„Als ich auf die Welt kam, fiel ich auf ein Schlachtfeld..."
17. Dezember 2017
In einigen westdeutschen Filmen der 1970er und 1980er Jahre sind Kinder und Jugendliche die Protagonisten eines neuen Blicks auf die Welt. Mit ihnen konfrontierte die damals junge Generation Filmschaffender die deutsche Wirklichkeit, Vergangenheit (Die Blechtrommel, R: Volker Schlöndorff, BRD 1979) und Gegenwart (Alice in den Städten, R: Wim Wenders, BRD 1974). An ihnen artikulierte sich das schwierige Verhältnis zwischen den Generationen (Hungerjahre, R: Jutta Brückner, BRD 1980) ebenso wie die Hoffnung auf eine andere Zukunft (Das goldene Ding, R: Edgar Reitz, Ula Stöckl, BRD 1971). Ein herausragendes Beispiel ist Deutschland, bleiche Mutter (R: Helma Sanders-Brahms, BRD 1980), in dem Helma Sanders-Brahms aus der Perspektive des Kindes das Leben ihrer Mutter im NS-Regime, in Kriegs- und Nachkriegszeit schildert. Deutschland, bleiche Mutter steht im Zusammenhang feministischer Auseinandersetzungen und Relektüren der Geschichte in den 1980er Jahren. Der Film ist als eine programmatische Gegenerzählung zur ‚Objektivität’ beanspruchenden Geschichtsschreibung konzipiert1: Denn er befasst sich – in einer persönlichen Tonlage – mit der schuldhaften Verstrickung der gewöhnlichen Deutschen, die zugleich Mitschuldige und Opfer der Geschichte waren, und rückt die alltäglichen Erfahrungen von Frauen ins Zentrum.
Die Vermittlung zwischen Mutter und Kind ist das zentrale inhaltliche und formale Moment des Films: Deutschland, bleiche Mutter verfolgt die Frage, was die Elterngeneration an die Nachfolgenden weitergibt, von ihren Erfahrungen und ihrem Wissen, ihren Traumata und soziokulturellen Prägungen. Der Film ist dabei selbst Zeugnis einer Aneignung und Vermittlung von Geschichte, die sich an die Zuschauer*innen der Gegenwart richtet. Die Figur des Kindes verweist auf die Autorin, die sich in dem Kind darstellt, und auf die Zuschauer*innen, die durch Kinderfiguren anders angesprochen werden, als durch erwachsene Figuren.
Die folgende Analyse wird sich daher – anders als die meisten Texte zum Film – nicht auf die Figur und Geschichte der Mutter konzentrieren, sondern den Fokus auf Figur, Perspektive und Schauspiel des Kindes richten. An Deutschland, bleiche Mutter lässt sich zeigen, in welcher Weise Kindheit in Filmen gezeigt werden kann: als kulturell überliefertes Bild und als Schauspiel, als (auto)biografischer Bezugspunkt der Erinnerung und als Modus der Wahrnehmung.
Siehe auch das Gespräch mit dem Kameramann Jürgen Jürges auf dieser Seite und die Analyse der akustischen Geschichtserfahrung in Stimmen der Geschichte (Henzler 2015).
Bilder von Mutter und Kind: Die Darstellung einer Vermittlungsbeziehung
In Deutschland, bleiche Mutter kehrt leitmotivisch ein dreiteiliger Spiegel wieder, der auf die Bauform des Films verweist2. Am Anfang, vor dem Krieg, spiegeln sich darin Vater Hans (Ernst Jacobi) und Mutter Lene (Eva Mattes) als Hochzeitspaar in der neuen Wohnung – in der Mitte vereint im Bild, links und rechts (schon oder noch) vereinzelt:
Dementsprechend erzählt uns der erste Teil des Films von der Entstehung eines Liebes- und Ehepaares, das durch die Einberufung des Vaters mit Kriegsbeginn jäh auseinandergerissen wird und sich auf den wenigen Heimurlauben zunehmend entfremdet. Im Mittelteil, während des Krieges, sieht man den Spiegel aus dem Trümmerberg des Hauses ragen. Die Mutter nimmt nun von ihrem Spiegelbild Abschied, um sich mit der neugeborenen Tochter Anna auf die Flucht – erst nach Berlin, dann aufs Land – zu begeben.
Diese Beziehung ist das (emotionale) Kernstück des Films. Sie wird kontrapunktisch gegen das Kriegsgeschehen gesetzt,3 dem Mutter und Kind– bei Obdachlosigkeit, Hunger, Gewalt, Todesgefahr – gemeinsam trotzen. Erst der Versuch, die Kleinfamilie in der Nachkriegszeit wiederherzustellen und die Erfahrungen des Krieges zu verdrängen, führt zur Depression der Mutter und einem für das Kind traumatischen Bruch dieser Beziehung. Dementsprechend sucht das Kind in diesem dritten Teil sein Bild im Spiegel, die Eltern können sich darin nicht mehr ‚ins Gesicht’ schauen, geschweige denn in einem Familien-Bild zusammenfinden.
Denn mit der Rückkehr des Vaters zerrüttet die Ehe und die Mutter verliert buchstäblich ihr Gesicht: eine Gesichtslähmung wird zum Sinnbild für Identitätsverlust und die Präsenz der verdrängten Gewalterfahrung in der Nachkriegszeit. Das Motiv des Spiegels vertritt somit nicht nur die Bauform, sondern auch die wesentliche Thematik des Films: wie weibliche Identität von kulturellen Bildern, gesellschaftlichen Rollen und historischen Ereignissen geprägt (oder auch zerstört) wird. Im Folgenden untersuche ich zunächst die Bilder, die Deutschland, bleiche Mutter für die Darstellung der Mutter-Kind-Beziehung aufruft, bevor ich auf die Perspektive und Figur des Kindes eingehe.
Nach der Geburt von Anna wird die junge Familie erstmals zum Weihnachtsfest – und damit vor dem Hintergrund der christlich-bürgerlichen Familienmythologie – gezeigt. Die räumliche Trennung der Familie – der Mann an der Front, Mutter und Kind zu Hause – widerspricht der mit dem Familienfest verbundenen Vorstellung von Einheit und Intimität. Die Parallelmontage der getrennten Räume und der überlappende Radioton betonen jedoch eine zumindest emotionale Verbindung: Hans, der gemeinsam mit anderen Soldaten und dem Moderator in einem dunklen Zugabteil sitzt, scheint über das Radio mit seiner Familie vereint. Diese visuell-akustische Anordnung entspricht der ideologischen Funktion der NS-Weihnachtsrundsendungen, die durch Zuschaltungen zur Front die Einheit der durch den Krieg getrennten Familien und der Nation als einen zusammenhängenden Körper suggerierten.4
Die Einstellungen von Lene und Anna unter dem Weihnachtsbaum verweisen zudem auf die christliche Ikonografie der Muttergottes mit Christus.5 Sie werden in einer Fotografie von Mutter und Kind vorweggenommen, die Hans im Zugabteil in der Hand hält und anschaut. Wie über das Radio, wird auch über das Medium der Fotografie eine Verbindung hergestellt, die die räumliche (und innere) Trennung überbrückt, aber auch markiert: Im Sinne von Roland Barthes Aussage: „das Bild ist das, von dem ich ausgeschlossen bin“6 – wird hier der Vater als Dritter gegenüber der Einheit von Mutter und Kind gezeigt, und damit bereits eine Entwicklung angedeutet, in der er zunehmend zum störenden Eindringling, zum Fremden wird. Das ikonische Bild einer Einheit von Mutter und Kind wird dem Blick des Vaters zugeordnet. Es ist ‚Produkt’ eines männlichen Blicks, Ausdruck seiner Sehnsucht, und verweist umgekehrt auch auf die Prägung von Hans’ Wahrnehmung durch kulturelle Bilder von Frau und Kind.7 Wenn die beiden sich im Verlauf des Krieges entfremden, wird Hans Lene vorwerfen, dass sie dem Bild, das er sich von ihr macht, nicht (mehr) entspricht.8
Die Verklammerung der beiden Szenen über Fotografie und Radio verweist somit auf die ideologische Dimension der Medien und der von ihnen produzierten Familienbilder. Die Vorstellung von Weihnachten als idyllischem Fest der Familie wird im weiteren Verlauf der Szene demontiert, wenn Lene unter Bombenalarm mit Anna in einen Luftschutzkeller fliehen muss und zugleich auf der Tonebene der Abschlusschor Stille Nacht, heilige Nacht in Goebbels Rede vom „Totalen Krieg“ übergeht. Durch die Konfrontation der verschiedenen Originaltondokumente und ‚Bildpolitiken’ wird die ideologische Vereinnahmung christlicher Symbolik (insbesondere der ‚heiligen Mutter’) durch den Nationalsozialismus sichtbar.9 Dieses Verfahren der Kontrastierung, visuell und akustisch, lässt sich in jeder Szene des Films feststellen: Es wird kein Bild konstruiert, kein Ideal beschworen, ohne dass es nicht unmittelbar gestört und befragt wird.10
Deutschland, bleiche Mutter greift somit kulturelle Bilder von Mutter und Kind auf und reflektiert diese: angefangen mit der Allegorie der Mutter als Land im titelgebenden Gedicht von Brecht, über die christliche Ikonografie bis hin zum psychoanalytischen Modell einer ödipalen Konstellation, in welcher der Vater als Dritter in die symbiotische Beziehung von Mutter und Kind eindringt.11„All three mother-son paradigms – the nationalist, the sacred, and the psychoanalytical – are prototypes against which the film defines itself. And in so doing, it positions its spectators to reasses the value of these kinds of paradigms for illuminating the politics of home and ‘homeland’, feminine agency and national identity.“12
Wie an der Weihnachtsszene verdeutlicht, geht es dabei nicht um eine Reproduktion von stereotypen Familien- und Weiblichkeitsbildern, die eine Mythisierung des Mutter-Kind-Verhältnisses mit sich bringen. Vielmehr wird die Bildproduktion im Film selbst thematisiert, als der Kontext innerhalb dessen sich eine Frau, eine weibliche Subjektbildung, verortet. Dies zeigt sich – wie Linville zutreffend beschreibt – nicht zuletzt in der Verschiebung von der in der christlichen Tradition verhandelten Mutter-Sohn zur Mutter-Tochter-Beziehung.
