Versen von Baudelaire äußert: die rückblickende Verklärung der glücklichen Momente der Vergangenheit im Angesicht des Todes?
In der Biografieforschung wurde untersucht, wie die Erzählung von Lebensläufen und das Schreiben von Biografien als Strategien der Identitätsbildung fungieren.33 In den Geschichten, die man über sein Leben erzählt, in den Narrativen, die man konstruiert, bestimmt man auch, wer man ist und wie man dazu geworden ist. Erinnerung kann in diesem Sinne als Pendant zur Bildung verstanden werden: In der Erinnerung wird der Prozess der Bildung wiederaufgerufen, befragt und auch hergestellt. Demnach ist die eigene Kindheit nur als Ergebnis eines retrospektiven Konstruktionsprozesses verfügbar.
In seiner komplexen Struktur führt uns Jacquot de Nantes diese Re-Konstruktion der Vergangenheit als intersubjektiven Prozess vor Augen. Erinnerung ist kein schon verfügbares, eindeutig definiertes Material, sondern sie wird im Austausch mit anderen bearbeitet und aktualisiert, sie zeigt sich in den Aufnahmen des alten Demy ebenso wie in dem von ihn gedrehten Filmen, sie zeigt sich in dem, was Demy uns erzählt, und in dem, was Varda sich vorstellt. Diese Erinnerung ist nicht individuell, sondern geformt von einem kulturellen Gedächtnis – den Liedern, Operetten, Filmen, die er und viele andere gesehen haben, ein kulturelles Gedächtnis, in das auch seine eigenen Filme eingegangen sind.
Jacquot de Nantes zeigt Erinnerung und Bildung aber nicht nur als Prozesse (imaginärer) Konstruktionen, sondern betont zugleich ihre physische Dimension. Es sind die konkreten Körper, die Dinge und Orte, in die sich die Erfahrung einschreibt, die durch sie ‚gebildet‘ werden und in denen sich die vergangene Kindheit zeigt. Jacquot de Nantes führt damit ein phänomenologisches Verständnis von Erinnerung und Bildung vor, insofern die Phänomenologie Denkprozesse (und damit auch Bildungsprozesse) als verkörperte Prozesse bestimmt, als Prozesse, in denen die Geste der Hand auch eine Geste des Be-Greifens ist. Maurice Merleau-Ponty hat die These formuliert, dass das Medium Film diese Verflechtung von Ich und Welt, von Körper und Dingen, das Entstehen von Bedeutung in der Anschauung besonders gut vorzuführen imstande ist.34 Laura Marks hebt das Potenzial von Filmen hervor, Dinge und Körper als materielle Träger der Erinnerung zu erschließen.35 In diesem Sinne nutzt Varda den Film als Medium, um die Durchdringung von Sinneserfahrung und Imagination, von handwerklichen und geistigen Tätigkeiten, von Kunst und Leben, von Vergangenheit und Gegenwart in den Körpern, Materialien, den Worten und Bildern aufzuspüren und um die Kindheit im Erwachsenen aufzusuchen.
Zitiervorschlag: Bettina Henzler: Kunst und Leben: Erinnerungen an die Kindheit eines Filmemachers. In: Bettina Henzler (Hg.): Filmästhetik und Kindheit. Online-Beiträge zum gleichnamigen Forschungsprojekt, veröffentlicht am 20.10.2018 (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:46-00106788-19).
Filme / Literatur
DER GEIST DES BIENENSTOCKS / EL ESPÍRITU DE LA COLMENA, R: Víctor Erice, Spanien 1973.
DIE MÄDCHEN VON ROCHEFORT / LES DEMOISELLES DE ROCHEFORT, R: Jacques Demy, Frankreich 1967.
DIE NACHT MIT DEM TEUFEL / LES VISITEURS DU SOIR, R: Marcel Carné, Frankreich 1942.
DIE REGENSCHIRME VON CHERBOURG / LES PARAPLUIES DE CHERBOURG, R: Jacques Demy, Frankreich/Deutschland 1964.
DIE SAMMLER UND DIE SAMMLERIN / LES GLANEURS ET LA GLANEUSE, R: Agnès Varda, Frankreich 2000.
DIE STRÄNDE VON AGNÈS / LES PLAGES D'AGNÈS, R: Agnès Varda, Frankreich 2008.
ESELSHAUT / PEAU D‘ÂNE, R: Jacques Demy, Frankreich/Italien 1970.
ES WAR EINMAL / LA BELLE ET LA BETE, Jean Cocteau, Frankreich 1946.
GILDA, R: Charles Vidor, USA, 1946.
JACQUOT DE NANTES, R: Agnès Varda, Frankreich 1991.
LE PONT DES MAUVES, R: Jacques Demy, Frankreich 1944.
