Das Baby im Slapstick
14. Dezember 2017
«De facto ist ihre Referenz der Slapstick, den Tati und Étaix erneuert haben, mit einem gewissen Sinn für ‹Nonsense›, für das Unpassende, für den sehr persönlichen Gebrauch von Objekten und die unvorhersehbare Wendung von Situationen. Im Unterschied zu anderen wäre hinzuzufügen, dass ihr Werk auch eine zärtliche Poesie auszeichnet, etwas Wunderbares, das aus der Kinderliteratur kommen könnte.»1 (Jean Roy, l’Humanité)
Der Slapstick wird häufig als ein Genre definiert, in dem Erwachsene zu Kindern werden, für welche die gesellschaftlichen Regeln des Anstands keine Gültigkeit haben und die sich ungehemmt ihren Triebkräften, ihren Lüsten und Animositäten hingeben.2 Kinder treten dagegen nur selten als Protagonisten des Slapstick auf. Abgesehen von Charles Chaplins berühmten Stummfilm The Kid (USA 1921), in dem der Tramp ein Findelkind adoptiert, oder von der Kinderbande der US-Kurzfilmserie Die kleinen Strolche (The little Rascals, USA 1922–1944) finden sich nur wenige Beispiele, in denen Kinder eine tragende Rolle spielen.3 Das mag daran liegen, dass die in Slapstickfilmen inszenierte Körperkomik akrobatische Fähigkeiten voraussetzt. Die komischen Kontrollverluste setzen beim Schauspieler eine außergewöhnliche Körperkontrolle voraus, denn die Streiche und Missgeschicke der erwachsenen Figuren basieren häufig auf komplexen Choreographien. Kinder fungieren am ehesten als ‚Sidekicks‘ im Ehekonflikt (wie in His Trysting Place, Charlie Chaplin und Mable Normand, USA 1914), als Spiegelbilder der ‚kindlichen‘ Erwachsenenfiguren (wie in Baby Bachelor, Snub Pollard).4 Oder sie ahmen, wie in der Satire-Serie Baby Burlesque (Charles Lamont, USA 1933/1932), in der Kleidung von Erwachsenen stereotype Rollen und Verhaltensweisen nach und wirken wie ein komischer Zerrspiegel der Erwachsenenwelt.5
Das Slapstickmärchen La Fée (Dominique Abel, Fiona Gordon, Bruno Romy, Frankreich/Belgien 2011) ist ein seltenes zeitgenössisches Beispiel, in dem das Kind – in diesem Fall ein Baby – in seiner (körperlichen) Eigenart respektiert wird und diese dennoch Gegenstand komischer Szenen ist. Das belgisch-kanadische Komikerpaar Fiona Gordon und Dominik Abel spielt darin die selbsternannte Fee Fiona und den Nachtportier Dom, die im modernen Le Havre für ihr Glück kämpfen – gegen die Zugriffe staatlicher und privater Ordnungshüter, gegen die Logiken der Ökonomie und der Rationalität. Ich habe an anderer Stelle diese Beziehungskonstellation in Bezug auf die Dramaturgie des Films und die Demontage von Geschlechterrollen analysiert (Die Fee, der Nachtportier und das Baby).6 Hier soll es um die Figur des Babys gehen, das erst in der zweiten Hälfte des Films zur Welt kommt und Brennpunkt einer Reihe von Slapstick-Performances ist. Diese Performances kreisen um die körperlichen Bedürfnisse des Babys und um ‚Standardsituationen‘ in der Beziehung von Erwachsenen und Kindern: Geburt, Namensgebung, Ernährung, (körperliche) Bindung, Einschlafen und Gefahr (für die körperliche Unversehrtheit). Im Folgenden werde ich eine Auswahl von Szenen in Hinblick auf die ‚Performance‘ mit dem Baby analysieren. Diese Szenen können auch zum Nachdenken über Kindheit im Slapstick anregen und verdeutlichen, wie mit der Analogie von Kind und Erwachsenen grundlegende Bedingungen des Menschseins verhandelt werden.