Diesen kulturellen Stereotypen sind Szenen entgegengesetzt, die eine alltägliche Beziehung von Mutter und Kind zeigen: Lene mit der schreienden Anna auf dem Arm, mit Anna an der Hand laufend, neben Anna kniend, Lene und Anna in der Badewanne ... Wie ein ‚Gegenentwurf’ zur christlichen Ikonografie der Mutter mit dem Baby auf dem Arm wirkt das Bild, das sicher nicht zufällig am häufigsten in den Werbeträgern (Plakaten und DVD-Covern) des Films auftaucht: die Mutter, die mit dem Kind auf den Schultern, durch Stadt- und Schneelandschaften marschiert. Noch heute sind diese beiden Konstellationen geschlechtlich konnotiert: Es ist die Frau, die das Kind in den Armen hält; der Mann trägt es auf seinen Schultern.13 Das eine Bild suggeriert die Einheit des Kindes mit dem Körper der (nährenden) Mutter, das andere die Stärke des Vaters, auf dessen Schultern das Kind der Welt begegnet. Sanders-Brahms schreibt somit der Mutterfigur sowohl die ‚weiblich’ konnotierte Rolle der Nährenden und Sorgenden, wie die ‚männlich’ konnotierte Funktion eines genealogischen Ursprungs zu, in der jede Generation auf der Vorhergehenden fußt und über sie hinaustritt. Zugleich betonen in manchen dieser Szenen die hochhackigen Schuhe auch eine selbstbewusste erotische Weiblichkeit, jenseits der Mutterrolle. Die in diesem Bild verdichtete Grundfigur prägt die Inszenierung der Mutter-Tochter-Beziehung im Verlauf des Films, die sowohl in ihrer körperlichen Dimension als auch als Ort der kulturellen Weitergabe vorgeführt wird und damit den Zusammenhang von (geistiger) Bildung und körperlicher Entwicklung betont.
Die körperliche Dimension der Mutter-Tochter-Beziehung zeigt sich beiläufig, wenn Lene beim Tanzen mit Anna außer Atem gerät, oder beim Marsch durch den Schnee, verhüllt in schwere Kleidung, nur unter großen Mühen das Kind von den Schultern niedersetzen kann. Sie artikuliert sich explizit in den Szenen, die tabuisierte (unkontrollierte) Funktionen des nackten, nicht erotisierten Körpers zeigen. Das eindrücklichste Beispiel ist hier die Geburtsszene, die die Schmerzen in unerträglich langen Nahaufnahmen auf Lenes Gesicht vorführt und mit einer Einstellung auf das blutige Neugeborene endet.
Hier, wie auch in anderen Szenen, verweisen die Körperflüssigkeiten – das Blut, die Milch, der Kot – auf die Körper, die sich unter der Oberfläche gesellschaftlicher Wohlanständigkeit zu Wort melden. Die ‚Anstößigkeit’ solcher Bilder thematisiert der Film in einer Szene, in der Lene von einem zunehmend empörten Passanten aufgefordert wird das Stillen zu unterlassen, da es „das öffentliche Schamgefühl“ verletze.14 Dass Lene auf Trümmern sitzt, führt den Widerspruch (bzw. Zusammenhang) zwischen einer am weiblichen Körper verhandelten ‚Ordnung’ und der von den Ordnungshütern herbeigeführten umfassenden Zerstörung ironisch vor Augen. Wenn Anna bei einem Mittagessen in der Nachkriegszeit Durchfall bekommt und verschämt auf den Teppich der reichen, erfolgreich entnazifizierten Verwandten 'scheißt', scheint dies wie eine psychosomatische Reaktion auf die Verdrängung der Vergangenheit. Der Körper äußert das Unbehagen, das sich nicht aussprechen lässt. Klaus Theweleit hat gezeigt, dass gerade in der NS-Literatur und Bildproduktion eine auffallende Abwehr gegenüber Körperflüssigkeiten artikuliert wird, die meist dem weiblichen Körper und den Tätigkeiten der Mutter zugeschrieben werden.15 Denn in den Flüssigkeiten zeigen sich unkontrollierte Triebkräfte, die die Grenzen des autonomen (soldatischen) Körpers bedrohen. Dementsprechend war ein wesentliches Anliegen der NS-Pädagogik, die auf Sauberkeit großen Wert legte, diese Flüssigkeiten frühzeitig zu kontrollieren.16 Indem Deutschland, bleiche Mutter gerade diese körperlichen Funktionen als Basis der Beziehung von Mutter und Kind zeigt, positioniert er sich gegen die NS-Idealbilder17 ebenso wie gegen Bildungsprozesse, die auf einer Kontrolle des Körper beruhen.18
Bildungs- und Vermittlungsprozesse werden in Deutschland, bleiche Mutter eingebettet in diese körperliche Beziehung von Mutter und Kind dargestellt. Der Off-Kommentar – von Sanders-Brahms selbst gesprochen – betont dies bereits in der ersten Sequenz, wenn er zur Nahaufnahme Lenes sagt: „Von Dir habe ich sprechen gelernt, Muttersprache.“ Der Zugang zur symbolischen Ordnung, zur Sprache und Kultur, das legen diese Worte nahe, erfolgt nicht über den Vater, sondern die Mutter. Die Stimme der Mutter dominiert dementsprechend den Mittelteil des Films. Ihr Sprechen beruht auf kulturellen Versatzstücken: auf Liedern, Märchen, Redensarten, in denen die eigene, die individuelle weibliche Stimme nicht oder nur klischeehaft zum Ausdruck kommt. Das Kind erlernt zunächst die sprachliche Form, Laute und Rhythmen, wenn es die Worte der Mutter verformend nachplappert oder in ihren Gesang einstimmt. Später kommt die sinnstiftende Funktion der Sprache hinzu, wenn die Erzählung des Märchens Der Räuberbräutigam von den Gebrüdern Grimm den Blick des Kindes auf die Nachkriegsrealität begleitet und eine Deutung des Kriegsgeschehens, der Zerstörung und Gewalt, anbietet. Das Märchen wird von der Mutter in voller Länge in einer Wiederholungsschleife erzählt, dem Kind (und den Zuschauer*innen) dadurch regelrecht eingeprägt.
Das Märchen schildert zweimal, als Erlebnis und als rückblickende Erzählung, die Geschichte eines Mädchens, das an einen Räuber verheiratet werden soll. Bei einem Besuch in der Räuberhöhle muss sie zusehen, wie die Räuber ein anderes Mädchen zerstückeln und essen, und kann nur mithilfe einer alten Frau entfliehen. Indem sie am Hochzeitstag ihr Erlebnis als Traum erzählt, überführt sie den Räuber und rettet sich vor der Ehe. In der Sekundärliteratur wurde diese Märchenerzählung umfangreich diskutiert und als Aussage zur historischen Realität gedeutet.19 Im Vordergrund stand dabei zumeist die offensichtliche Analogie zwischen der Mörderbande, die ein Haus besetzt und Jungfrauen zerreißt, der Vergewaltigung von Lene in derselben Szene und der ‚Besetzung’ Deutschlands durch den Nationalsozialismus. Vielfach wurde dabei auf die Unangemessenheit der Märchenerzählung zur Deutung der historischen Realität verwiesen, insbesondere auf die einseitige Betonung des Gewaltverhältnisses zwischen den Geschlechtern. Differenziertere Analysen wiesen demgegenüber nach, dass die Märchenerzählung die Situation und Entwicklung von Lene spiegelt, und die Mitschuld von Frauen an der von ihnen selbst erfahrenen Gewalt ebenso thematisiert, wie auf andere Opfer der NS-Gewalt verweist.