MÜNCHHAUSEN, R: Josef von Báky, Deutschland, 1943.
SCHNEEWITTCHEN / SNOW WHITE AND THE SEVEN DWARFS, R: David Hand, USA 1937.
Bilden, Helga / Dausien, Bettina (Hg.): Sozialisation und Geschlecht. Theoretische und methodologische Aspekte. Opladen 2006.
Henzler, Bettina: Filmästhetik und Vermittlung. Zum Ansatz von Alain Bergala: Kontexte, Theorie und Praxis. Marburg 2013.
Henzler, Bettina: Hand-Werk in Agnès Vardas 'Jacquot de Nantes'. Zur phänomenologischen Dimension von Filmbildung. In: Friederike Rückert (Hg.): Bewegte Welt // Bewegte Bilder. Bewegtbilder im kunst- und medienpädagogischen Kontext, München 2018, S. 33-52.
Kuhn, Annette: Family Secrets. Acts of Memory and Imagination. London, New York 1995.
Magny, Joel: Sur Les Traces de Jacques Demy. Jacquot de Nantes. In: Michel Estève (Hg.): Agnès Varda. Paris 1991, S. 173–177.
Marie, Michel: La Jeunesse d’un Cinéaste: Jacques Demy vu Par Agnès Varda. In: Antony Fiant / Roxane Hamery / Eric Thouvenel: Agnès Varda: Le Cinéma, et Au-Délà. Rennes 2009.
Marks, Laura U.: The Skin of Film. Intercultural Cinema, Embodiment and the Senses. Durham, London, S. 147.
McNeill, Isabelle: Memory and the Moving Image. French Film and the Digital Era. Edinburgh 2012.
Merleau-Ponty, Maurice: Das Kino und die neue Psychologie. In: Dimitri Liebsch (Hg.): Philosophie des Films. Grundlagentexte. Paderborn 2005, S. 70–83, hier 82.
Pauleit, Winfried: Kino / Museum. Film als Sammlungsobjekt oder Film als Verbindung von Archiv und Leben. In: Kittlausz/Pauleit (Hg.): Kunst – Museum – Kontexte. Perspektiven der Kunst- und Kulturvermittlung. Bielefeld 2006, S. 113–135.
Smith, Alison. Time and Memory. In Agnès Varda. Manchester, New York1998.
Varda, Agnès: Vers le visage de Jacques. In: Claudine Paquot (Hg.): Varda par Agnès. Paris 1994, S. 202–207.
Anmerkungen
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1
„Hommage? Pas pour moi. Un film pour Jacques peut-être, mais un film existe aussi pour les non-cinéphiles, ceux qui ne conaissent pas les films de Jacques ni les miens, et pour ceux qui ne savent rien sur mes relations avec lui. Les enfants par exemple.“ Varda 1994, S. 206.
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2
Siehe Filmanalyse zu Der Geist des Bienenstocks online unter: nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:46-00106336-14 (10.07.2018).
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3
„Il y a eu des présentations et des débats avec des gosses de huit à treize ans … Une fois, deux petits se sont approchés de moi. L’un a dit: ‚Madame, comment on se souvient de ses souvenirs?‘ L’autre lui a donné une bourrade: ‚C’est pas ça qu’on veut dire, non, c’est comment pouvez-vous souvenir des souvenirs d’un autre?‘“ Varda 1994, S. 206.
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4
Laut McNeill ist dagegen in konventionellen Biopics oder Dokumentarfilmen die Stimme des Augenzeugen die ordnende Instanz, der die Bildebene untergeordnet wird. McNeill 2012, S. 88.
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5
Agnès V. raconte l’aventure triste et gaie de « Jaquot de Nantes ». Bonusfilm auf der DVD Jaquot de Nantes von Artificial Eyes, 2008. „Non, je crois trop aux murs, à la matière, à tout ce qui reste d’un lieu où on a habité.“
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6
Siehe Pauleit 2006 und McNeill 2012, S. 52 ff.
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7
Smith 1998, S. 162/3.
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8
McNeill verweist auf die Bedeutung der Nahaufnahme des Augenzeugen im Dokumentarfilm. Während die von ihr beschriebene Verkörperung der Erinnerung sich in diesem Fall jedoch auf die Mimik und Gestik fokussiert, bezieht Varda in Jacquot de Nantes den ganzen Körper wie eine Landschaft ein. Sie vermeidet damit auch die voyeuristische Dimension, die dem Beobachten von Emotionen in einem Gesicht innewohnt. McNeill 2012, S. 88 f.
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9
Vgl. Martine Beugnet: Cinema and Sensation. French Film and the Art of Transgression, S. 95.
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10
Siehe auch: Magny 174, Marie 2009, S. 165.
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11
Jacques Demy starb wenige Wochen nach Ende der Dreharbeiten an AIDS, Varda hat die Todesursache aber erst Jahre nach seinem Tod bekannt gegeben.