Siehe auch "Die Fee, der Nachtportier und das Baby. Das Slapstickmärchen La Fée als Kommentar zu Körperkomik und Gender. In: RabbitEye, 2016.
Ernährung – Bindung: Das Baby als Teil einer Performance
Die erste Szene nach der Geburt zeigt uns die frischgebackenen Eltern beim Füttern des Babys. Diese alltägliche Situation im Leben von Eltern mit Kindern ist über die Bilder der den Gottessohn stillenden Maria in der europäischen Ikonografie verankert.7 Die in solchen Bildern tradierte familiäre Grundkonstellation von Mutter und Kind wird in La fée buchstäblich auf den Kopf gestellt. Vater und Mutter füttern das Baby hier gemeinsam. Das Baby wird vom Vater gehalten, und zwar zunächst kopfüber, bevor er die richtige ‚Handhabung‘ lernt. Ein zur Trinkflasche umfunktionierter Gummihandschuh erinnert an das berühmtes Vorbild der Filmgeschichte: In The Kid füttert der Tramp Charlie Chaplin ein Findelkind mit einer Kaffeekanne als Trinkvorrichtung – die so gezeigte Beziehung ist der filmische Prototyp einer in sozialer und biologischer Hinsicht illegitimen Beziehung.
Die Trinkvorrichtung ist Ausdruck dieser ‚unpassenden‘ Beziehung von Tramp und Baby, verfügt doch der Tramp – wie auch das paar in La Fée – weder über die Brust einer Mutter, noch über die finanziellen Mittel kindgerechte Utensilien zu kaufen. Sie zeugt aber auch von der Fürsorge und dem Einfallsreichtum des Underdogs, der eine Welt, die nicht für Kinder gemacht ist, für die Bedürfnisse des Neugeborenen umfunktioniert.
In beiden Filmen, The Kid und La Fée, wird die Überführung des Babys als ‚Objekt‘ der Handlung in einen Partner der Interaktion gezeigt. Während der Tramp das Findelkind zunächst wie ein unliebsames Paket behandelt hat, das er wieder loszuwerden versucht, wird in der Szene mit der Kanne erstmals ein Zusammenspiel zwischen Tramp und Baby gezeigt. Charlie schäkert mit dem Baby, das Baby trinkt aus der Kanne und fängt an zu schreien, wenn sie weg ist. In La Fée wird aus einem Bündel auf dem Arm, das sich beliebig hin und her wenden lässt, ein Baby auf dem Schoß, das die Erwachsenen zum Trinken animieren. Beide Filme verweisen somit indirekt auf eine in Filmen übliche Produktionsstrategie: Babys werden, sofern sie nicht weiter relevant für die Handlung sind, häufig durch Bündel oder Puppen ersetzt. Indem sie dies jedoch in der Handlung selbst – also im Verhältnis der erwachsenen Figuren zum Kind – thematisieren, scheinen die beiden Filme für einen anderen Umgang mit Babys vor der Kamera zu plädieren und dies auch in ihren weiteren Performances einzulösen.
Im tradierten Bild der stillenden Mutter mit Kind wird die Ernährung des Kindes und die körperliche Bindung zur Mutter betont. In La Fée werden diese beiden Momente jedoch voneinander getrennt. Der besprochene Anfang der Szene entkoppelt das Trinken vom Körper der Mutter. Die darauffolgende Performance führt eine körperliche Verbindung aller drei Familienmitglieder – Mutter/Kind/Vater – vor. Der zentrale Gag basiert dabei auf dem Greifreflex des Babys. Die Mutter hält das Kind, das den Finger seines Vaters greift, auf dem Arm. Als der Vater sich in Bewegung setzt, um erst in die Hotellobby zu gehen und dann einer anderen Figur, Fred Junior, nachzulaufen, muss ihm die Mutter mit Kind folgen, da das Kind weiterhin am Finger des Vaters festhält. Diese komische Anordnung überführt eine eher statische, bildhafte Anordnung der Familie, in der sich der Vater neben der Mutter mit Kind auf dem Arm befindet, in eine Dynamische.