Entscheidend scheint mir jedoch, dass sie einen Vermittlungsprozess verhandelt, sowohl auf Ebene des Märchens, als auch in der Inszenierung seiner Erzählung durch die Mutter. Im Märchen eröffnet die Beziehung zwischen Frauen unterschiedlicher Generationen – der alten Frau und des Mädchens – einen Ausweg aus der Spirale des Schweigens und der Gewalt und die öffentliche Erzählung des erlebten Unrechts führt zur Bestrafung der Mörder. Diese Konstellation wird in der Inszenierung der Märchenerzählung verdoppelt, wenn auf Handlungsebene (Diegese) die Mutter der Tochter das Märchen erzählt und auf Ebene der Zuschaueradressierung (Enunziation) diese Tochter als Regisseurin die Geschichte der Mutter verfilmt und kommentiert.20
Der Film führt somit die Weitergabe kulturell überlieferter Geschichten vor, die die Mutter als Deutungsmuster für eine Verarbeitung der Kriegsrealität anbietet. In den offensichtlichen Widersprüchen zwischen Erzählung, Handlung und visueller Gestaltung zeigt sich auch die Unangemessenheit solcher im kulturellen Gedächtnis eingelagerten Deutungsangebote – z. B. wenn im Märchen die Mörderbande bestraft wird, die NS-Vertreter im Film aber ‚entnazifiziert’ werden. Oder wenn die Mutter ihre Vergewaltigung mit der Redensart kommentiert: „So ist das im Krieg, kleines Mädchen. Die Sieger nehmen die Sachen und die Frauen.“ Dann wird in der befremdenden Affirmation der erfahrenen Gewalt durch Lene wahrnehmbar, wie über sprachliche Deutungsmuster auch ein problematisches weibliches Selbstverständnis, eine Resignation oder gar Selbst-Verleugnung weitergeben wird. Indem sie notwendigerweise auf kulturelle Überlieferungen zurückgreift, vermittelt die Mutter der Tochter auch ihre Entfremdung in einer männlich dominierten Kultur und Gesellschaft.
In dieser Darstellung der Vermittlungsbeziehung von Mutter und Kind offenbart sich die ästhetische Strategie des Films selbst: Deutschland, bleiche Mutter arbeitet mit einer Vielzahl kultureller Versatzstücke, die sich aneinander und an der fiktionalen Reinszenierung der Vergangenheit reiben. Er macht dadurch sichtbar, dass sich jede (neue) Erzählung in das Material kultureller Überlieferung einschreibt und dass nur in der Be- und Umarbeitung dieses Materials möglicherweise neue Ausdrucksformen gefunden werden können. Indem Sanders-Brahms den Film ihrer Mutter und ihrer Tochter widmet, verdeutlicht sie, dass sie ihn als Medium der Weitergabe, der weiblichen Überlieferung, verstanden haben will. Die im Film dargestellte Beziehung von Mutter und Kind ist somit grundlegend für die Erzählstruktur und Ästhetik des Films.
Die Perspektive des Kindes: Kindheitserinnerung und Autorschaft
„Alles, was ich meiner Tochter an Erziehung geben kann, steckt in diesem Film.“21
Deutschland, bleiche Mutter ist als Anrede der Tochter an die Mutter (beziehungsweise die Eltern) angelegt. Die weibliche Off-Stimme, gesprochen von Sanders-Brahms selbst, betont die autobiografische Dimension des Films: Die Erfahrung der Mutter und die eigene Kindheit wird von Sanders-Brahms als Voraussetzung der eigenen Ich-Werdung befragt.22 Wie andere Vertreterinnen des Neuen deutschen Films – unter anderem Jutta Brückner und Helke Sanders – betont Sanders-Brahms mit der Off-Stimme die weibliche Autorschaft und versucht durch eine persönliche Erzählung, Geschichte neu zu schreiben. Laut Kaja Silverman waren bis in die 1970er Jahre die Off-Stimmen als Vertreter eines allwissenden und allmächtigen Erzählers im Hollywoodkino meist männlich besetzt und körperlos.23 Weibliche Off-Stimmen traten dagegen nur selten, und dann in Verbindung mit dem Körper einer weiblichen Figur in Erscheinung. Sanders-Brahms beansprucht mit der weiblichen Off-Stimme somit die ‚männliche’ Position des Erzählers, und konterkariert diese zugleich durch die persönliche Klangfarbe des Kommentars und durch die Kontrastierung mit anderen Stimmen. Die Stimme der Autorin trifft auf Originaldokumente von NS-Radioansprachen und Reden und Stimmen der Figuren als zeitgenössische Verkörperungen der Vergangenheit.
Ich bin an anderer Stelle24 ausführlicher auf die Funktion dieser Off-Stimme eingegangen, die im fiktiven Dialog mit den Eltern Distanz und Nähe verbindet (Stimmen der Geschichte). Sie thematisiert die Unzulänglichkeit einer Re-Konstruktion der Vergangenheit und befragt kritisch das Handeln der Eltern, offenbart aber auch eine affektive Bindung. Die Off-Stimme ist Ausdruck eines ‚Abstammungsverhältnisses’ zwischen Autorin und Figuren und verdeutlicht, dass diejenige, die spricht, von dem, was sie erzählt ‚betroffen’ ist. Die Off-Stimme vertritt aber auch die Wahrnehmung und Haltung des Kindes. Im ersten Teil ist sie abwesende ‚Dritte’, die in die Intimität der Eltern eindringt, mit der Geburt beginnt sie auch für das Kind zu sprechen, das sie einmal war. Sie changiert zwischen der Gegenwart der erwachsenen Autorin, die auf die Geschichte der Eltern und ihre eigene Kindheit blickt, und der Vergangenheit der eigenen Kindheit. An dem Leitmotiv der zerstörten Städte soll im Folgenden die oben genannte Strategie einer Verbindung von subjektiver Erfahrung und der Faktizität historischer Ereignisse im ‚Blick des Kindes‘ verdeutlicht werden.
„Als ich geboren wurde, fiel ich auf ein Schlachtfeld. So viel, das ich noch nicht kannte, war schon kaputt.“ Mit diesen Worten kommentiert die Off-Stimme die Geburt der Tochter Anna. Aufnahmen der Geburt und des Neugeborenen werden mit Fliegeraufnahmen der kriegszerstörten Städte parallel montiert. Sprachlich und visuell wird damit bereits in der Geburtsszene der Gegensatz zwischen Geburt und Tod, Werden und Zerstörung artikuliert, der den Mittelteil des Films leitmotivisch prägt. Fiktionale Szenen, die das Aufwachsen des Kindes zeigen, werden mit dokumentarischen Aufnahmen der Kriegsrealität kontrastiert. Über den Bildern der Zerstörung betont die Off-Stimme die glückliche Beziehung von Mutter und Kind. Sie deutet die Zerstörung um als Vorbedingung eines Neuanfangs. Dabei geht es nicht nur um den Beginn eines Lebens, der sich in jedem Kind zeigt, sondern auch um den Neubeginn einer Frau, der Mutter, die aus ihrer – kulturell und sozial festgelegten – Rolle austritt. Diese doppelte ‚Geburt’ wird in der Szene thematisch, in der Lene angesichts der Zerstörung ihres Hauses aufbricht, um bei den Berliner Verwandten Unterschlupf zu finden, und Anna erstmals als Kleinkind zu sehen ist.