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12
„Ce n’est pas ô vieillesse ennemie, ce serait plutôt vieillesse amie, mais tout de même, il y a mes mains, qui me disent que c’est bientôt la fin.“
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13
„A Noirmoutier, un dimanche d’Août, je fais quelques plans de Jacques au bord du rivage. Un ou deux plans à la main. Je vais vers le visage Jacques. J’ai peur qu’il meure. C’est la fin d’une très belle journée d’été. Pour la première fois, il n’est pas assez bien pour aimer avec moi la beauté de cette plage.“ Varda 1994, S. 204.
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14
Stabat mater ist ein mittelalterliches Gedicht, das die Trauer Marias um den gekreuzigten Jesus ausdrückt. Vivaldi hat es als Stück für Stimme und Orchester vertont (ca. 1727).
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15
Übersetzung von Therese Robinson. In: Chaltes Baudelaire: Die Blumen des Bösen. München 1925. (siehe online). Im Film: „Je sais l’art d’évoquer les minutes heureuses! / Ces serments, ces parfums, ces baisers infinis, / Renaîtront-ils d’un gouffre interdit à nos sondes, / Comme montent au ciel les soleils rajeunis / Après s’être lavés au fond des mers profondes? / — Ô serments! ô parfums! ô baisers infinis! / La nuit s’épaississait ainsi qu’une cloison, / Et mes yeux dans le noir devinaient tes prunelles, / Et je buvais ton souffle, ô douceur! ô poison! / Et tes pieds s’endormaient dans mes mains fraternelles. / La nuit s’épaississait ainsi qu’une cloison.“
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16
Jacquot: „C’est pas fini! … Des fois le rideau s’ouvre encore!“
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17
Siehe McNeill 2012, S. 29. Smith weist darauf hin, dass die drei Stränge in Jacquot de Nantes – Dokument, Fiktion, Filmzitat – einander bedingen und authentifizieren. Die Dokumentaraufnahmen bezeugen die Authentizität der fiktionalen Nacherzählung der Kindheit, sie erscheinen als Ursprung der Filme, die Demy gedreht hat, Demys Filme wiederum mögen Vardas Reinszenierung von Demys Erinnerungen beeinflusst haben. Smith 1998, S. 164 ff.
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18
Zur Verwobenheit von individueller und kollektiver Erinnerung siehe Kuhn 1995.
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19
McNeill 2012, S. 26.
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20
„Son enfance était tellement présente pour nous deux que j’ai eu l’idée d’en faire un film. Pour lui faire plaisir mais aussi pour filmer la naissance d’une vocation.” Varda 1994, S. 202.
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21
Siehe auch Marie 2009.
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22
Siehe Henzler 2013, S. 156 ff.
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23
Dialoge aus Jacquot de Nantes, im Original: „Banche neige, elle est jolie“.“Ce que j’aime le plus, c’est la sorcière!“, „C’est formidable et ça fait peur.“
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24
Für eine ausführlichere Analyse des an dem Beispiel Schneewittchen gezeigten Bildungsprozesses siehe Bettina Henzler 2018.
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25
Smith 1998, S. 164.
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26
Der Film Le pont des mauves wurde zu Anfang der Dreharbeiten auf dem Speicher von Demys Elternhaus gefunden. Varda ließ ihn von einer Künstlerin auf der Basis des Originalmaterials rekonstruieren. Siehe Bonusfilm: Agnes V. raconte l’aventure triste et gaie de Jacquot de Nantes.
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27
Dialog im Original: „Apprend plutôt un métier.“
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28
Dialog im Original: „...deux travalleurs totalement différent, l’un de l’autre.“
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29
Erst das anerkennende Urteil eines bekannten Regisseurs (Christian-Jacqué) über einen seiner ersten Filme überzeugt die Eltern schließlich doch davon, ihn an die Filmhochschule nach Paris zu schicken.
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30
Zum Motiv der Hände siehe auch Henzler 2018.
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31
Dialog im Original: „Tout le monde dit, que l’enfance est fondatrice, la structure, je ne sais pas quoi. Je n’ai pas beaucoup de rapport à mon enfance. C’est pas une référence pour les choses auquel je pense. C’est pas une inspiration. Enfin, je ne sais pas.“
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32
Dialog im Original: „Je ne sais pas ce que c’est de reconstituer une scène. Est-ce que ça fait revivre ce temps là? C’est du cinéma, c’est un jeu!“
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33
Dialog im Original: "... côté maison d’enfance, c’était loupé.“
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34
Siehe dazu: Kuhn 1995, McNeill 2012, Bilden/Dausien 2006.
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35
Merleau-Ponty 2005, S. 182.
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36
Marks 2000, S.147.