In der Performance wird die Bindung, die das Kind zwischen Mutter und Vater herstellt, betont. Die Disfunktionalität dieser Bindung ist Quelle der Komik, schließlich wäre es deutlich naheliegender, den Finger des Babys zu lösen und alleine loszulaufen. Der Gag beschwört damit die Familie als körperliche Einheit und subvertiert zugleich ein idealisiertes Bild der Familie als symbolische Einheit, wie wir sie beispielsweise von Familienfotografien kennen, die jedem Familienmitglied einen bestimmten Platz im Gefüge der Familie zuweisen.
Diese Subversion der familiären Einheit erfolgt auch durch die Kontrastierung mit anderen Figurenkonstellationen, in denen es jeweils um die Überwindung einer Kluft zum ersehnten Glück geht. Eine Gruppe illegaler Einwanderer, darunter Fred Junior, wünscht sich eine Überfahrt nach England und ein englischer Hotelgast ist auf der Suche nach seinem verlorengegangenen Hund. In der beschriebenen Szene werden diese Stränge erstmals zusammengeführt und neu angeordnet: Der Hotelgast findet seinen Hund und begrüßt ihn wie eine Geliebte. Die drei Einwanderer, die den Hund gebracht haben, finden in seinem Besitzer denjenigen, der ihnen die Überfahrt nach England ermöglichen wird. Es wird nicht nur eine Familie (Dom-Fiona-Baby) gegründet, sondern es werden auch neue grenzüberschreitende Allianzen gebildet. Eine komische Zuspitzung erfährt dieser neu geschaffene Zusammenhalt in der Zirkulation des Geldes. Der Hotelgast leiht sich von Dom Geld aus der Kasse, das er als Finderlohn an Fred Junior und seine Freunde gibt, die es ihm wiederum als Gegenleistung für die Überfahrt nach England offerieren, damit er es schließlich zur Bezahlung seiner Hotelrechnung zurück an Dom geben kann. Losgekoppelt von der Logik des Privateigentums, denn das Geld gehört niemanden der Anwesenden, wird es zu einem Instrument der Kommunikation und des Austauschs. Die Familie ist damit keine abgeschlossene Einheit, sondern durchlässig für den Austausch mit anderen Unterprivilegierten der zeitgenössischen Gesellschaft.
Ein Wiegenlied: Das Baby und der Reiz des Realen
Eine andere Szene widmet sich dem Einschlafen als einem weiteren alltäglichen Moment des Babylebens. In La fée findet dies nicht im trauten Heim statt, das diese Familie nicht besitzt, sondern in einer Kneipe. Das Wiegenlied singt eine Rugbyspielerin im blauen Trikot, die mit ihrem Team über eine vorangegangene Niederlage trauert. Als das Paar mit Baby in die Kneipe eintritt, beginnt das Baby zu schreien und spiegelt damit die niedergeschlagene Stimmung der versammelten Rugbyspielerinnen. Wie zum Trost oder zur Beruhigung wird vom Barmann eine Platte aufgelegt und die Sängerin stimmt den Tango-Habanera Youkali von Kurt Weill (1934) an. In der Montage werden nun zwei ‚spektakuläre‘ Ereignisse gegenübergestellt, auf denen die Blicke der anwesenden Bargäste, ebenso wie die der Filmzuschauer*innen, ruhen: die singende Rugbyspielerin und das einschlafende Baby. Vom melancholischen Gesang begleitet, der von einem Land erzählt, in dem alle Wünsche erfüllt und alle Sorgen vergessen werden, schließt das Baby langsam die Augen.