Die Szene zeigt eine Verwandlung: In einer langen Plansequenz sehen wir Lene auf einem Trümmerberg, die – an das im Kinderwagen liegende Baby gerichtet – feststellt: „Das war unser Haus – ein Haufen Steine, ... und das war ich einmal.“ Sie blickt dabei in den aus den Trümmern ragenden dreiteiligen Spiegel, der zuvor in der Hochzeitszene das Bild des Paares gespiegelt hat. Das so versinnbildlichte Ende einer weiblichen Identität, die auf tradierten Idealen von Heim und Familie/Ehe beruht, wird umgehend in einen Neuanfang überführt.25 Dieser kündigt sich in dem Lächeln an, in das sich das Gesicht Lenes (nah) verwandelt, und wird von der Off-Stimme angesprochen: „Nach dem Ende der Wohnstuben wurdest Du fidel. Da ging‘s uns erst richtig gut, als alles hin war. Zu Fuß nach Berlin, auf hohen Absätzen – hoch hinaus. Landstreicher-Lene und Ich!“
Die Off-Stimme leitet ein neues Bild von Mutter und Kind ein: Die madonnengleiche Mutter mit dem Baby auf dem Arm wird abgelöst von der Mutter mit dem Kleinkind auf den Schultern. Zeit und Raum, individuelle und historische Erfahrung werden überbrückt, indem der ‚Einmarsch’ von Lene und Anna in Berlin mit dokumentarischen Luftaufnahmen der zerstörten Städte gegengeschnitten. Der euphorische Tonfall der Stimme und die fröhlich tanzende Klaviermusik artikulieren das durch die Worte beschworene Glücksgefühl von Mutter und Kind.
Auf der Tonspur wird das, was wir sehen, umgedeutet: aus Bildern der Zerstörung wird ein utopisches Moment individueller Freiheit und persönlichen Glücks. Ganz im Sinne des Begriffs Utopie ist die hier beschworene ideale Einheit von Mutter und Kind im Nirgendwo angesiedelt, sie erscheint nur im Moment des Übergangs möglich, in dem eine repressive Gesellschaftsordnung zerstört wird: „Lene and Anna create and inhabit a private world of their own. Thus their relationship has a doubly utopian dimension. To begin with, it constitutes a space – a more or less entirely female space – for which there is no place within the dominant cultural parameters. Furthermore, it is utopian in its promise of the possibility of a union – separate beings joined as one – which appears as an almost archetypal symbol of unattainable longing in a culture which defines individuation as separation from the other rather than a state of interconnectedness with others.“26
Angelika Bammer kritisiert dieses utopische Moment als ahistorisch, da es die Mutter-Kind-Beziehung außerhalb gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse verorte. Aber genau diese Problematik wird im Film selbst thematisiert. So wird in der besprochenen Szene die von der Off-Stimme beschworene Freude jäh durch Dokumentarmaterial eines Waisenjungen unterbrochen, der Lene im Schuss-Gegenschuss davon erzählt, dass er seit Wochen in den Trümmern nach seinen Eltern sucht. Das beschworene Glück wird damit umgehend als eine individuelle Erfahrung (gegen das Unglück der Vielen) gestellt, und der (beschränkten) Wahrnehmung des Kindes zugeordnet. In einer anderen Szene, wenn die Mutter im Gesang mit dem Kind die Enttäuschung über die verzögerte Heimkehr ihres Mannes überwindet, wird das fröhliche Spiel mit dem Kind auch durchaus als eine Verdrängungsleistung und Überlebensstrategie der Mutter sichtbar. Es ist jedoch – so meine These – die Kindheitserinnerung, die das utopische Moment hervorbringt und legitimiert. Im Film bleibt unbestimmt, inwiefern sie dem tatsächlichen Erleben des Kindes entspricht oder Ausdruck einer Sehnsucht ist, die von der erwachsenen Regisseurin auf die Vergangenheit projiziert wird.
Dieser Kindheitserinnerung entspricht keine narrative Perspektive im konventionellen Sinne: Es werden nur selten Handlungen oder Situationen vom Standpunkt des Kindes aus gezeigt. Gerade die Figur des Kleinkindes bleibt, wie ich später ausführen werde, undurchschaubar und fremd. Die Off-Stimme ruft vielmehr Gefühle auf, die mit der Kindheit beziehungsweise der Erfahrung des Kindes verbunden sind. Dies wird auch in einer späteren Szene deutlich, in der Mutter und Kind in der Badewanne mit Flugaufnahmen zerstörter Städte gegengeschnitten werden, dazu der Off-Kommentar: „So liebten Lene und ich uns in der Badewanne, und flogen wie Hexen über die Dächer.“
Die Kombination der Worte mit dem Kameraflug zieht die Zuschauer*innen förmlich in die Wahrnehmung des Kindes hinein. Dabei geht es offensichtlich nicht um eine real erfahrene Handlung, sondern um ein Lebensgefühl: Die Aufnahmen vermitteln das paradoxe Gefühl der Freiheit in der Zerstörung. Mit dem Kriegsende, wenn Anna älter geworden ist und beginnt, die sie umgebende Gewalt wahrzunehmen, werden auch die Fliegeraufnahmen anders gezeigt. Unkommentiert, mit einer erst spät einsetzenden dissonanten Musik unterlegt, erzeugen sie Beklemmung, als würde mit dem Heranwachsen des Kindes auch den Zuschauer*innen das Ausmaß der Zerstörung und die Katastrophe des Krieges erst bewusst.
Das Ende der utopischen Beziehung von Mutter und Kind geht mit einer Änderung der Rolle der Mutter einher, die unter den Augen ihrer Tochter vergewaltigt und durch die Rückkehr des Vaters ‚entmachtet’ wird.27 Die letzten Dokumentaraufnahmen vom Wiederaufbau durch Trümmerfrauen werden dementsprechend wie folgt kommentiert: „Am Anfang, nach dem Krieg, das Steineklopfen machte noch Spaß, aber die Steine, die wir klopften, die wurden zu Häusern zusammengesetzt, die noch schlimmer waren als die vorher. Lene, wenn wir das gewusst hätten, Lene wenn wir das gewusst hätten.“28
Das Ende einer utopischen, glücklichen Beziehung von Mutter-Tochter wird in Deutschland, bleiche Mutter somit zweifach vermittelt: narrativ/symbolisch als das Wiederherstellen der patriarchalen Kleinfamilie, für die das Haus steht, ästhetisch/formell als Herauswachsen aus einer kindlichen Wahrnehmung.
Wie gezeigt, changiert der Off-Kommentar zwischen verschiedenen Positionen: zwischen der Liebe der Tochter zu den Eltern und einer kritischen Distanz zum Geschehen, zwischen der Vergangenheit, also dem Kind, das die Autorin einmal war, und dem Nachdenken über die Vergangenheit aus der Position einer erwachsenen Autorin in der Gegenwart. Dieses Changieren zwischen Reflexivität und Involviertheit wurde in der Sekundärliteratur teilweise als inkonsequent und als Scheitern einer kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte begriffen.29 Ich schließe mich allerdings denjenigen an, die dies als eine ästhetische Strategie begreifen, um die Trennung von Intimität und Öffentlichkeit, von subjektiver Erfahrung und historischer Realität infrage zu stellen.30 Sanders-Brahms gibt nicht vor, von ‚außerhalb’ zu sprechen, sondern sie macht die Subjektivität der Erzählung, die eigene Involviertheit in das Gezeigte, die Vermischung von Fiktion und Erinnerung sichtbar (und damit verhandelbar). Der Slogan der 1970er Jahre, dass das Private politisch sei, ist somit nicht nur für die filmische Handlung programmatisch – insofern der Irrtum der Eltern darin besteht, zu glauben, ihr privates Glück unter Ausschluss der gesellschaftlichen Realität der NS-Zeit verwirklichen zu können. Er prägt auch die formale Gestaltung des Films.
Die kindliche Perspektive erweist sich dabei als ästhetische Strategie, um eine andere Wahrnehmung der historischen Realität zu legitimieren: Sie offenbart eine radikal subjektive emotionale Wahrheit der biografischen Erfahrung, die gegen die Faktizität historischer Ereignisse gesetzt wird. Sie verdeutlicht die zwangsläufige Unangemessenheit des individuellen Erlebens und die Notwendigkeit ihm dennoch Ausdruck zu verschaffen. Als Kindheitserinnerung wird das utopische Moment der idealen, gegen gesellschaftliche, politische und historische Gewalt Schutz bietenden Beziehung zur Mutter offenkundig: Sie ist im Nirgendwo – oder im Moment der Zerstörung – angesiedelt und kann nur retrospektiv als ein Sehnsuchtsort aufgerufen werden. Dennoch enthält gerade die kindliche Perspektive eine gesellschaftskritische und politische Dimension: Und zwar nicht nur, weil die durch sie thematisierte Verschiebung der Frauenrolle zu Kriegszeiten durchaus historisch belegt ist,31 sondern gerade weil sie die Notwendigkeit eines Sprechens von außerhalb, die Notwendigkeit einer anderen Wahrnehmung der Geschichte artikuliert. Während der Film aufzeigt, wie das Denken und Handeln seiner Figuren von den gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen bestimmt ist, in denen sie leben, wird in der Kindheitserinnerung ein herrschaftsfreier Ort imaginiert, dessen Erfahrung einen kritischen und verändernden Blick auf die Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht. Es ist der Ort, von dem aus die Autorin spricht. Die Verbindung von Autorinnenstimme und kindlicher Perspektive ist somit nicht nur als Strategie der Relativierung und Subjektivierung zu werten. Vielmehr artikuliert sich darin auch eine Haltung zur Autorschaft: Die erwachsene Autorin denkt sich in Bezug zu dem Kind, das sie einmal war. Im Klagelied über den Verlust der Mutter ist dieses Kind immer noch anwesend.
