Filmästhetik und Kindheit

„Als ich auf die Welt kam, fiel ich auf ein Schlachtfeld..."

Deutschland, bleiche Mutter

Bettina Henzler

17. Dezember 2017

Filmanalysen

Titelbild

In einigen westdeutschen Filmen der 1970er und 1980er Jahre sind Kinder und Jugendliche die Protagonisten eines neuen Blicks auf die Welt. Mit ihnen konfrontierte die damals junge Generation Filmschaffender die deutsche Wirklichkeit, Vergangenheit (Die Blechtrommel, R: Volker Schlöndorff, BRD 1979) und Gegenwart (Alice in den Städten, R: Wim Wenders, BRD 1974). An ihnen artikulierte sich das schwierige Verhältnis zwischen den Generationen (Hungerjahre, R: Jutta Brückner, BRD 1980) ebenso wie die Hoffnung auf eine andere Zukunft (Das goldene Ding, R: Edgar Reitz, Ula Stöckl, BRD 1971). Ein herausragendes Beispiel ist Deutschland, bleiche Mutter (R: Helma Sanders-Brahms, BRD 1980), in dem Helma Sanders-Brahms aus der Perspektive des Kindes das Leben ihrer Mutter im NS-Regime, in Kriegs- und Nachkriegszeit schildert. Deutschland, bleiche Mutter steht im Zusammenhang feministischer Auseinandersetzungen und Relektüren der Geschichte in den 1980er Jahren. Der Film ist als eine programmatische Gegenerzählung zur ‚Objektivität’ beanspruchenden Geschichtsschreibung konzipiert1: Denn er befasst sich – in einer persönlichen Tonlage – mit der schuldhaften Verstrickung der gewöhnlichen Deutschen, die zugleich Mitschuldige und Opfer der Geschichte waren, und rückt die alltäglichen Erfahrungen von Frauen ins Zentrum.

Die Vermittlung zwischen Mutter und Kind ist das zentrale inhaltliche und formale Moment des Films: Deutschland, bleiche Mutter verfolgt die Frage, was die Elterngeneration an die Nachfolgenden weitergibt, von ihren Erfahrungen und ihrem Wissen, ihren Traumata und soziokulturellen Prägungen. Der Film ist dabei selbst Zeugnis einer Aneignung und Vermittlung von Geschichte, die sich an die Zuschauer*innen der Gegenwart richtet. Die Figur des Kindes verweist auf die Autorin, die sich in dem Kind darstellt, und auf die Zuschauer*innen, die durch Kinderfiguren anders angesprochen werden, als durch erwachsene Figuren.

Die folgende Analyse wird sich daher – anders als die meisten Texte zum Film – nicht auf die Figur und Geschichte der Mutter konzentrieren, sondern den Fokus auf Figur, Perspektive und Schauspiel des Kindes richten. An Deutschland, bleiche Mutter lässt sich zeigen, in welcher Weise Kindheit in Filmen gezeigt werden kann: als kulturell überliefertes Bild und als Schauspiel, als (auto)biografischer Bezugspunkt der Erinnerung und als Modus der Wahrnehmung.

Siehe auch das Gespräch mit dem Kameramann Jürgen Jürges auf dieser Seite und die Analyse der akustischen Geschichtserfahrung in Stimmen der Geschichte (Henzler 2015).

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