Die Faszinationskraft dieser Szene liegt darin, dass wir einem realen Vorgang beiwohnen. Die Begegnung zwischen Sängerin und Baby, ebenso wie die Dauer des Einschlafens mag in der Montage konstruiert sein, das langsame Schließen der Augen wird jedoch gezeigt. Auch hier entsteht also der ‚Witz‘ der Szene im sich Einlassen auf die körperlichen Reaktionen Babys, das noch keinen Regieanweisungen folgen kann. Es verweist hier, deutlicher als in der anderen Szene, auf das Reale, auf das von André Bazin oder Siegfried Kracauer thematisierte Potential des Mediums Film, unwillkürliche Bewegungen und beiläufige Details der Wirklichkeit aufzuzeichnen und sie dadurch (wieder) sichtbar zu machen.8 Zugleich wird dieser Moment des Realen aber in der offensichtlichen Inszenierung auch konterkariert bzw. parodiert. So wird das wehende Haar der Sängerin, ebenfalls ein Moment des Realen, scheinbar durch das Pusten ihres Publikums erzeugt, was uns die Windmaschinen vergessen lassen soll oder gerade auf sie hinweist. Und in der zweiten Hälfte kippt die Szene, in der zuvor alle aus Rücksicht auf das einschlafende Baby nur flüstern, in ausgelassenen Trubel. Das sich regungslos in die Augen schauende Paar mit schlafendem Kind ist nun umringt von den Gästen, die zu lauter Musik unter dem Licht einer Discokugel tanzen.
Alle Protagonisten des Films sind wieder glücklich vereint und doch scheinen hier zwei Welten in einer Einstellung parallel zu existieren. Das (Ein)Schlafen, als filmisches Spektakel oder als ein Moment von rührender Wirkung, wird hier derart übersteigert, dass es in Kitsch und Komik kippt. Das Reale des alltäglichen Ereignisses wird zugleich zur Schau gestellt und durchkreuzt.
Gefahr für das leibliche Wohl? Das Baby und die Tricktechniken des analogen Films
Neben den Bedürfnissen des Babys nach Essen, Körperkontakt und Schlafen wird in La fée auch seine Gefährdung zur Schau gestellt. Ein Baby, das seine Körperbewegungen noch nicht kontrollieren kann, ist auf die Eltern angewiesen, die es nicht nur fortbewegen, sondern auch vor möglichen Gefahren schützen. In La fée verursachen die Eltern jedoch genau diese brenzligen Situationen, aus denen sie das Baby dann retten müssen. Dabei werden die Slapstick-typischen Motive des Fallens und der Verfolgung mehrfach variiert. Dramatischer Höhepunkt des Films ist die Sequenz, die am Morgen nach der Kneipenszene spielt.9 Vollbetrunken nach der Partynacht, legen Fiona und Dom das Baby versehentlich auf der Kühlerhaube eines Mercedes ab. Als dieser unversehens losfährt, folgt eine lange Verfolgungsszene, in der Dom und Fiona versuchen, das Auto mit dem Moped einzuholen und in einer akrobatischen Performance auf die Kühlerhaube zu gelangen – im Gegenschnitt das lachende Baby, das fröhlich in den Kurven hin und her rutscht.
Die Szene endet mit einer Vollbremsung vor einer Meeresklippe, die das Paar in den Abgrund schleudert. In einer minutenlangen Einstellung wird das Fallen in den Abgrund choreographiert. Kurz bevor sie im Meer verschwinden, fliegt ihnen von oben auch das Baby wieder zu: die Familie ist, kurzzeitig, wieder vereint.
Inszeniert wird hier also eine Kluft zwischen Kind und Erwachsenen, die überwunden werden muss und die in einer äußerst prekären Einheit nur kurzzeitig aufgehoben wird. Denn auf den gemeinsamen Sturz ins Wasser folgt übergangslos eine Performance, in der die Polizei das aneinander festhaltende Paar mit aller Macht trennt, vom Baby keine Spur.