Das Kleinkind als Darstellerin: Schauspiel und Mise- en- scène
Das Kind und die Kindheit wird in Deutschland, bleiche Mutter von vier verschiedenen Darstellerinnen des Mädchens Anna verkörpert, die für verschiedenen Entwicklungsphasen – vom Baby bis zum Schulkind – stehen. Mit ihrer physischen Präsenz und ihrem Schauspiel treten sie in ein Spannungsverhältnis zur Inszenierung und zum Off-Kommentar. Besonders deutlich wird dies beim Kleinkind, das von Sanders-Brahms’ eigener Tochter Anna Sanders gespielt wird. Selbst wenn sie für das Kind spricht, lässt sich die Stimme der erwachsenen Autorin im Off nicht ‚in Deckung‘ bringen mit dem Kind im Bild, das gerade beginnt, erste Worte zu lernen. Das Kind widersetzt sich der Inszenierung und damit auch einer bruchlosen Identifikation: Es hat die Wirkung eines fremden Körpers, der in seiner Vitalität und Eigensinnigkeit fasziniert.
Paradoxerweise verstärkt die Präsenz des Kleinkindes das utopische Moment des Films, selbst wenn sie sich einer Vereinnahmung durch die Kindheitserinnerungen der Autorin verweigert. Dies soll im Folgenden anhand der Szene gezeigt werden, in der Mutter und Tochter während des Krieges in den Zoo gehen. Diese Szene ist ein Beispiel dafür, wie in Deutschland, bleiche Mutter alltägliche Momente – in der Badewanne, im Zoo, beim Spielen, Tanzen, Singen – zu einem Nachdenken über Geschichte führen.
„Anna, woll’n wir in ‘n Zoo gehen?“ Mit diesen Worten überwindet Lene die Enttäuschung, dass sie Hans nicht wie erhofft in der Kaserne vorfindet, und stimmt das Lied „Es freit’ ein wilder Wassermann“ an. Tochter Anna auf ihrem Arm bejaht dies mit Inbrunst und folgt dem Gesang schräg, aber begeistert, in eigenwilligen Tönen und Lauten. Das Lied leitet klanglich, aber auch thematisch die nächste Szene ein – denn es handelt vom Verzicht einer Frau in der Ehe mit einem tierähnlichen Mann (dem Wassermann).32 Im Zoo werden Lene und Anna dementsprechend Tieren und Männern – ihrem Onkel Bertrand und NS-Würdenträgern – begegnen. Auf der Tonebene wird hier ein akustisches Band zwischen Mutter und Kind gestiftet und eine Lernsituation gezeigt: Die beiden singen miteinander, Anna ahmt verformend Lenes Worte nach. Diese Einheit wird jedoch umgehend in der Montage gestört. Dem trotz grausamen Inhalts harmlos anmutenden Kinder- und Volkslied werden dokumentarische Aufnahmen von todbringenden Tieren unterlegt: Die erste Einstellung des Zoos zeigt einen Geier mit Fleisch im Maul, danach sind Eisbären und Krokodile zu sehen. Als weitere ‚Tierart’ – das suggeriert die Montage – kommen schließlich drei Nazi-Würdenträger ins Bild, die von Onkel Bertrand unter den tropischen Pflanzen des Krokodil-Hauses gefilmt werden. (siehe die Bildstrecke im Gespräch mit Jürgen Jürges, "Die Widerständigkeit des Kindes" hier)
Innerhalb von wenigen Minuten wechselt so viermal die Stimmung/Tonlage: Von der Trauer, die sich anfangs im Gesicht der Mutter zeigt, zum fröhlichen Gesang von Mutter und Kind, über die bedrohlichen Tiere bis zu der grotesk-komischen Drehsituation, die im Turnen des Onkels auf einer Dinosaurierstatue endet. Die Zuschauer*innen werden einem emotionalen Wechselbad ausgesetzt, das für den Film charakteristisch ist: Vergangenheit wird als ein komplexer Zusammenhang aus – teils einander widersprechenden – Erinnerungen, Dokumenten, Deutungen bearbeitet. Dementsprechend ist die Szene des Zoobesuchs eingebettet in eine lose Sequenz von Situationen, die durch überlappende Tonspuren miteinander verklammert sind und dabei unterschiedliche Darstellungsebenen und Materialien vernetzen.33 In einem melodramatischen Erzählstrang wird das vergebliche Warten der Mutter auf die Heimkehr des Vaters gezeigt. Die auf Hoffnung folgende Enttäuschung macht die Bewegungen der Kamera spürbar, die Lenes Hin- und Rückweg zum Bahnhof bzw. zur Kaserne in langen Plansequenzen folgt und auch die Zuschauer*innen einer Spannung aussetzt, die ins Leere läuft. Dass hier die Hinwendung zum Kind als ein Kraftakt der Verdrängung sichtbar wird, steht im Widerspruch zur Off-Stimme der Regisseurin, die die glückliche Beziehung zur Mutter mit den Worten „Lene und ich, ich und Lene“ beschwört. Demgegenüber sind die Alltagsszenen mit Mutter und Kind (in der Badewanne, im Zoo) mit einem dokumentarischen Modus verbunden: einerseits durch die Montage von Dokumentarmaterial, wie die Luftaufnahmen zerbombter Städte oder die Tiere im Zoo, andererseits durch das Zusammenspiel der Schauspielerin Eva Mattes mit dem Kleinkind Anna Sanders. Die intimen Momente mit Mutter und Kind werden schließlich kontrastiert durch die satirisch zugespitzte Begegnung mit dem Onkel Bertrand und den NS-Würdenträgern im Zoo, die als ein Kommentar zum historischen Kontext, konkret: dem Verhalten der NS-Elite gegen Kriegsende, verstanden werden kann. Alle drei Ebenen kreuzen sich in der Figur des Kindes (als Darstellerin und als Kommentatorin).
Die im Gesang kurzzeitig hergestellte Einheit von Mutter und Kind wird nicht nur durch die Montage der Tieraufnahmen, sondern auch im Schauspiel gesprengt. Denn das Kind zeigt sich zwar an den Tieren, nicht aber an den Männern (und deren Gesprächen) interessiert. Als Lene sich mit Onkel Bertrand und den Nazis unterhält, wendet Anna sich ab. Sie beginnt mit nicht sichtbaren Akteuren im Off zu interagieren und redet dem Onkel mit „Hallo, Hallo“ dazwischen. Die kunstvoll etablierte Plansequenz, in der sich die drei NS-Würdenträger für die Kamera in Pose stellen, gerät durch das Zwischenspiel des Kindes aus dem Gleichgewicht. Der Schauspieler von Onkel Bertrand, dessen wohl gesetzte Worte im Kindergeplapper untergehen, flüchtet sich in das Filmen. Obwohl es an den rechten Bildrand gedrängt ist, stiehlt das Kind hier den Nazis und ihren Darstellern die Show.
Ich möchte aus diesen Beobachtungen die These ableiten, dass die Präsenz eines Kleinkindes, dessen Schauspiel nicht völlig kontrolliert werden kann, Einheit stiftet, wenn es sich auf die Inszenierung einlässt, und umgekehrt die Inszenierung destabilisiert, wenn es nicht mitspielt. Diese ‚Sprengung’ oder auch Subvertierung der Inszenierung ist hier auf zwei Ebenen wirksam: Auf diegetischer Ebene wird die Selbst-Darstellung der SS/NS-Männer, die sich für die Kamera des Onkels in Position bringen, dekonstruiert – durch die Gegenwart eines Kindes, das sich für ihre gesellschaftliche Bedeutung ebenso wenig interessiert wie für ihre Reden. Auf ästhetischer Ebene wird die kunstvolle Stilisierung der Szene aus dem Gleichgewicht gebracht, die offenbar als Sinnbild für die opportunistische Haltung der NS-Eliten fungieren soll und charakteristisch ist für die tableauartigen Plansequenzen des Films. Dabei ist es meiner Ansicht nach irrelevant, ob die Regisseurin die Aufmerksamkeit des Kindes gezielt abgelenkt hat oder ob sie sich ‚nur’ dafür entschieden hat, die ‚missglückte’ Plansequenz in den Film zu integrieren – wie Kameramann Jürgen Jürges in einem Gespräch bestätigt hat. Wesentlich erscheint mir, dass sie einander gegenläufige ästhetische Strategien integriert, oder besser: Dass sie es zulässt, die Stilisierung in den Plansequenzen und symbolischen Verdichtungen des Films durch die eigenwillige Präsenz des Kindes zu brechen. Das Kind wird hier keiner Rolle unterworfen, sondern zur Mit- bzw. Gegenspielerin.