Die Spannung der Szene entsteht – wie auch in einer anderen Szene, in der Fiona mit dem Baby vom Dach eines Hauses klettert und fällt – vor allem aus der Gefährdung des Babys. Das oben beschriebene Moment des Realen, das durch das Baby ins Spiel kommt, führt hier unweigerlich zu Fragen nach dem Produktionsprozess. Was in der Szene des Einschlafens besonders rührend war, ruft hier eher Sorge hervor: Wurde das Baby bei der Produktion gefährdet? So wurde der Regisseur bei einer Vorführung von La fée im Rahmen des Internationalen Filmfest Braunschweig (2011) danach gefragt, wie die Szene mit dem Baby auf der Kühlerhaube gedreht wurde, und erklärte daraufhin die dafür eingesetzten analogen Tricktechniken. Die aus dem klassischen Hollywoodkino bekannte Rückprojektion, ermöglichte es, die Autofahrt (ebenso wie den Fall in den Abgrund) mit ‚stehenden‘ Fahrzeugen und Darsteller*innen im Studio zu drehen. Die Dynamik der Bewegungen und der Eindruck des Fallens entstand allein durch die Performance der Darsteller und durch die auf die Rückwand projizierten Bewegungen des Hintergrundes. Für das Hin- und Herrutschen auf der Kühlerhaube, das auch in Nahaufnahme gezeigt wird, sorgte ein Mitarbeiter im Kofferraum, der das Baby mit einem Magneten hin- und herschob.
Die Beteiligung des Babys an dem Slapstickgag bewirkt somit zweierlei. Es steigert die Spannung, da hier ein altbekanntes Motiv originell variiert wird und da Zuschauer*innen auf die Gefährdung eines Babys vermutlich anders reagieren als auf die Gefährdung von Erwachsenen.10 Und es lenkt die Aufmerksamkeit auf den Produktionsprozess. Der Babykörper verweist somit auch auf grundlegende Merkmale des Slapstick, der nicht umsonst im Theater und Zirkus seinen Ursprung hat. Der Reiz des Slapstick liegt unter anderem darin, dass die Körper der Darsteller*innen den inszenierten Missgeschicken bzw. Herausforderungen ausgesetzt sind, das heißt, dass ihre Performances auf akrobatischen Leistungen beruhen, die sich innerhalb von Einstellungen entfalten – und nicht nur durch die Montage konstruiert werden: Wir sehen Körper bei der Arbeit. Der Eindruck der Gefährdung des Babys steigert sich also dadurch, dass wir wissen, dass dieses nicht über die Körperkontrolle und Geschicklichkeit des Akrobaten verfügt.
Indem La fée diese akrobatische Dimension des Slapstick mit analogen Tricktechniken verbindet, die für (heutige) Zuschauer*innen offensichtlich sind (Montage, On/Off der Einstellung, Rückprojektion), verweist er auf die materiellen Voraussetzungen des Filmschaffens und erweist der Filmgeschichte seine Referenz. Er mag damit Bewunderung auslösen für die Darsteller*innen, deren Bewegungen unmögliche Ereignisse simulieren, und Lachen angesichts der Diskrepanz zwischen dem simulierten Ereignis und den eingesetzten Mitteln: Beispielsweise, wenn die Darsteller*innen sich in einer Rückprojektion so bewegen, als wären sie im Fallen der Schwerkraft überlassen und das Baby ihnen irgendwann von oben so in den Kader gereicht wird, als würde es ihnen zuschweben.
Ausblick: Erwachsene als Babys
Laut Alex Clayton wird im Slapstick die Doppeldeutigkeit des menschlichen Körpers verhandelt, der gleichermaßen „ein Objekt in der Welt“ und „Subjekt des Handelns in der Welt“ ist.11 Der Aspekt der Hilflosigkeit und des Kontrollverlusts wird am deutlichsten in dem genretypischen Fallen artikuliert, das den Körper den Gesetzen der Schwerkraft überantwortet. Auch der Körper des Babys scheint, aufgrund seiner noch fehlenden Kontrolle über Bewegungen und Dinge, Ausdruck einer menschlichen Existenz, die den Gesetzen der Welt ausgeliefert ist. Indem La fée alle Figuren im Fallen vereint, scheint er diese ‚universelle‘ Disposition menschlicher Existenz zu betonen. Das legt auch die Analogie von Baby und Erwachsenen nahe, die La fée leitmotivisch durchzieht.
Die körperlichen Bedürfnisse, die mit dem Baby zur Schau gestellt werden, wie Essen, Schlafen, Bindung, Schutz vor Verletzung, wurden zuvor bereits ‚an den‘ erwachsenen Figuren verhandelt. So verschluckt Dom sich zum Beispiel in der ersten Szene des Films beim Essen am Deckel einer Ketchupflasche. Nachdem Fiona den nach Atem ringenden, versteiften, halbtoten Körper von dem Pfropfen befreit hat, fällt Dom erschöpft und benommen zu Boden. Ihrerseits wird Fiona in einem psychiatrischen Krankenhaus durch Spritzen in den Schlaf versetzt und isst buchstäblich bis zum Umfallen Pillen, als wären sie Gummibärchen.
Was dem Baby noch selbstverständlich gelingt, ist hier Ausdruck eines gestörten Bezugs zum Körper und zur Außenwelt. Aus dieser Entfremdung müssen sie sich gegenseitig retten: Fiona belebt Dom durch eine Massage mit ihren Füßen. Und Dom weckt Fiona mit Handgreiflichkeit, um sie, vor seinen Bauch geschnallt als wäre sie sein Baby, aus der Klinik zu schmuggeln. In beiden Szenen ist der „Ausweg“ aus der Betäubung ein direkter Körperkontakt, eine Wiederbelebung durch Berührung, die in der (körperlichen) Vereinigung der Liebenden mündet.
Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, basiert die Dramaturgie des Films auf dem Märchenmotiv und dem psychologischen Mechanismus der Wunscherfüllung. Es gilt, die Kluft zum Anderen, zum ‚Objekt des Begehrens‘, zu überwinden. Zunächst ist es die Einheit des Paares, dann die Einheit der Familie, die immer wieder mühevoll gegen äußere Widerstände hergestellt werden muss und nur als instabiler Zustand existiert. Das führt die Schlusseinstellung des Films vor Augen, in der das Paar mit dem Kinderwagen auf den Horizont zuläuft – verfolgt von den Vertretern von Recht und Ordnung: Polizisten, Geschäftsleuten, Krankenschwestern. „It’s a bit like when we’re born. We have our whole life in front of us and everything is possible, but we spend our time trying to find then understand the instruction manual. Our fairy wants to do good, but she’s still very clumsy.“12
Die von Dominique Abel hier betonte Analogie der Slapstickfigur und des Kindes, welches das Leben erlernt, zeigt sich auch im Verhältnis zu staatlichen Autoritäten. Dabei geht es nicht nur um eine anarchistische Beziehung zur Gesellschaft, um unbekümmerte Regelverletzungen, vor allem der Eigentumsrechte, sondern auch um den Glauben an übernatürliche Kräfte, welche der Fee in der psychiatrischen Klinik ausgetrieben werden sollen. Sie muss dort wie ein Kind in der Schule auf einer Tafel den Satz schreiben: Feen existieren nicht. Emmanuel Dreux hat darauf verwiesen, dass Slapstickfiguren in ihrem Verhältnis zu Autoritäten im Prinzip die Beziehung von Erwachsenen als Vertretern des Gesetzes und Kindern als denen, die die Gesetze übertreten, reproduzieren. Wie meine Analyse deutlich macht, verweist La fée aber noch auf einen grundlegenderen Aspekt dieser Analogie: auf die Verletzlichkeit und die körperlichen Grundbedürfnisse, auf die Beziehung des Körpers zur Welt, die alle Menschen teilen. Die Gegenwart des Babys, das in der zweiten Hälfte des Films zum Ausgangspukt einer Reihe von Gags wird, scheint genau diese Dimension herauszustellen: Wenn das Baby in der letzten Szene lachend in die Kamera schaut, dann fordert es uns als Zuschauer*innen auf, über den Slapstick, über die Filmproduktion und über uns selbst nachzudenken.