Nicht nur das Agieren, sondern auch die Stimme Annas hat in dieser Szene eine subversive Dimension. Und zwar wenn das Kind kurzzeitig den Off-Kommentar zu der Parallelmontage eines gähnenden Krokodils mit einem gähnenden NS-Mann übernimmt, die es mit den Worten „Kokodile – Mund zu!“ quittiert. Es stützt dadurch den visuellen Vergleich von SS-Mann und gefährlichem Tier (eine intellektuelle Montage à la Eisenstein) und kann als respektloser Kommentar zu den Machthabern verstanden werden. Das Kind wird hier akustisch zur Stellvertreterin der Autorin. Es ist, als würde der Beginn des Sprechens dargestellt, das Jahre später in die Regie und Kommentierung des Films mündet. Auch der Film im Film hat eine solche selbstreflexive Dimension, denn er verweist auf den Prozess des Filmemachens – hier macht der Onkel einen Amateurfilm, der Mutter und Kind in einem glücklichen Moment festhält. Später, nach dem Krieg, wird das Anschauen dieses Films im Kreis der Familie zu einem traumatischen Ereignis für das Kind, denn er erinnert an das, was verloren ist. Das Sprechen, die Autorschaft, das scheint uns Sanders-Brahms nahelegen zu wollen, hat ihren Ursprung in der Beziehung zur Mutter und in deren Verlust. Im künstlerischen Prozess wird dieser Verlust bearbeitet. Er ist – wie in Bezug auf die Perspektive des Kindes bereits dargelegt – Ausdruck der Sehnsucht nach einer utopischen Mutter-Kind-Beziehung, die den gesellschaftlichen und politischen Gewaltverhältnissen trotzt.
Es genügt jedoch nicht, das Spiel des Kindes lediglich als Teil einer subversiven Erzähl- und Inszenierungstrategie der Regie zu beschreiben. Denn wesentlich für den Reiz dieser (und anderer) Szenen mit dem Kleinkind ist die andere Adressierung der Zuschauer*innen. Laut Karen Lury basiert die Faszinationskraft kindlicher Darsteller*innen auf der Unsicherheit über ihr Schauspiel: Sie fordern die Frage heraus, ob sie eine Rolle spielen, oder existieren, ob ihr Verhalten vor der Kamera inszeniert oder dokumentiert wird.34 In der beschriebenen Situation im Zoo hat Anna eine Schwellenposition als Filmfigur und als Darstellerin inne: Sie ist einerseits in die Diegese integriert, insofern sie mit den anderen Darsteller*innen – insbesondere mit Eva Mattes – interagiert. Andererseits befindet sie sich außerhalb, am Set, wenn sie auf andere (nicht sichtbare und diegetisch verortete) Akteure hinter der Kamera reagiert, wenn sie mit ihrem Eigensinn die Inszenierung dezentriert.
Dies bewirkt eine zweifache Adressierung der Zuschauer*innen: Sie sehen sich nicht nur der Inszenierung einer fiktiven Szene in der Vergangenheit gegenüber, sondern auch in Gegenwart eines Kind, das – wie alle Kinder – grundlegende Fähigkeiten des Menschen erlernt: Singen, Sprechen, Sehen und dessen Auseinandersetzung mit der es umgebenden Welt dokumentiert ist. Darin liegt ein weiteres utopisches Moment des Films, das mit dem in der europäischen Kulturgeschichte verbreiteten Bild des Kindes als Hoffnungsträger der Zukunft nicht hinreichend erfasst ist.35 Denn es besteht weniger in einer fiktionalen Idealisierung der Kindheit, als in einer Aufhebung der Zeiterfahrung. Die Zuschauenden können sich kurzzeitig dem Kleinkind gegenwärtig fühlen – wie einem Zeitgenossen. Sie erleben den im Kind verkörperten Neubeginn mit, welcher der Zerstörung des Krieges entgegengesetzt wird. Somit hat auch das Kleinkind als Darstellerin, ebenso wie die im vergangenen Kapitel beschriebene Perspektive der Kindheitserinnerung eine paradoxe Wirkung: Sie erzeugt eine affektive Nähe und distanziert uns zugleich von der Fiktion, die gerade im Kontrast zu dem Dasein des Kindes als Inszenierung kenntlich wird. In Deutschland, bleiche Mutter zeigt sich somit eine dreifache Zeitlichkeit: die Vergangenheit, die die fiktionalen Szenen und die Dokumentaraufnahmen zeigen, die Gegenwart der Filmproduktion, aus der die Autorin zu uns spricht und über die Vergangenheit nachdenkt, und die Zukunft: oder besser die Gegenwart aller Zuschauer*innen, die sich dem Kleinkind zeitgenössisch fühlen mögen. Gerade in der heterogenen Inszenierungsweise erfüllt Deutschland, bleiche Mutter die, in der Widmung an die Mutter und Tochter anklingende Programmatik, eine Brücke zwischen den Generationen zu schaffen, einen Dialog mit der Vergangenheit zu initiieren, der in die Zukunft reicht.
Zitiervorschlag: Bettina Henzler: "Als ich auf die Welt kam, fiel ich auf ein Schlachtfeld..." Figur, Perspektive und Schauspiel des Kindes in Deutschland, bleiche Mutter (Helma Sanders-Brahms, BRD 1981). In: Bettina Henzler (Hg.): Filmästhetik und Kindheit. Online-Beiträge zum gleichnamigen Forschungsprojekt, 17.12.2017, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:46-00106335-13.
Filme / Literatur
Alice in den Städten, R: Wim Wenders, BRD 1974
Das goldene Ding, R: Edgar Reitz, Ula Stöckl, BRD 1971
Deutschland, bleiche Mutter, R: Helma Sanders-Brahms, BRD 1980
Die Blechtrommel, R: Volker Schlöndorff, BRD 1979
Hungerjahre, R: Jutta Brückner, BRD 1980
Bammer, Angelika: Through a Daughter‘s Eyes: Helma Sanders-Brahms‘ Germany, Pale Mother. New German Critique, Nr. 36, 1985, S. 103
Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt am Main 1984, S. 63
Brockhaus, Gudrun: Muttermacht und Lebensangst – Zur politischen Psychologie der Erziehungsratgeber Johanna Haarers. In: José Brunner (Hg.): Mütterliche Macht und väterliche Autorität: Elternbilder im deutschen Diskurs. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte. Göttingen 2008
Cook, Roger F.: Melodrama or Cinematic Folktale? Story and History in Deutschland, bleiche Mutter. In: The Germanic Review, Nr. 66 / 3, 1991, S. 113-121
Dreysse, Miriam: Familienbilder in der bildenden Kunst. In: Dies.: Mutterschaft und Familie: Inszenierungen in Theater und Performance. Bielefeld 2015, S.141–150, hier S.148
Heidelberger-Leonard, Irène: Brecht, Grimm, Sanders-Brahms – Drei Variationen Zum Selben Thema: ‘Deutschland, Bleiche Mutter.’ In: Études Germaniques, Nr. 39, 1984, S. 51–55
Henzler, Bettina: Stimmen der Geschichte: Deutschland, bleiche Mutter (Helma Sanders-Brahms, 1980). In: Nach dem Film, Nr. 14, Audio-History, 2015, Online (letzter Abruf: 20.12.2016)
Hyams, Barbara: Is the Apolitical Woman at Peace? A reading of the Fairy Tale in Germany Pale Mother. In: Wide Angle, Nr. 10, Ausgabe 3, 1988, S. 41–51
Kaes, Anton: Deutschland Bilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film, München 1987
Kämper, Heidrun: Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945, Berlin/New York 2005
Kaplan, E. Ann: The Search for the Mother/Land in Sanders-Brahms’s Germany Pale Mother (1980). In: Eric Rentschler (Hg.): German Film & Literature. Adaptions and Transformations. London 1986, S. 289–304
Ketter, Helena: Zum Bild der Frau in der Malerei des Nationalsozialismus: Eine Analyse von Kunstzeitschriften aus der Zeit des Nationalsozialismus. Münster 2002, S. 113ff
König, Peter: „Wenn wir das gewußt hätten“ Julius Ebbinghaus über die Schuld der Deutschen. In: Die Schuldfrage, Heidelberg 2010, S. 59-77
Kosta, Barbara (1994): Helma Sanders-Brahms’s Germany, Pale Mother. In: Dies.: Recasting Autobiography. Women’s counterfictions in contemporary German literature and film, New York, S. 121–152
Kröncke, Meike: Beyond the family. Inszenierungen von Gemeinschaft in der zeitgenössischen Fotografie. München, 2012
Linville, Susan E.: Feminism, Film, Facism. Women’s Autobiographical Film in Postwar Germany. Austin, 1998
Lury, Karen: The Impropriety of Performance: Children (and Animals) First. In: Dies.: The Child in Film. Tears, Fears, Fairy Tales. London 2010, S. 145-190
Möbius, Helga: Mutter-Bilder: Die Gottesmutter und ihr Sohn. In: Renate Möhrmann (Hg.): Verklärt, verkitscht, vergessen: die Mutter als ästhetische Figur. Stuttgart 1996, S. 21-38
Möhrmann, Renate: Gespräch mit Helma Sanders-Brahms. In: Dies.: Die Frau hinter der Kamera. Filmemacherinnen in der Bundesrepublik Deutschland. Situation, Perspektiven, zehn exemplarische Lebensläufe. München 1980, S. 151-158
Morewedge, Rosemarie Thee: ‚The Robber Bridegroom‘ in Helma Sanders-Brahms’s Deutschland, bleiche Mutter, Erzähltes Märchen und erlebtes Greuelmärchen. In: Bill Nichols (Hg.): Trinagulated Visions. Women in recent German Cinema, New York 1998, S. 231–240
Richter, Dieter: “Im Kind ist Freiheit allein”. Kindheit als Utopie. In: Ders.: Das Fremde Kind. Zur Entstehung Der Kindheitsbilder Des Bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt am Main 1987, S. 249-261
Scharf, Inga: Nation and Identity in New German Cinema: Homeless at Home. New York 2008
Schrage, Dominik: ‚Singt alle mit uns gemeinsam in dieser Minute’ – Sound als Politik in der Weihnachtsringsendung 1942. In: Daniel Gethmann, Markus Stauff (Hg.): Politiken der Medien. Zürich/Berlin 2005
Seiter, Ellen: Women’s History, Women’s Melodrama: Deutschland, bleiche Mutter. In: The German Quarterly, Nr. 59, Ausgabe 4, 1986, S. 569-581
Silverman, Kaja: Dis-Embodying the Female Voice. In: Mary Ann Doane, Patricia Mellencamp und Linda Williams (Hg): Re-Vision. Essays in Feminist Film Criticism, Los Angeles 1984, S. 131–149
Staskowski, Andrea: Feminist Hermeneutics and the Autobiographical Film of German Women, New York 2004
Theweleit, Klaus: Männerphantasien 1. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. München 1995
Valentin, Joachim: Kinder sehen uns an – Wie sehen wir sie? Eine historisch-kritische Phänomenologie des Kindes. In: Stefan Orth, Michael Staiger, Joachim Valentin: Kinder im Kino. Religiöse Dimensionen, Marburg 2004, S.7-11
Anmerkungen
-
1
Staskowski, Andrea: Feminist Hermeneutics and the Autobiographical Film of German Women, New York 2004, S. 90.
-
2
Kosta bezeichnet Deutschland, bleiche Mutter mit Verweis auf die christliche Altarkunst als ein „Cinematic Triptych“. Barbara Kosta: Helma Sanders-Brahm’s Germany, Pale Mother. In: Recasting Autobiography. Women’s counterfictions in contemporary German Literature and Film. New York 1994, S. 121152, hier: 151.
-
3
Vgl. Ellen Seiter: Women’s History, Women’s Melodrama: Deutschland, bleiche Mutter. In: The German Quarterly, Nr. 59, Ausgabe 4, 1986, S. 569-581, hier S. 570.
-
4
Siehe Dominik Schrage: ‚Singt alle mit uns gemeinsam in dieser Minute’ – Sound als Politik in der Weihnachtsringsendung 1942. In: Daniel Gethmann, Markus Stauff (Hg.): Politiken der Medien. Zürich/Berlin 2005, S.278 ff. Sowie die Analyse der Szene in: Bettina Henzler: Stimmen der Geschichte: Deutschland, bleiche Mutter (Helma Sanders-Brahms, 1980). In: Nach dem Film, Nr. 14, Audio-History, 2015, Online (letzter Abruf: 20.12.2016).
-
5
Diese findet ihre Fortsetzung in den Familienbildern des bürgerlichen Zeitalters, in denen die Darstellung des intimen Glücks mit der Mutter im Zentrum etabliert wird: „Die Darstellungskonvention der Einheit von Mutter-Kind mit optisch distanziertem Vater entspricht der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung in der bürgerlichen Kleinfamilie.“ Miriam Dreysse: Familienbilder in der bildenden Kunst. In: Dies.: Mutterschaft und Familie: Inszenierungen in Theater und Performance. Bielefeld 2015, S.141–150, hier S.148.
-
6
„Das Bild hebt sich heraus; es ist klar und deutlich wie ein Brief: es ist der Brief über das, was mir wehtut. Genau, vollständig, ausgefeilt, endgültig, läßt er mir nicht den geringsten Raum: ich bin davon ausgeschloßen wie von der Urszene, die wahrscheinlich nur insoweit existiert, wie sie sich vor dem Umriß des Schlüsselloches abzeichnet. Und das ergibt denn auch endlich die Definition des Bildes, jedes Bildes: das Bild ist das, von dem ich ausgeschlossen bin.“ Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt am Main 1984, S. 63.
-
7
Dies entspräche Marianne Hirschs Analyse von Familienfotografien, denen der ‚Blick’ des Vaters als die (Macht)Position, aus der das Bild aufgenommen wurde, eingeschrieben ist, selbst wenn er nicht selbst im Bild zu sehen ist: „As well as being pictures of a family, the classical image pictures a man.“ Meike Kröncke: Beyond the family. Inszenierungen von Gemeinschaft in der zeitgenössischen Fotografie. München, 2012, S. 72.
-
8
Dass Lene sich verändert und sich durch die unterschiedlichen Erfahrungen im Krieg von ihm entfremdet, wirft er ihr mit den Worten vor: „Du hattest einen Anderen“. Damit reproduziert er das in der christlichen Mythologie, der europäischen Kulturgeschichte wie in der NS-Ideologie vorherrschende dichotome Frauenbild der Heiligen und der Hure.
-
9
Insbesondere das Bild der Madonna wurde laut Helena Ketter in der NS-Kunst vielfach aufgegriffen. Helena Ketter: Zum Bild der Frau in der Malerei des Nationalsozialismus: Eine Analyse von Kunstzeitschriften aus der Zeit des Nationalsozialismus. Münster 2002, S. 113ff. Siehe auch: Klaus Theweleit: Männerphantasien 1. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. München 1995 S. 107.
-
10
Zu einer genaueren Analyse dieser Verfahrensweise und der Tonspur siehe Online Henzler 2015.
-
11
Vgl. E. Ann Kaplan: The Search for the Mother/Land in Sanders-Brahms’s Germany Pale Mother (1980). In: Rentschler, Eric (Hg.): German Film & Literature. Adaptions and Transformations. London 1986, S. 289–304, hier S. 291. Auch: Seiter 1986, S. 571.
-
12
Susan E. Linville: Feminism, Film, Facism. Women’s Autobiographical Film in Postwar Germany. Austin, 1998, S. 60.
-
13
Ein kurzer Blick ins Internet bestätigt dies: Auf die Suchmaschinenanfrage „Kind auf den Armen“ werden nahezu ausschließlich Bilder von Frauen mit Kindern aufgerufen, die Eingabe „Kind auf den Schultern“ ruft dagegen mehrheitlich Bilder von Männer mit Kindern auf.
-
14
Der Passant ereifert sich mit folgenden Worten: „Sie verletzen hier das öffentliche Schamgefühl!“, „Wenn Sie Ihr Kind schon öffentlich ernähren müssen, dann bitte wenigstens mit ‘nem Fläschchen! Muss schließlich alles sein Ordnung haben!“, „Aufhören!“.
-
15
Siehe Theweleit 1995, S. 401ff.
-
16
Siehe Gudrun Brockhaus: Muttermacht und Lebensangst – Zur politischen Psychologie der Erziehungsratgeber Johanna Haarers. In: José Brunner (Hg.): Mütterliche Macht und väterliche Autorität: Elternbilder im deutschen Diskurs. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte. Göttingen 2008.