Zitiervorschlag: Bettina Henzler: Das Baby im Slapstick. In: Bettina Henzler (Hg.): Filmästhetik und Kindheit. Online-Beiträge zum gleichnamigen Forschungsprojekt, www.filmundkindheit.de, veröffentlicht am 14.12.2017 (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:46-00106302-19) .
Filme / Literatur
Baby Bachelor, R: Snub Pollard (k.A.) (Youtube; 8.8.2016)
Baby Burlesque, R: Charles Lamont, USA 1933/1932
Die kleinen Strolche (The Little Rascals), USA 1922–1944
His Trysting Place, R: Charles Chaplin, Mable Normand, USA 1914
La Fée, R: Dominique Abel, Fiona Gordon, Bruno Romy, Frankreich/Belgien 2011
The Baby Bachelor - Episode 1, Jimmy Kimmel Live!, Sender: ABC ( Youtube, veröffentlicht am 17.05.2013)
The Kid, R: Charles Chaplin, USA 1921
Alain Bilton (2013): Silent Film Comedy and American Culture, New York 2013
Alex Clayton: The Body in Hollywood Slapsick. Jefferson/London 2007
Bettina Henzler: Die Fee, der Nachtportier und das Baby. Das Slapstickmärchen La Fée als Kommentar zu Körperkomik und Gender. In: RabbitEye, 2016 Online
Christine Noll Brinckmann: Das kleine Mädchen im Film. In: Dies.: Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration. Zürich 1997
Domenico La Porta: The element of surprise. Interview mit Dominique Abel und Fiona Gordon. In: Cineuropa, 15.05.2011
Emmanuel Dreux: Cinema burlesque: Des enfants petits et grands. In: Barillet, Julie, Heitz, Françoise, Louget, Patrick und Patrick, Vienne (Hg): L’enfant au cinéma, 2008
Jean Roy: Le retour en beauté de Dom et Fiona, comédie havraise. In: L'Humanité, 13.05.2011 Online (8.8.2016)
Karen Lury: The Impropriety of Performance. In: The Child in Film. Tears, Fears, Fairy Tales. London 2010
Mark Sufrin: Le monde silencieux du slapstick (1912–1916). In: Philippe-Alain Michaud (Hg): L'horreur comique, Paris 2004
Susanne Marshall: Slapstick. In: Thomas Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002
Vicky Lebeau: the child, from life. In: Dies.: Childhood and Cinema. London 2008
Anmerkungen
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1
„En fait, leur vraie référence est le burlesque, tel que l’ont renouvelé Tati et Étaix, avec un sens certain du «nonsense », de l’incongru, de l’usage très personnel des objets et du retournement imprévu des situations. Ajoutons, pour les distinguer d’autres, qu’il y a aussi dans leur œuvre une forme de poésie tendre et de merveilleux qui pourrait venir de la littérature enfantine.“ Jean Roy: Le retour en beauté de Dom et Fiona, comédie havraise. In: L'Humanité, 13.05.2011 Online (8.8.2016).