-
17
Auch dies ein Erbe der christlichen Tradition, die – wie Helga Möbius nachweist – die Mutter auf ihre Funktion als Muttergottes reduzierte, zugleich sakralisierte und entkörperlichte. Hela Möbius: Mutter-Bilder: Die Gottesmutter und ihr Sohn. In: Renate Möhrmann: Verklärt, verkitscht, vergessen: die Mutter als ästhetische Figur. Stuttgart 1996, S. 21-38. Renate Möhrmann verweist darauf, dass gerade die Geburtsszene besonders viele Kritiker zur Premiere veranlasst hat, das Kino zu verlassen (vgl. Möhrmann, S. 374).
-
18
Linville bezieht sich auf Kristevas Begriff des Abjekten und stellt fest, dass der Filme eine Subjektbildung zeige, die nicht auf der Abspaltung und Entwertung des mit der Mutter assoziierten Körpers beruht: „Moreover, the film contains many images of the abject – Lene's vomit, Anna's excrement, the blood of the birth, a corpse that Anna instists on seeing – as if to deny their status as utterly other, the means for determining boundaries of the self. The film's presentation of Lene's abject misery in the end is countered by Anna's and the film's desire for the mother, to reproduce the mother and to refigure the relationship to her. Thus Lene is saved from the requirement that the mother assume the status of the abject in the child's identity formation. Like Demeter, Lene is part of a more intricate, less linear pattern of affiliation and female self-understanding.“ (Linville 1998, S. 55)
-
19
Siehe u.a. Heidelberger-Leonhardt 1984; Anton Kaes (1987): Deutschland Bilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film, München; Barbara Hyams: Is the Apolitical Woman at Peace? A reading of the Fairy Tale in Germany Pale Mother. In: Wide Angle, Nr. 10, Ausgabe 3, 1988, S. 41–51; Roger F. Cook: Melodrama or Cinematic Folktale? Story and History in Deutschland, bleiche Mutter. In: The Germanic Review, Nr. 66 / 3, 1991, S. 113-121; Morewedge, Rosemarie Thee: ‚The Robber Bridegroom‘ in Helma Sanders-Brahms’s Deutschland, bleiche Mutter, Erzähltes Märchen und erlebtes Greuelmärchen. In: Bill Nichols (Hg.): Trinagulated Visions. Women in recent German Cinema, New York 1998, S. 231–240.
-
20
Vgl. Cook 1991.
-
21
Helma Sanders-Brahms zitiert nach Renate Möhrmann: Gespräch mit Helma Sanders-Brahms. In: Dies.: Die Frau hinter der Kamera. Filmemacherinnen in der Bundesrepublik Deutschland. Situation, Perspektiven, zehn exemplarische Lebensläufe. München 1980, S. 151-158, hier: 152.
-
22
Der Film wurde in der Sekundärliteratur als Beispiel einer weiblichen Autobiografie rezipiert. Allerdings ist diese Zuschreibung insofern problematisch, als dass der Film zu großen Teilen eine Zeit beschreibt, die Sanders-Brahms nicht selbst (bewußt) erlebt hat, und auch Elemente enthält – wie die Vergewaltigung – die nicht Teil der Geschichte der Eltern war. Autobiografisch ist insofern vor allem die Haltung der Regie gegenüber der Geschichte (als individuelle Erfahrung), weniger das konkret Dargestellte. Siehe Staskowski 2004, S. 88f.
-
23
Silverman führt in ihrem Text die Filme A propos Schicksal von Helga Reidemeister, Die allzeit reduzierte Persönlichkeit von Helke Sander und Hungerjahre von Jutta Brückner, neben Werken der feministischen Avantgarde an. Silverman, Kaja: Dis-Embodying the Female Voice. In: Doane, Mary Ann, Mellencamp, Patricia und Williams, Linda (Hg): Re-Vision. Essays in Feminist Film Criticism, Los Angeles 1984, S. 131–149. Liville führt in Bezug zu Deutschland, bleiche Mutter aus, dass in der körperlosen Off-Stimme, die für die – im Bild zu sehende – schweigende Mutter spricht, die filmischen Paradigmen der Frau als schweigendes Bild und des Mannes als körperlose Stimme verschoben werden.
-
24
Vgl. Henzler 2015.
-
25
Heimatlosigkeit deutet Linville als Gegenposition zum NS-Ideal von Blut und Boden, siehe Linville 1998, S. 49.
-
26
Angelika Bammer: Through a Daughter‘s Eyes: Helma Sanders-Brahms‘ Germany, Pale Mother. New German Critique, Nr. 36, 1985, S. 103.
-
27
Die Vergewaltigungsszene ist ein Beispiel dafür, dass das autobiografische Dimension des Films nicht in einer getreuen Wiedergabe der Erlebnisse der Eltern liegt, sondern vielmehr in der Beziehung zu ihnen. Wie Sanders-Brahms darlegt, wurde ihre Mutter nicht vergewaltigt, vielmehr hat sie als Kind die Vergewaltigung einer anderen Frau miterlebt.
-
28
Sanders-Brahms greift hier ironisch den laut Peter Ebbinghaus für die Haltung der Nachkriegsdeutschen charakteristischen Spruch „Wenn wir das gewusst hätten“ auf. Dieser suggeriert eine Nichtbeteiligung an den Verbrechen der Nazis ebenso wie die Behauptung, dass man anders gehandelt hätte, wenn man denn Bescheid gewusst hätte. Siehe u.a. Heidrun Kämper: Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945, Berlin/New York 2005. Peter König: „Wenn wir das gewußt hätten“ Julius Ebbinghaus über die Schuld der Deutschen. In: Die Schuldfrage, Heidelberg 2010, S. 59-77.
-
29
Siehe z. B. Kaplan, S. 293.
-
30
Laut Bammer entspricht diese vielperspektivische Haltung, der ‚zweifachen’ Positionierung von Frauen, als Ausgeschlossene und als Teil der Geschichte. (Bammer 1985, S. 108f.). Kosta deutet die Positionierung innerhalb wie außerhalb der Erzählung als eine Strategie, um die Trennung zwischen Fakt und Fiktion, Subjektivität und Objektivität aufzuheben. (Kosta 1994, S. 127). Cook interpretiert die Kritik an Sanders-Brahms persönlichen Lektüre der Geschichte als Beispiel dafür, dass die ideologische Trennung von privaten und politischen Sphären auch in der Nachkriegszeit und im feministischen Diskurs virulent sind. (Cook 1991, S. 117). Und Scharf weist eine zyklische Zeitstruktur nach, die gerade in dem Hin und Her zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Gestalt einer Trauerarbeit annimmt und dadurch in die Zukunft weist (Scharf , S. 90).
-
31
Aufgrund der Abwesenheit der Männer übernehmen Frauen zwangsläufig Aufgaben die zuvor nur den Männern vorbehalten waren und genießen teilweise eine größere Autonomie als zu Friedenszeiten(vgl. u.a. Möhrmann 1980, S. 9).
-
32
Im Film ist nur ein Vers des Liedes zu hören, das Volkslied handelt – wie viele der im Film zitierten Texte und Lieder, von einem gewaltsamen Geschlechterverhältnis: Die ‚schöne junge Lilofee’ verzichtet für die Ehe mit dem ‚wilden Wassermann’ und vor allem für das Wohl ihrer Kinder auf ihr Leben auf der Erde. Die Figur des Wassermannes, der kulturgeschichtlich häufig als halb Mensch/halb Tier dargestellt wird, verkörpert Verführungskraft, aber auch Gewalt gegenüber Frauen. Auch wenn das Lied nicht im wörtlichen Sinne aufgegriffen wird, ist doch augenfällig, dass zunächst in der Montage, dann auch im Off-Kommentar die männlichen Vertreter des NS-Regimes mit gefährlichen Tieren in Verbindung gebracht werden. Sanders-Brahms vergleicht ihren Onkel Bertrand mit einem Dinosaurier, der Jahrhunderte überdauert.
-
33
Es bleibt den Zuschauern überlassen, welchen Aspekten das größte Gewicht zugeschrieben wird.
-
34
Karen Lury: The Impropriety of Performance: Children (and Animals) First. In: Dies.: The Child in Film. Tears, Fears, Fairy Tales. London 2010, S. 145-190.
-
35
Siehe beispielsweise Dieter Richter: “Im Kind ist Freiheit allein”. Kindheit als Utopie. In: Ders.: Das Fremde Kind. Zur Entstehung Der Kindheitsbilder Des Bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt am Main 1987, S. 249-261.