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2
Siehe beispielsweise Mark Sufrin: Le monde silencieux du slapstick (1912–1916). In: Philippe-Alain Michaud (Hg): L'horreur comique, Paris 2004, S. 115 und 118; Alain Bilton (2013): Silent Film Comedy and American Culture, New York 2013, S. 29; Alex Clayton: The Body in Hollywood Slapstick, Jefferson / London 2007, S. 17.
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3
Siehe Emmanuel Dreux: Cinema burlesque: Des enfants petits et grands. In: Barillet, Julie, Heitz, Françoise, Louget, Patrick und Patrick, Vienne (Hg): L’enfant au cinéma, 2008.
Susanne Marshall verweist in ihrem Lexikonbeitrag zum Slapstick auf den Film, ohne weitere filmografische Angaben. Auf Youtube ist eine digitale Kopie des Films zu sehen, aus der jedoch nur der Filmtitel und Name der männlichen Hauptdarstellers Snub Pollard hervorgeht (Youtube, 8.8.2016). -
4
Susanne Marshall: Slapstick. In: Thomas Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002, 557-560, hier 559.
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5
In der US-Serie Baby Burlesque mit dem Hollywood-Kinderstar Shirley Temple werden Kinder in typisierte Rollen wie Nachtklubsängerin, Geschäftsmann, Seemann etc. inszeniert und ‚spielen‘ Dreiecksbeziehungen und Liebesverwicklungen. Die zeitgenössische Forschung hat auf die pädophilen Tendenzen und die Vielzahl offen sexueller Anspielungen hingewiesen, die von den Zeitgenossen nicht eingestanden wurden, siehe Christine Noll Brinckmann: Das kleine Mädchen im Film. In: Dies.: Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration. Zürich 1997, S. 166–181, hier: 172f.). Diese tendenziell missbräuchliche Form der Komik findet sich auch (wennschon in gemäßigter Form) in der zeitgenössischen Comedy-Serie Baby Bachelor, die das Serienformat Bachelor/Bachelorette – also die Suche nach der Frau/dem Mann des Lebens – mit einem Kind in der Hauptrolle ironisiert. Siehe The Baby Bachelor - Episode 1.In: Jimmy Kimmel Live! vom 17.05.2013, Youtube, letzter Abruf 14.07.2016).
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7
Es gibt eine Vielzahl berühmter Gemälde, die Maria mit dem Kind an der entblößten Brust zeigen, u.a. von Albrecht Dürer, Lucas Cranach, Jean Fouquet, Roger van der Weyden.
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8
Gerade deshalb waren laut Vicky Lebeau Kinder besonders beliebte Protagonisten des frühen Kinos, denn an ihnen ließ sich der ‚Realismus‘ des Films besonders eindrucksvoll vorführen. Vicky Lebeau: the child, from life. In: Dies.: Childhood and Cinema. London 2008, S. 21-55.
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9
Wie alle anderen Barbesucher, torkeln Dom und Fiona betrunken aus der Kneipe. Sie folgen dem Barbesitzer, der sie zu seinem Campingwagen, ihrem neuen Heim, führen soll. Da sie Schwierigkeiten haben, auf das Moped aufzusteigen, legen sie das Baby auf der Kühlerhaube des danebenstehenden Mercedes ab, der mit dem halbblinden Barbesitzer am Steuer losfährt.
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10
Etwas Ähnliches gilt für Kinder, die auf der Leinwand weinen: Wie Karen Lury gezeigt hat, weckt auch dies häufig die Frage danach, ob die Kinder ‚tatsächlich‘ geweint haben. Auch hier verbindet sich die Frage nach der Grenze zwischen Konstruktion und Realität, Spiel und Sein mit einem ‚Fürsorgereflex‘ gegenüber Kindern, den viele erwachsene Zuschauer teilen. Karen Lury: The Impropriety of Performance. In: The Child in Film. Tears, Fears, Fairy Tales. London 2010, 145-190.
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11
Alex Clayton: The Body in Hollywood Slapsick. Jefferson/London 2007, S. 147.